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Ausgabe:

1936 Nr. 18

Spalte:

333-335

Autor/Hrsg.:

Huober, Hans-Günther

Titel/Untertitel:

Zinzendorfs Kirchenliederdichtung 1936

Rezensent:

Kohlschmidt, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 18.

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2. und 3. Jhd. steht nach dem klaren Zeugnis der historischen
Quellen auf alle Fälle fest, und mit dem „messerscharfen
" Schluß, daß „nicht sein kann, was nicht sein
darf", ist dagegen nicht durchzudringen.
Göttingen. H. v. Campenhausen.

H u o b e r, Dr. Hans-Günther: Zinzendorfs Kirchenliederdichtung.

Untersuchung über das Verhältnis von Erlebnis und Sprachform.
Berlin: Dr. Emil Ebering 1934. (86 S.) gr. 8°. = Germanische Studien
H. 150. RM 3.60.
Daß einer Aufgabe gegenüber, wie sie die zutreffende
Erfassung und Wertung von Zinzendorfs Kirchenliederdichtung
bedeutet, theologische und literarhistorische
Arbeit in Kommunikation stehen müssen, ist eine
wichtige und ernste Forderung, die denn auch die vorliegende
Untersuchung nachdrücklich stellt. Es muß
aber mit der gleichen Eindringlichkeit betont werden,
daß nichts geholfen ist, wenn dabei sowohl Theologie
wie Literaturgeschichte unzulänglich betrieben werden.
Keinesfalls nämlich ist die bei solchen Themen nötige
Einschaltung der Theologie in die literarhistorische Arbeit
ein Fortschritt, wenn sie aus der Aussprache selbstverständlicher
Allgemeinplätze oder der Übernahme einiger
Formeln aus zweiter und dritter Hand besteht.
Vor allem dann nicht, wenn der Feststellung theologischer
Sachverhalte von höchst fragwürdigem Gewicht
das Gefühl für primitive Grundforderungen literaturgeschichtlicher
Methodik aufgeopfert wird. Es darf nicht
verschwiegen werden, daß H.'s Zinzendorf-Studie eine
Erscheinung dieser Art ist.

Das Buch nimmt Anstoß an dem bislang geltenden
literarhistorischen Urteil über Zinzendorfs Lieddichtung.
Es lehnt die Wertungen Zinzendorfs, wie sie etwa von
Scherer oder Unger summarisch ausgesprochen werden,
scharf ab. Diese Ansichten teilen bekanntlich die Grundrichtung
: sie werfen Zinzendorfs Lieddichtung Schwärmerei
und nicht hinreichend gezügelte Sinnlichkeit, im
Ästhetischen Süßlichkeit, sprachliche Tändelei, Geschmacksverirrung
vor. Daneben wird aber auch die
Kritik mit umgekehrtem Vorzeichen, wie sie am deutlichsten
in Knapps Einleitung der Liederausgabe zum Ausdruck
kommt, abgedämpft. Am gerechtesten scheint
dem V. das Urteil G. Müllers (Geschichte des deutschen
Liedes), das Zinzendorfs Art als eine Mischung von
Unmittelbarkeit und prosaischer Lehrhaftigkeit zu fassen
sucht.

In dieser Richtung liegt auch am ehesten die von
H. versuchte neue Abgrenzung der Gestalt Zinzendorfs.
Sie sieht in dürren Worten so aus:

Zinzendorfs Frömmigkeit ist einerseits pietistisch,
indem sie die Notwendigkeit des Herzenserlebnisses betont
, andrerseits objektiv auf die christliche Heilslehre
bezogen und von daher stark hermeneutisch ausgerichtet.
Im Mittelpunkt dieser Frömmigkeit steht das Christuserlebnis
, gipfelnd vor allem in der Herstellung der Gemeinschaft
mit der Gestalt des Gekreuzigten. Die Hauptabsicht
dabei ist, Zinzendorf von der Seelen- und Kreuzesmystik
des Barock abzuheben, nachzuweisen, daß
seine scheinbar barocke Bild- und Wortsprache bisher
mißverständlich in dieser Richtung gedeutet wurde, daß
es vielmehr die lehrhafte Ausprägung seiner Theologie
und Persönlichkeit ist, die seine Dichtung willensmäßig,
nicht intuitiv in die sinnliche Übertreibung hineinge-
lenkt hat. Der eigentliche Zinzendorf wäre aus der Verwandtschaft
etwa Spees und Silesius', natürlich auch aus
der des überwiegend gefühlsmäßig eingestellten Pietismus
Lavaterscher Prägung zu entfernen und als stärker
abstrakt-rationalistisch zu begreifen als bisher. Er
ist dabei nach H.'s Meinung doch ein Mann aus einem
Guß. Er verbindet die strenge konfessionelle Bindung
der Reformations- und der Barockzeit mit dem ganz bewußten
Willen, die sinnliche Erlebnisfrömmigkeit des
Pietismus als missionarisches Mittel zu verwenden. Deswegen
schlägt er nur scheinbar „moderne" Töne an.
In Wirklichkeit ist er noch nicht „Erlebnisdichter", dafür
aber „einer der letzten echten Kirchenlieddichter".

