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Ausgabe:

1936 Nr. 12

Spalte:

219-221

Autor/Hrsg.:

Muschg, Walter

Titel/Untertitel:

Die Mystik in der Schweiz 1936

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

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219

Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 12.

220

sehe, Schlesisehe eindrangen. Darin, daß dies sprach- j
geschichtlich von großer Bedeutung ist und daß diese
Gebete „die Angleichung der Nachbarmundarten an das i
Prager Vorbild in dem wichtigsten Lebensbezirke der I
Zeit, dem religiösen", gefördert haben, wird man dem
Herausgeber zustimmen. Dagegen übertreibt er wohl
die Bedeutung dieses Prozesses in religionsgeschichtlicher
Beziehung, wenn er in dieser „Umformung der
kirchlichen Gebete in Laiengebete" „ein deutliches Zeichen
dafür, daß die Laienwelt auch im Religiösen mündig
wird", sieht. Es ist eben doch eine ganz kirchlichtraditionell
gebundene „Gebetskultur". Mit ungleich
größerem Recht könnte man das von der mystischen
Andachts- und Erbauungsliteratur behaupten, wie sie in
Südwestdeutschland, am Rhein und in den Niederlanden
erblüht.

Zum Schluß möchte ich nur noch auf die auch in
diesem Bande (vgl. ThLz. 58, 142) enthaltenen wichtigen
„Materialien zur Bibelgescbichte" aufmerksam machen
.

Zwickau i. Sa. O. Clernen.

Mus eng, Walter: Die Mystik in der Schweiz, 1200—1500.

Frauenfeld: Huber & Co. 1935. (455 S.) gr. 8°. RM 8.40 ; geb. 10.80.
Der Züricher Literarhistoriker W. Muschg, dem eine
eigenartig-kritische Analyse ,der Geheimnisse des Erzählers
Jeremias Gottheit' (Verlag C. H. Beck, München
) zu verdanken ist, hat in seinem neuen Buch über
,die Mystik in der Schweiz' ein bisher wenig beachtetes
Gebiet der Forschung erschlossen und sich in eine oft
sehr entlegene Stoffmasse mit erstaunlicher Einfühlungskunst
eingelebt. Denn „zum erstenmal wird" darin,
wie der Verfasser im Vorwort selbst schreibt, „der Anteil
der Schweiz an der religiösen Mystik des Mittelalters
zusammenhängend dargestellt". Dabei lehnt der
Verfasser eine sog. nationale Orientierung von vorneherein
ab, da ja „in der größten Zeit der mittelalterlichen
Religion die Schweiz als staatliches Gebilde überhaupt
noch nicht existierte". Darum legt er „alles Gewicht
auf den religiösen Gehalt der Erscheinungen und
auf die Frage, was die Mystik in ihrem Innersten bedeute
". So beginnt er denn auch mit einer ungewöhnlich
aufschlußreichen Analyse der ,Ursprünge der Mystik
' als religiöser Urerfahrung, deren wesenhaftes Element
die Ekstase sei, durch die alles Erkennen ein
transzendenter Akt wird, der einer anderen Dimension
des Daseins angehört. Mystik ist ein spät aufgekommener
Name für jene einsamsten, gefährlichsten Formen
der Gotteserfahrung, deren Spur sich in die graue Vorzeit
zurückverliert." Auch die christliche Mystik kann
als „das Fortleben des antiken harmonikalen Denkens
im Christentum", als die christliche Lehre von der Ekstase
angesehen werden. Ihre Wurzeln aber reichen
zurück in die Gnosis und in den Neuplatonismus und
verschlingen sich in ihrer Gestaltungsweise mit heidnischen
Mythologemen und asketischer Lebenshaltung
zu monumentaler Typik und Heroik.

Nach einer an der Religiosität Bernhards von Clair-
vaux orientierten Charakteristik des ,Frühgotischen Stils',
dessen Frömmigkeitsmomente durch die Gottesminne
wesenhaft bestimmt sind, in der deutschen Frauenmystik
zum einzigartigen Ausdruck kamen und auf schweizer
Boden in Ita von Hohenfels, Ita von Huttwil, Elsbeth
Hainburg, Sophia von Klingnau und Mechthild von
Stans ihre bedeutsamsten Vertreterinnen hatten, beschreibt
W. Muschg Aufstieg und Ausbreitung ,der
Bettelorden' als der revolutionär-religiösen „Träger der j
aufblühenden bürgerlichen Kultur". Als „Meister des
Wortes und der Feder verwandelten sie alles, was Jahrhunderte
lang überwältigtes Schweigen gewesen war,
in ein Schrifttum von unerreichter Tiefe, Fülle und Beredsamkeit
. Die jenseitigen Stimmen und Bilder wurden
von ihnen in einer faszinierenden Sprache festgehalten,
ja schließlich in der deutschen Sprache — kein Wunder,
daß die Welt darüber das Schweigen der Vorfahren vergaß
und die späten Erben für die Urheber hielt." In

