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Ausgabe:

1936 Nr. 19

Spalte:

352

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Geschichte der Philosophie 1936

Rezensent:

Zeltner, Hermann

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351

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 19.

352

Das Patronatsrecht der ev. luth. Landeskirche des
Staates Sachsen ist schon seit längerer Zeit nach neuzeitlichen
kirchlichen Erfordernissen umgestaltet worden.
Darauf weisen die Einschränkungen der Kollaturrechte
durch das Wahlrecht der kirchgemeindlichen Körperschaften
nach dem Kirchengesetz vom 15. 4. 1873, ferner
durch Besetzungsrechte der Landeskirchenbehörde
nach dem Gesetz vom 8. 12. 1896. Während diese Gesetze
der Richtung einer allgemeinen kirchlichen Rechtsentwicklung
folgten, fanden Ansätze zu einer grund- i
sätzlichen Reform des Patronats besondere Beachtung.
Die Ausübung der Patronatsrechte durch Inhaber oder !
Vertreter wurde durch Kirchengesetz v. 28. 4. 1898 an
strengere Voraussetzungen gebunden, um ausreichende
Sicherungen gegen Mißbrauch und Vernachlässigung zu
bieten. Sie erforderte darüber hinausgehend nach dem |
Kirchensteuergesetz v. 11. 7. 1913 die Zugehörigkeit [
zum ev. luth. Bekenntnis. Die veränderten verfassungsrechtlichen
Verhältnisse in Staat und Kirche seit 1919 |
nötigten zu einer weiteren Neuordnung, die zu einer
bedeutsamen Fortentwicklung des kirchlichen Institutes I
führte. Das Patronatsgesetz v. 18. 8. 1930 begründet j
einen grundsätzlichen Strukturwandel des Patronats, insofern
dieser als kirchliches Amt in den landeskirchlichen
Organismus eingegliedert wird. Der Pflichtenkreis des
Patrons wird erweitert. Als Voraussetzung für Aus-
Übung des Patronatsrechts werden die Fähigkeit zur |
Wählbarkeit für die Kirchengemeindevertretung und die
Ablegung eines feierlichen Gelübdes festgestellt. Da- [
durch bietet das Gesetz die Möglichkeit, wohlerworbenes
Recht anzuerkennen und zu schonen, sowie es
der Gemeinde dienstbar zu machen. Motive und Ziele j
dieser Gesetzgebung werden von der vorliegenden rechts- |
wissenschaftlichen Studie richtig entwickelt und ver- |
ständnisvoll gewürdigt. Nach einer knappen Darstel- I
lung der geschichtlichen Entwicklung werden die Vor- !
aussetzungen dargelegt, die für die Neuregelung des Patronats
maßgebend waren. Nach Art. 137 RV. wird das
Patronatsrecht als Gegenstand ausschließlich kirchlicher |
Gesetzgebung angesehn. Zweifelhaft war, ob oder in- j
wieweit der Patronat der bürgerlichen Gemeinde durch i
Art. 137 Abs. 3 aufgehoben ist, ferner ob sich der Weg- i
fall des städtischen Patronats nicht dinglicher Natur
aus der sächs. Gemeindeordnung v. 1923 ergibt. Der |
Gesetzgebung wurde ein Rechtsgutachten von Dr. Joh.
Heckel zugrunde gelegt, das den Fortbestand des um- [
strittenen städtischen Patronats anerkennt. Im folgen- |
den Abschnitt der Studie werden die Vorschriften des j
Gesetzes besonders über Pflichten und Rechte des Patrons
eingehend und umsichtig erläutert, wobei auch bereits
die seit 1933 entstandene landeskirchliche Rechts- j
Ordnung und die deutsche Gemeindeordnung von 1935 J
berücksichtigt sind. Richtig ist gesehn, daß die Gesetzgebung
, die bestehendes Recht Bewahren und erneuern,
aber nicht neues Recht begründen will, sich praktisch J
mit ihren Vorschriften über den Wegfall des Patronats
einseitig als Abbau des ländlichen Realpatronats aus- !
wirken muß. Mit dieser Einschränkung erkennt indessen
die Abhandlung die sächsische Neuordnung als wegweisend
zu einem neuzeitlichen Patronatsrecht an, weil
sie wohlbegründete Rechte grundsätzlich schont, aber
auch durch Umgestaltung das bisherige Patronatsrecht
veredelt und bereichert. Ein Anhang fügt die maßgeben- i
den Rechtsvorschriften bei. Die Dissertation hat durch
Aufnahme unter die rechtswissenschaftlichen Studien der
Leipziger Juristen-Fakultät Anerkennung gefunden.

