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Ausgabe:

1936 Nr. 20

Spalte:

363-364

Autor/Hrsg.:

Kiunke, Martin

Titel/Untertitel:

Aus Kampfeszeiten für Kampfeszeiten 1936

Rezensent:

Lerche, Otto

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363

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 20.

364

Universitäten von spiritualistischen Gedanken geleitet,
also dem Parazelsus darin verwandt gewesen sei, behauptet
der Verfasser doch ru Unrecht, auch bei dein
„jungen" Luther.

Aus der spiritualistisch-theosophischen Stimmung des
Parazelsus erklärt sich seine Haltung zu den pädago-

fischen Fragen, die die Zeit bewegten. Sein oberstes
nteresse galt der Reform der ärztlichen Bildung und der
ärztlichen Tätigkeit, das führte ihn aber weiter zu allgemeiner
Kritik am bloßen Wortwissen, an scholastischer
Logik, an humanistischer Rhetorik. Ihnen gegenüber
dringt er auf ein Wissen, das real ist, der Kenntnis der
Dinge selbst entstammt. So tritt er an die Spitze der
pädagogischen Reformbewegung, die etwa in Comenius
einen ihrer großen Vertreter hat, und die dann in Weigel,
Jakob Böhme u. a. unter Ablehnung aller historisch
gewordenen Bildung eine reine Schule des ewigen Lichtes
anstrebte. Neben der reformatorisch-pädagogischen
Entwicklung, welche zur protestantischen Gelehrtenschule
führte, die sich bis in die Aufklärungszeit behauptet
hat, steht das täuferisch-spiritistische Bemühen des
Parazelsus. Aber er geht seinen Ansatz nicht zum folgerichtigen
Ende. Eine rein immanente Bildungsgesinnuing,
die sich nur auf die in sich selbst ruhende, rein menschliche
Bildungswelt bezieht, bleibt dem Parazelsus fern.
Diese letzte Folgerung haben erst spätere gezogen.
Parazelsus steht eben „am Anfang" der deutschen Bildungsgeschichte
, in der erst heute wieder eine starke
Gegenbevvegung gegen die pädagogische Säkularisierung
einsetzt.

Berlin. Kurt Kessel er.

Kiunke, Pastor Martin : Aus Kampfeszeiten für Kampfeszeiten.
Entstehungsgesch. der ev.-luth. Gemeinde Liegnitz, ausgewertet f. d.
kirchl. Gegenwart. Breslau: Vlg. des Luther. Büchervereins 1934.
(63 S.) 8°. = Altes und Neues a. d. Luther. Kirche, 17. Bändchen
. Kart. RM 1.25.
Von den jetzt erschienenen Jubiläumsschriften aus
Anlaß des hundertjährigen Bestehens evangelisch-lutherischer
Gemeinden in Preußen, die losgelost von der
Landeskirche, anfänglich von der Obrigkeit hart verfolgt
und lange Jahrzehnte hindurch mißtrauisch beobachtet
, von der Öffentlichkeit wohl hier und da als
harmlos begönnert, meist aber übersehen, in nun hundert
Jahren ein geruhig und stilles Leben führten in
aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit zum Segen aller ihrer
Glieder, ist wohl die wichtigste die von Lic Dr. J. Stier
„100 Jahre Lutherische Kirche in Berlin 1835—1935"
(1935). Hier erlebt man in der schlichten, aktenmäßig
und durch Literaturnachweise sorgfältig begründeten
Erzählung ein Stück Kirchengeschichte nach und mit,
das ergreift und das das dankbare Gefühl des Angesprochenseins
von echter Kirche lebendig werden läßt.

Bei weitem nicht so abgerundet ist die in viel kleinerem
Rahmen und Räume abgelaufene Geschichte der evangelisch
-lutherischen Gemeinde Liegnitz. Kiunke bemüht
sich, das geschichtliche Bild sorgfältig mit Nacb-
weisungen zu unterbauen. Der Absicht des Verfassers
entsprechend aber erfahren wir hier nur etwas über die
Entstehungszeit der Gemeinde (1833 ff.) und namentlich
über die Tätigkeit und die Schicksale des Pastors Otto
Friedrich Wehrhan, der sein landeskirchliches Pfarramt
in Kunitz niedergelegt hatte und frei von ungesundem
Pietismus und krankhaftem Separatismus seit März
1835 sein schweres Amt in der Sammlung und Betreuung
der lutherischen Gemeinde zu Liegnitz führte. Merkwürdig
ist, daß sich Wehrhans Spur nach 1842 völlig
verliert: weder als Pfarrer noch als Schriftsteller ist
er irgendwie noch in Deutschland festzustellen. Wir
möchten annehmen, daß W. schließlich seinen Glaubensbrüdern
nach Australien gefolgt ist und weisen dazu
hin auf W. Iwan: Um des Glaubens willen nach
Australien (1931; vgl. Theol. Lit. Ztg. 1932 Nr. 6), wo
S. 122 eine am 4. Juni 1841 beschlossene Ergänzung
zu dem ersten wichtigsten Statut der lutherischen Auswanderermission
Hamburgs abgedruckt wird und von
der erörterten Auswanderung Wehrhans die Rede ist.