Sehen wir uns dies Ergebnis etwas eingehender an,
: so scheint uns einigermaßen erstaunlich, wie man darauf
I einen Anspruch auf Reformation des bestehenden literaturgeschichtlichen
Zinzendorf-Bildes gründen kann.
Ich wüßte nicht, daß in der theologischen Auseinandersetzung
Zweifel beständen über die „objektive" Bekenntnisgebundenheit
von Zinzendorfs Einstellung wie
darüber, daß er (mindestens aus missionarischen Gründen
) sich und seine Gemeinde innerhalb der pietistischen
Gefühlswelt hielt, endlich daß er in diesem Bereich der
Erfahrung des Gekreuzigten seine besondere Leidenschaft
zuwandte. In der Herausstellung dieser primitiven
, Tatsachen vermögen wir wirklich keine Bereicherung
unserer literarhistorischen Kenntnisse über die Gestalt
1 des Grafen zu sehen. Wir haben nicht nötig, auf diesem
Gebiete zu reden, als ständen wir noch in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts. Kann man wirklich im Ernste annehmen
, daß den Namen, gegen die man sich wendet,
diese Kompendiumsweisheiten unbekannt gewesen seien?
Fraglich ist nur, wieweit die religiöse Sentimentalität
, Zinzendorfs eine subjektive Herzensangelegenheit oder
bewußtes Wirkungsmittel, gewachsen oder gedacht gewesen
sein mag. Die Möglichkeit dieser letzten Interpretation
ist übrigens sowohl bei Scherer wie bei Unger
keineswegs ausgeschlossen. Ihre „Abwertung" der Zin-
I zendorf-Dichtung bezieht sich auf die in ihr aufgenommenen
Stoffe und die Qualität der Form, erörtert aber
nicht die Gründe, die Verzerrung und Krampf der Zin-
zendorfschen Ausdruckswelt hervorbrachten. Sie widmen
! sich ja auch dem Thema überhaupt nur im Vorüber-
j gehen. Selbstverständlich hat eine sich ganz auf Zinzendorf
einstellende Untersuchung die Möglichkeit und
Pflicht, diese Gründe eingehend abzuwägen. Es ist
hier auch ein Schritt durch H. getan worden, der zur
Weiterführung des wissenschaftlichen Gespräches an-
] regen kann. Aber eine Umwertung des bestehenden Zin-
| zendorf-Bildes bedeutet er nicht im mindesten. Denn die
; Zinzendorf-Charakteristik, gegen die man hier angeht,
I widerlegt man doch nicht, indem man die theologischen
Gründe für das dichterische Erscheinungsbild herausstellt
. Man erklärt sie damit höchstens.

Aber auch die Methode, mit der diese vermeintliche
Revision geschieht, bedarf literarhistorisch schärfster Ablehnung
. Bei einem Bestände von reichlich 2000 Liedern
werden uns zwei Interpretationen und sonst Verweise
| auf einige Dutzend Lieder gegönnt. Die in die Richtung
| der Arbeit schlecht hineinpassende „Sichtungszeit" wird
so gut wie unterdrückt, da sie freilich der barocken Ausdeutung
der Zinzendorfschen Liederdichtung das schla-
gendste Material liefern müßte. Wenn man so verfährt,
, kann man aus einer Erscheinung herausdeuten, was man
will, und hineindeuten, was gefällig ist.

Die gleiche Unzulänglichkeit des Vorgehens ist bei
den Versuchen zu einer geistesgeschichtlichen Auswer-
; tung des Ergebnisses festzustellen. Der V. ist weder zur
: Möglichkeit einer ernsthaften Barock-Auseinandersetzung
noch eines wissenschaftlichen Pietismus-Gesprächs noch
l zu den methodischen Voraussetzungen fruchtbarer Kir-
; chenliedforschung überhaupt vorgestoßen. Eine Berechtigung
, Zinzendorfs Stellung im oder gegenüber dem
Barock zu kennzeichnen, ergäbe sich erst von der Grundlage
eingehender sprachlicher Bestandsaufnahmen und
Vergleiche aus und nicht aus der Übernahme einiger
Formeln aus der Literatur und der Darbietung vereinzel-
i ter Proben unter Ausscheidung des nicht genehmen
[ Materials. Für die Einordnung in die Geschiente der
Erlebnislyrik bedürfte es noch etwas mehr als aphoristischer
Hinweise auf Gerhardt, Scheffler und Spee und
j natürlich die obligaten Namen Günther, Klopstock und
I Goethe. Da bedarf es ernsthafter Gegenüberstelrun'; von
■ Quellen. Desgleichen für eine ernsthafte Erörterung
der Gattungsgesetzlichkeit und Entwicklungsproblematik
! des Kirchenliedes. Es soll da einmal einen Mann namens
Wackernagel gegeben haben, der uns einzigartige Voraussetzungen
für eine solche Quellenarbeit geschaffen
hat.