diesen Predigerklöstern entwickelte sich eine hohe literarische
Kultur, die zur Formung ihrer mystischen Spekulationen
sich erstmals der deutschen Sprache bediente.
Wegen seiner weitreichenden Einwirkungen auf schweizerische
Frauenklöster — scheint er doch selbst in solchen
gepredigt zu haben — widmet der Verfasser gerade
,Meister Eckhart' eine ausführliche, die Forschungen
der letzten Zeit eingehend verwertende Darstellung.
„Für die Sammlung von Eckharts deutschen Predigten
und Traktaten sind einige alte Handschriften aus schweizerischem
Klosterbesitz von unersetzlichem Wert." An
Gestalten, die dem einzigartigen Meister mehr oder weniger
nahestanden und von ihm beeinflußt wurden schildert
er Jützi Schultheiß, Anna von Ramschwag, Elsbeth
von Beckenhofen und Elsbeth von Eiken. Welch unvergängliche
Bedeutung aber der Mystik für die seelische
Vertiefung der Briefliteratur zukommt, das hat W. Oehl
in seinem Sammelband .Deutsche Mystikerbriefe des
Mittelalters, 1100—1550' (Gg. Müller- Alb. Langen,
München) aufgezeigt. Wie die Anfänge antiker Selbstbiographie
in dem neuen Stil der Heiligenbiographien,
den sog. Schwesternbüchern ihre verinnerlichte Fortsetzung
fanden, das sucht W. Muschg in, dem Abschnitt
über ,Die Frauenklöster' verständlich zu machen. Die
vielumstrittene Gestalt des Konstanzer Dominikaners
Heinrich Seuse und seiner geistlichen Lieblingstochter
Elsbeth Stagel hat das Kapitel über die .Mystische Poesie
' zum Gegenstand, worin neben den dankenswerten
literarkritischen Bemerkungen auch eine vergleichende
Analyse des Wesens der mystischen Poesie überhaupt
erwünscht gewesen wäre.

Für die Geschichte der schweizerischen Mystik sind
die Ausführungen über die gegenseitigen Beziehungen im
„Kreis der Gottesfreunde" zwischen Straßburg (Job. Tauler
) und ,Basel' bedeutsam; blieb doch gerade hier die
mystische Lehre ein lebendiges Ferment". Auch „der
Anonymus schweizerischer Herkunft", ,der Engelberger
Prediger', „von dem wie durch Zufall eine größere Zahl
von Predigten erhalten geblieben ist, gibt Aufschluß
darüber, wie die mystisch beeinflußte Kanzelrede im späten
14. Jahrhundert aussah". In welcher Weise sich ,die
Klosterreform' strenger Observanz in den Frauenklöstern
zu Basel und St. Gallen auswirkte, untersucht
ein weiterer Abschnitt, dem sich lose lehrreiche Einblicke
in die ,Mystik des Buches' anschließen. Mit einer
aufschlußreichen Untersuchung über die ,Mystik der
Laien' endet das Buch und weist noch einmal hin „auf
die Landschaft zwischen Elsaß, Bodensee und Alpen —
hier blühten hundert Formen der Magie und Ekstase,
der Ketzerei und des politischen Widerstandes gegen
die katholische Weltordnung". „Basel galt als ein Brennpunkt
der kirchlichen Frömmigkeit wie des Sektierertums
; das Elsaß war allezeit ein Wetterwinkel voll beunruhigender
Gesichte." Als typische Prägungen derselben
erscheinen ihm die Gottesfreundlegende sowie
die „das Ende der mittelalterlichen Mystik" verkörpernde
Gestalt des Nikiaus von Flüe (1417—1487). Tritt
dort die bewußt tendenziöse Verherrlichung der Laienfrömmigkeit
heraus, so hier das Urgewaltige einer erdverbundenen
und zugleich von irrationalen Schaumigen
erfüllten Gestalt. Und diese Gestalten einer selbstbewußten
, eigenständigen Frömmigkeit aus dem Laienturn
bilden die Brücke zu den erschütternden Geisteskämpfen
der reformatorischen Bewegung. Bei der Beschreibung
von Klausens Visionen legte sich mir die Frage nahe,
weshalb der Verfasser mit keinem Wort eine psychoanalytische
Deutung versucht, ein Gebiet, das ihn in einer
anregenden Schrift einmal beschäftigt hat. Gerade weil
„die Dokumente der Mystik auf Schweizerboden noch
so wenig bekannt" waren, stellt die vorliegende Arbeit
einen umso wertvolleren Grundriß dar, auf dem die Forschung
weiterbauen kann. Dazu bieten die sorgfältig
ausgewählten Anmerkungen mit Literatur und Belegen
die reichste Handhabe. Schade daß W. Muschg das
gründliche Werk von Herbert Grund mann Religiöse
Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über