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Ausgabe:

1936 Nr. 22

Spalte:

403-404

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Seeberg, Reinhold

Titel/Untertitel:

Zur Ethik der Bergpredigt 1936

Rezensent:

Heinzelmann, Gerhard

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Seite 1

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403

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 22.

404

Seeberg, Reinhold: Zur Ethik der Bergpredigt. Leipzig: A.
Deichert 1934. (II, 84 S.) gr. 8°. = Schriften d. Inst. f. Sozialethik
u. Wiss. d. Inneren Mission a. d. Univers. Berlin. Hrsg. v. R. Seeberg.
H. 4. RM 2.80.

Reinhold Seebergs Schrift über die Bergpredigt trägt
den doppelten Zug lichtvoller Klarheit und streitloser
Sicherheit der Gedankenführung an sich. Nur zum
Schluß wird die neuere Literatur über die Bergpredigt
kurz berührt. Es liegt aber dem Verf. nichts daran,
Übereinstimmung und Gegensatz genauer zu formulieren.
Er betont, daß er zu den meisten der neueren Deutungen
„positive Beziehungen" habe, ohne sich einer von
ihnen „ganz anschließen zu können". (83)

Die Untersuchung ist weder dogmatisch noch rein
exegetisch. Sie läßt sich am ehesten als biblisch-theologisch
bezeichnen. Der innere Aufbau der Bergrede soll
sichtbar, ihre ethische Grundauffassung deutlich, ihr
Unterschied von zeitgenössischer jüdischer Moral eindrücklich
gemacht werden. Das geschieht aber nach
dem Verf. nicht durch Unterscheidung eines pneumatischen
und eines historischen Verständnisses; beides
läßt sich nicht trennen. Alle zum Verständnis notwendigen
Mittel müssen gebraucht werden; (78) gerade
auch das geschichtliche. Es bewahrt vor dem Irrtum,
in der Bergrede die zeitlose Formulierung der absoluten
Moral des Christentums zu erblicken.

In doppelter Fassung ist uns die Bergpredigt überliefert
worden. Eine genaue Prüfung der beiden Relationen
bei Lukas und Matthäus ergibt Folgendes: 1) Lukas
bietet die älteste Fassung der christlichen Moral.
2) Die zweite Bergpredigt bei Matthäus entwickelt zunächst
die Gedanken der 1. Rede vielseitiger und unmißverständlich
, im Hauptteil der Rede aber bietet sie eine
neue Grundlegung, die den Sprüchen der alten Rede
gegeben wird. 3) Beide Fassungen führen in die judenchristliche
Gemeinde Palästinas, beziehen sich aber auf
verschiedene Situationen derselben Judenchristenheit. Die
1. setzt die Christen noch innerhalb der Judenschaft
ungetrennt voraus, für die 2. sind die „Gruppen" schon
auseinander getreten (Daher auch die Weglassung der
„Wehe"). In der 2. Rede sind falsche christliche Propheten
am Werke, „judenchristliche Fanatiker", „Vorkämpfer
für Beschneidung und Gesetzesbefolgung", die
den Geist der wahren Gesetzeserfüllung im Sinne Jesu
verleugnen. 4) Der Anteil der 2. Fassung an echten
Jesusworten läßt sich nicht genau feststellen. Doch
scheint S. anzunehmen, daß trotz aller „Anpassung"
weithin solche zugrunde liegen. (58)

Die richtige geschichtliche Einordnung der Bergpredigt
läßt auch die Bedeutung für die Geschichte der
menschlichen Sittlichkeit schärfer hervortreten. Sie liegt
in einem Dreifachen: Die Ethik der Bergpredigt ist
„im Gegensatz zu dem pharisäischen Legalismus religiöse
Ethik, sodann ist sie Lebensethik im Gegensatz
zu dem abstrakten Formalismus der jüdischen Ethik,
und endlich ist sie soziale Ethik im Gegensatz zu dem
eudämonistischen Individualismus der Pharisäer." (60)
Zur Verdeutlichung des religiösen Charakters fügt S.
hinzu, daß diese Ethik nur verwirklicht wird auf Grund
eines Verhältnisses Gottes zu uns, das unseren Willen
hervorruft; als Lebensethik bestimmt sie unsere Willensrichtung
in allen Lebensverhältnissen, und als soziale
Ethik fordert sie die tatbereite Hingabe an den Menschen
in aufrichtiger Liebe.

Und die Frage der Erfüllbarkeit der Gebote Jesu?
S. antwortet: „Die Gebote der Bergpredigt können als
erfüllbar angesehen werden" (81) — „denn Christus gibt
durch sein Wort die Kraft dazu" (82) Jesu Worte
gehen gerade so wie seine Taten aus der Kraft des
Geistes hervor! Man darf das nicht übersehen. Der
erste Teil der Bergpredigt erinnert daran. Immer ist
die Voraussetzung der Ermahnung das Hineingezogenwerden
in die kommende Gottesherrschaft, die mit Jesus
angebrochen ist. Jesu Wort und Wirken schafft den
Glauben und die Bereitschaft, in seinem Dienst zu leben
und zu wirken. (81)

Damit bleiben wir vor dem Mißverständnis des
„Moralismus" bewahrt, das immer da sich an die Auslegung
der Bergpredigt anhängen wird, wo man sie
vom sonstigen Reden und Handeln Jesu isoliert, oder wo
man einseitig auf den „Forderungs-Charakter der
Sprüche blickt.

