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Ausgabe:

1936 Nr. 1

Spalte:

9-10

Autor/Hrsg.:

Wagner, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der Sittlichkeitsbegriff in der Hl. Schrift und in der altchristlichen Ethik 1936

Rezensent:

Dibelius, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 1.

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Wagner, Prof. Dr. Friedrich: Der Sittlichkeitsbegriff in der
Hl. Schrift und in der altchristlichen Ethik. Geschichte des
Sittlichkeitsbegriffes 2. Bd. Münster i. W.: Aschendorff 1931. (VII,
280 S.) gr. 8°. = Münsterische Beitr. z. Theologie, hrsg. v. F. Die-
kamp u. R. Stapper, H. 19. RM 14.40.

Ich habe in dieser Zeitung (1930, Sp. 315 ff.) die
Darstellung der antiken Ethik durch den Verf. angezeigt.
Einige der Bedenken, die ich damals aussprach, fallen
bei dieser Darstellung der altchristlichen Ethik weg;
tadelte ich damals eine Art der Kritik, die dem antiken
Wesen eine christliche Zensur gebe, so ist in diesem
Bande die Beurteilung natürlich sachgemäßer; die Zensuren
sind eben christlich, oder um es deutlich zu sagen:
katholisch-christlich. Das zeigt sich vor allem bei der
Frage, inwieweit die geschilderten Oedanken naturrechtlich
begründet seien. Der Katholik meint hier vieles sehen
zu müssen, wovon andere nichts wahrnehmen. Es
ist mir z. B. fraglich, ob man ein Recht hat, an Lac-
tantius hervorzuheben, daß er die Lehre von einer auch
den Heiden bekannten lex naturalis nicht kenne oder
anerkenne. Auf diese Weise kommt der eklektische
Rhetor Lactantius zu sehr auf die Linie der Offenbarungstheologie
. Und es ist mir kein Zweifel, daß der
Verf. im Unrecht ist, wenn er über die Gebote Jesu
urteilt: „sie sind eine vollkommene Verkündung aller
Gebote des Naturgesetzes bis in ihre letzten Konsequenzen
."

Mit diesem besonderen Interesse des Verf. hängt manche Interpretation
zusammen. Es ist kein Wunder, daß er die goldene Regel und die Forderung
der Vollkommenheit Mt. 5, 48 besonders — wie ich meine:
übertrieben — betont. Die positive Fassung der goldenen Regel bedeute
weit mehr als die negative, rein naturrechtliche; und diese
„affirmative Form" sei neu (aber Ps. Aristeas 207 sind negative und
positive Fassung vereinigt!). Im Gebot der Nächstenliebe wird das „wie
dich selbst" unterstrichen: Jesus verlange „keinen sogenannten Altruismus
" !. Dasselbe wird in dem Paulus-Abschnitt aus I. Kor. 9, 4 herausgelesen
. Bei Tertullian wie bei Basilius wird die naturrechtliche Grundlage
der Ethik betont; der Mönch, so heißt es über Basilius, „wendet
nur stärkere und wirksamere Mittel an, um dem Gebot der Gottesliebe
nachzuleben". „Es gibt und gab nie in der Kirche eine Doppelmoral. . .
Mönche, Kleriker und katholische Laien gehorchten zu allen Zeiten nur
einer und derselben Moral." Auch die große und entscheidende Invasion
der Philosophie in die christliche Ethik im System des Klemens von
Alexandrien kann von da aus freundlich beurteilt werden: an sich sei
sein Sittlichkeitsbegriff mehr heidnisch und philosophisch als christlich ;
„da aber auch die Sittenlehre Christi nur eine vollkommenere Darlegung
des natürlichen Sittengesetzes .... ist, so steht auch die Ethik des
Klemens im Einklang mit der des Evangelium".

Auf solche Weise werden bezeichnende Linien der
altchristlichen Ethik verwischt, trotzdem anzuerkennen
ist, daß der Verf. sich müht, den Anteil der antiken
Philosophie aufzuzeigen und namentlich die unterschiedlichen
Lehren von den Affekten besonders zu berücksichtigen
. Aber da das Evangelium keine Ethik ist, wie
W. sehr wohl einsieht, so kann man der Entwicklung
durch eine einseitig ethische Fragestellung überhaupt
nicht gerecht werden, wenn man nicht zugleich die
ganze geistige Lebenswelt in Betracht zieht, innerhalb
deren die ethischen Weisungen oder Systeme stehen.
So ist es der entscheidende Mangel dieses Buches bei
der Darstellung Jesu, daß die Eschatologie überhaupt
nicht zu Wort kommt. Die Verkündung des kommenden
Reiches Gottes gibt doch erst den Maßstab, an dem
alles andere zu messen und nach dem alles andere zu
erklären ist! Es wäre dann zu zeigen, wieweit etwa
schon in der Bergpredigt des Matthäus der Radikalismus
der Eschatologie ermäßigt ist. Aber für solche literarisch
-kritische Abgrenzungen hat der Verf. überhaupt
keinen Sinn: er behandelt das Gesetz vor den Propheten
, den Hebräerbrief bei Paulus, und 1. und II. Petrusbrief
zusammen!