Aber nicht nur das Schicksal Wehrhans, seine Amtsenthebung
, seine dauernde Verfolgung durch die Staats-

I behörden, seine Gefangensetzung, die Behinderung der
Wortverkündigung durch ihn, das Angewiesensein auf
die Mildtätigkeit seiner Glaubensbrüder und schließlich

J seine Auswanderung aus der schlesischen Heimatkirche
— auch das Vorgehen des Kirchenregiments, seine durch

! die Staatsgewalt gestützte Haltung und das Auftreten
der örtlichen Kirchenbehörde — der ausführende Superintendent
hieß obendrein Ludwig Müller — sowie mancherlei
äußerliche und geistig begründete Begleiterschei-

; nungen erinnern an Vorgänge und Entwicklungen auf

' dem Gebiete kirchlichen Ringens, die wir jetzt erlebten
und an deren Folgen die Deutsche Evangelische Kirche
vermutlich noch lange kranken wird. Somit hat die
kleine Schrift Kiunkes auch eine gewisse Gegenwarts-

! bedeutung.

Berlin. Otto Lerche.

Dingler, Hugo: Das Handeln im Sinne des höchsten Zieles

(Absolute Ethik). München: Ernst Reinhardt 1935. (160 S.) gr. 8°.

RM 4.80 j geb. 6.80.

Das vorliegende Werk erhebt den Anspruch etwas
zu bieten, was in dieser Vollendung bisher nirgends geboten
ist: eine absolute Ethik. Es will auf die Frage
nach dem richtigen Handeln des Menschen die richtige
Antwort geben: nicht Gebotsethik und nicht Wertethik
, sondern Zielethik. Zuerst werden die „logischen
Grundlagen" entwickelt. Auch die Logik sucht nach
einem absolut sicheren Fundament. Welches dieses ist,
zeigt das logische Schlußverfahren. Eine Aussage ist
begründet, wenn sie aus den Prämissen richtig abgeleitet
ist. Aber die damit gegebene Begründung ist nur eine
relative. Auch die Prämissen müssen wieder begründet
sein und so fort bis ins Unendliche. Man steht vor
einem regressus in infinitum und eine absolute Begründung
scheint überhaupt unvollziehbar zu sein. Trotzdem
ist sie möglich, weil es ein Element gibt, hinter
das nicht mehr zurückgegangen werden kann: das ist
der aktive Wille. Er ist das Fundament aller Wissenschaft
. Aber auch das Fundament der Ethik. Auch
ihre Sollenssätze stellen einen regressus in infinitum
dar und ihr letztes Fundament ist wiederum der aktive
Wille. Er setzt das oberste Ziel des Handelns und begründet
damit die absolute Ethik. Darum ist diese nicht
eine Gebotsethik, sondern eine Zielethik. Jene verfälscht
die wahre Ethik und ist letztlich unethisch. Das
oberste Ziel aber besteht darin, mitzuarbeiten, daß die
Menschheit überhaupt daure. Man kann das oberste
Ziel kurz als Dauererhaltung der Menschheit bezeichnen
. Nun besteht aber die Menschheit aus Völkern
und jenes oberste Ziel kann nur erreicht werden, wenn
die Volksgemeinschaften erhalten werden. Daraus ergibt
sich für den Einzelnen die Verpflichtung gegen die
Nation. Aber sie ist nur ein Zwischenglied. Wenn der
Einzelne praktisch handeln soll, so ist dies nur dadurch
möglich, daß er aus dem obersten Ziel die Teilziele ableitet
, die dem obersten Ziel dienlich sein sollen. Die
| Reihe dieser TeilzieLe kann eine sehr lange sein und
bei jedem wieder ist die Überlegung notwendig, ob es
nicht vielleicht Folgen hat, die dem obersten Ziel ent-
' gegenwirken. Das kann zu sehr weitschichtigen Be-
I rechnungen führen und das ethische Handeln scheint
dann mehr ein Rechnen als ein Handeln zu sein. Aber
letztlich bleibt es ein Handeln und will als solches
gelernt sein. Schon das richtige Wollen ist eine Kunst
! und das aus ihm folgende Tun ist an eine Reihe von
I physiologischen und psychologischen Bedingungen ge-
I knüpft. Dingler nennt in diesem Zusammenhang die
I „Magie des Wollens", welche dem Handelnden zu Hilfe
kommt und die „ethische Sinngebung", welche die Si-
I tuation so deutet, daß man das Vertrauen haben kann,
i die Handlung werde gelingen. „Es ist das gleiche