Auf eine kritische Auseinandersetzung im einzelnen
muß hier verzichtet werden. Der Arbeitstag des Verf's
ist inzwischen zu Ende gegangen.
Halle a. S. Qerh. Heinzelmann.

Redeker, Lic. Dr. Martin: Humanität, Volkstum, Christentum
in der Erziehung. Ihr Wesen u. gegenseitiges Verhältnis an der
Gedankenwelt d. jungen Herder f. d. Gegenwart dargestellt. Berlin:
Junker u. Dünnhaupt 1934. (VI, 207 S.) gr. 8°. = Neue Forschung.
Arbeiten z. Geistesgesch. d. german. u. roman. Völker. Hrsg. v. H.
Hecht, F. Neumann, R. Unger 23. RM 8—.

Das Buch umfaßt VIII Kapitel. Es geht von einer
Betrachtung der Grundlagen der Erziehung und der Bildungsidee
des deutschen Idealismus aus, untersucht die
Beziehungen von Bildung zu Humanität, zu sprachlicher
I Bildung, zu Kunst, beschäftigt sich mit der Frage Hu-
! manität und Volkstum und zeigt die religiösen Motive
der Humanitätsidee Herders auf. Sodann werden die
Beziehungen von Humanitätsidee und Christentum erörtert
und schließlich wird der Versuch unternommen,
den Zusammenhang von Humanität, Volkstum und Christentum
aufzuweisen. Endlich wird ein Bild der konkreten
Gestaltung der Erziehung entworfen.

Das Buch ist nicht leicht zu bewältigen. Es ist teil-
j weise recht breit geschrieben, der Gedankengang schreitet
nicht immer mit der wünschenswerten Strenge und
Zielstrebigkeit vorwärts. Trotzdem bietet er vielerlei
Anregungen und manche bedeutsame Beobachtung. Der
Anschluß an Herder wird damit gerechtfertigt, daß
die geisteswissenschaftliche Fragestellung in der Untersuchung
des Wesens des Christentums ihre Wurzel
in der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus
habe, wie sie bei Herder zuerst ans Licht trete. Der Gegensatz
zwischen Herders Auffassung und der des reformatorischen
Christentums wird mit einer sehr richtigen
Wahl des Ansatzpunktes in der religiösen Grundlage der
Anthropologie gesehen. Diese ist dort die Inkarnationsidee
(Inkarnation göttlichen Lebens in der Welt) hier die
Offenbarung Gottes in Christus. Der letzte, den Abschluß
bietende Teil der Erörterungen ist leider kurz
ausgefallen, obwohl in ihm die Entscheidung fällt. Wertvoll
ist hier die Herausarbeitung des Bildungsbegriffes
bei Herder. Er wird als Bezeichnung eines Prozesses erwiesen
, in den völkische Bildung mit hineingewoben ist.
Wenn Herder eine gesonderte religiöse Erziehung ablehnt
, so deshalb, weil er sie durch die pädagogische
Gesamthaltung mitgewirkt sieht auf Grund des Kontaktes
aller Menschen mit Gott und mit der Welt, der aus
der Inkarnation abgeleitet werden muß. „In Gott hängen
letztlich menschliche, völkische und christliche Erziehung
zusammen und fügen sich in die große Einheit des von
Gott gewollten Bildungsvorganges der Menschheit, der
sich als Geschichte vollzieht, ein." (S, 188) In der
Stellungnahme zu diesem Ergebnis Herderscher Religionspädagogik
setzt sich der Verfasser mit Frau von
I Tiling und Gerhard Bohne auseinander. Seine Bedenken
! gegen die einseitige Herrschaft der Zucht in der mo-
j dernen Erziehung übersehen die Mächtigkeit der Führungsidee
, die an die Stelle des Zuchtbegriffs zu treten
hat. Diese durchbricht die Polarität von Gesetz und
i freier Lebendigkeit und vereint sie auf einer höheren
! Ebene. Redeker aber läßt beide ihren tieferen Sinn in
der Vergebung und Erlösung finden, die in den großen
Gang des ewigen Gottes durch die menschliche Ge-
i schichte eingeordnet sind. Ob damit nicht eine unmögliche
Einengung des Erziehungs- und Bildungsbegriffes
! und damit ein Verlassen der Möglichkeit, am pädagogischen
Gespräch teilzunehmen, verbunden ist, ist die
große offene Frage, die die Arbeit Redekers hinterläßt.
1 Leipzig. Fr. Schulze.