Schon bei der Behandlung des Alten Testaments zeigt
sich übrigens der größte Mangel der Darstellung, der
durch keine Treue in der Wiedergabe der Gedanken wieder
gut gemacht werden kann: es wird nicht nach der
Genesis irgend einer Wandlung oder Beeinflussung von
außen her gefragt. Wenn die Weisheitsliteratur der

I Juden, wie richtig gesehen ist, eine neue Orientierung
i (an der „Weisheit" und an der Jenseitigkeit) bedeutet,
wie kommt es dazu? Man kann diese Individualisierung
der Ethik nicht verstehen, ohne auf das politische
Schicksal Israels einzugehen, das ein Ausscheiden des
jüdischen Menschen aus der Geschichte (vollends in der
| Diaspora!) zur Folge hat. Und wenn Klemens von
i Alexandria es unternehmen kann, sein System zum gu-
; ten Teil aus griechischen Elementen zu errichten, so
1 muß vorher doch gezeigt werden, wie stark dieser
| Einfluß schon in der urchristlichen Paränese geworden
! war, freilich ganz und gar nicht in systematischer Weise
. Unter diesem Gesichtspunkt verstehe ich nicht recht,
; warum den Mandata des Hermas so wenig Beachtung
i zuteil geworden ist. Am „Hirten" des Hermas wäre
| zu zeigen gewesen, wie die urchristliche Bußforderung
j zu allerlei neuen Beantwortungen der Frage führt: was
. sollen wir denn tun? Aber Zusammenhänge dieser Art
j sind grundsätzlich, wie es scheint, nicht berücksichtigt.
I So kann auch die Askese bei Marcion allzunah neben
I die gnostisch-dualistische Askese gestellt werden; der
! eigentümlich marcionitische Gesichtspunkt, daß man den
Bereich des Weltenschöpfers nicht noch durch Kinder-
zeugen erweitern dürfe, bleibt außer Betracht.

Man wird aus dem Buch als Stoffsammlung lernen
können. Aber um wieviel reicher wäre der Gewinn,
wenn nicht in großer Regelmäßigkeit die kirchlichen
(und häretischen) Schriftsteller nach Art der Fragebogen
-Technik über höchstes Gut, Wesen des Sittlichen,
Stellung zu den Motiven der Furcht und Hoffnung usw.
abgehört wären!

Heidelberg. Martin Dibelius.

Hegesippi qui dicitur historiae libri V. Edidit Vincentus Ussani.
Pars Prior: Textum criticum continens. Vindobonae: Hoelder-Pichler-
Tempsky A. G. 1932. (423 S.) 8°. = Corpus Script. Eccl. Latinorum
Vol. 66. RM 25—.

Hegesipps libri historiae quinque lagen bisher nur
in der 1864 erschienenen Ausgabe von C. F. Weber
und I. Caesar vor. Ussani hat nun 1932 im CSEL eine
neue, kritisch gesicherte Ausgabe veranstaltet. Die Textherstellung
hatte er schon 1914 beendet, durch widrige
Umstände konnte die Drucklegung erst jetzt erfolgen.
Er hat eine größere Zahl von Hss. verwenden können,
als seine Vorgänger, die sich im wesentlichen nur auf
den codex Casselanus S. VI/VII gestützt harten. Die
wichtigste neu herangezogene Hs. ist ein codex Ambrosianus
, dessen pars vetustior aus dem VI. Jahrh. stammt,
i also verhältnismäßig sehr alt ist. — Eine ausführlichere
! Auseinandersetzung mit der vorliegenden Textherstellung
j kann erst erfolgen, wenn der Herausgeber den 2. Teil,
der die Erläuterungen zur Überlieferungen enthalten soll,
vorgelegt hat. Bisher ist dieser Teil, auf den ursprünglich
auch mit der Anzeige der Textausgabe gewartet
i werden sollte, noch nicht erschienen. Vorläufig sei nur
gesagt, daß der Herausgeber bei der Herstellung des
j Apparats sehr sorgfältig gearbeitet hat; zahlreiche ab-
i weichende LAA. sind angeführt und ermöglichen dem
Leser ein selbständiges Urteil. Sehr wichtig sind für
den Benutzer auch die Angaben der Quellen der einzel-
j nen Kapitel und Paragraphen des Hegesipp.

R'g3- H. Seesemann.

Bornhäuser, D.Karl: Der Ursinn des Kleinen Katechismus
D.Martin Luthers. Gütersloh: C.Bertelsmann 1933. (V, 192 S.)
8°- RM 4.50; geb. 6—.

Den Ursinn, den zeitgenössischen Sinn, des Kleinen
Katechismus will B. darlegen. Luther hat ihn für den
kursächsischen Bauern geschrieben. Der Hausvater des
: Bauernhofes soll die Hauptstücke den Hofinsassen vor-
I halten. Als Buch für das sächsische Bauerndorf zu
i Luthers Tagen will B. daher den Katechismus gelesen
wissen. Diese Grundthese ist nicht ganz neu, auch nicht
i so neu, wie es bei B. erscheint. Sie ist auch wohl etwas