Leipzig. Hugo Hickniann.

Windelband, wilh.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie
. Billige Ausg. Mit einem Schlußkapitel: Die Philosophie
im 20. Jahrh. u. einer Übersicht ü. d. Stand d. philosophiegeschichtl.
Forschung hrsg. von Heinz Heimsoeth. Tübingen: J. C. B. Mohr
1935. (XXXIX, 642 S.) gr. 8°. geb. RM 9.60.

Die Bedeutung dieses vor 45 Jahren erstmals erschienenen
Lehrbuchs und die Breite seiner Wirkung
sind bekannt. Sein bleibender Wert liegt in der lebendigen
Intensität, mit der W. im philosophischen Horizont
seiner Zeit die Geschichte der Philosophie zu
gestalten vermocht hat. Natürlich droht auch ein solches
Standwerk philosophischer Bildung allmählich zu
veralten. Es bedarf der Ergänzung in dem schlichten
Sinne einer Weiterführung des historischen Berichtes
bis in die Gegenwart, es bedarf aber darüber hinaus
einer Umgestaltung um der Verschiebung der historischen
Perspektive willen, die inzwischen eingetreten ist.
Dabei handelt es sich nicht nur um materielle Berichtigungen
, sondern um neue und tiefere Gesichtspunkte für
das historische Verstehen der einzelnen Epochen, und
dies umsomehr, als „die Philosophiehistorie heute durchgängig
in unlösbarer Verflechtung mit dem vorstoßenden
Problembewußtsein" der Gegenwartsphilosophie
selbst steht, wie Heimsoeth (572) bemerkt. Wollte
man aber den Text durchgehend so verändern, daß er
dem gegenwärtigen Stand der Forschung entspricht,
so müßte dabei der eigentümliche Charakter des Werkes
verloren gehen. Dieser Gefahr hat Heimsoeth auf die
glücklichste Weise zu begegnen gewußt: er läßt den
Text W.'s unverändert und gibt dafür in einer vorangestellten
Übersicht über den neuesten Stand der philo-
sophiegeschichtlichen Forschung die neuen Daten und
Gesichtspunkte an, welche das veränderte Verständnis
der einzelnen Epochen bestimmen. (Der damit verbundene
Literaturnachtrag enthält leider zahlreiche
Druckfehler!) I n einem Schlußkapitel stellt H. dann
in souveräner und höchst fesselnder Weise „Die Philosophie
im 20 Jahrhundert" dar. Als Wesenszüge der
neuen philosophischen Haltung gelten ihm „der Mut
zur Fragestellung und die Energie des forschenden
Vorstoßes" (571). Im einzelnen wird gezeigt, wie in
diesem Zeitraum die erkenntnistheoretische Problematik
durch die neuen soziologischen, phänomenologischen,
geschichtsphilosophischen Fragestellungen aus ihrer
Enge und Sterilität herauskommt, wie dann diesem befreiten
Problembewußtsein erst die volle Wirklichkeit in
der Vielheit ihrer Regionen in den Blick kam, und wie
schließlich im Rahmen dieser Problemstellung auch „das
Sein und die Existenz des Menschen" zu einem neuen
und vordringlichen Thema geworden sind. Eindrucksvoll
, wie an allen Punkten die geschichtliche Wirksamkeit
Max Schelers sichtbar wird. Die Existenzphilosophie
im engeren Sinne (Heidegger und Jaspers) läßt sich
freilich aus der mit dem Namen Schelers bezeichneten
Perspektive nicht mehr adäquat erfassen. Das kommt
schon in dem eigentümlich laxen Gebrauch ihrer Terminologie
zum Ausdruck: man vermißt eine exakte Bestimmung
des Begriffs der Existenz, und man sucht
ihn auch vergeblich in dem sonst mit Geschick ergänzten
Register. H. ist darum jedoch nicht zu den kurzsichtigen
Kritikern zu rechnen, die hier einen bloßen
Modebegriff vor sich zu haben meinen. Die lebendige
Aufgeschlossenheit seiner Darstellung ist vielmehr dankbar
anzuerkennen. Aber vielleicht wäre das Bild der
Gegenwartsphilosophie klarer und eindeutiger ausgefallen
, wenn H. — auch darin dem Vorbild Windeloands
entsprechend — zu ihren Prätensionen auch Stellung
genommen hätte.

Güttingen. Hermann Zeltner.

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 26. September 1936.

Verantwortlich: Prof. D. W. Bauer in Göttingen, Düstere Eichenweg 14.
Verlag der J. C. H i n r i c h s'schen Buchhandlung in Leipzig C 1, Scherlstraße 2. — Druckerei Bauer in Marburg.