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Ausgabe: | 1936 Nr. 11 |
Spalte: | 202-203 |
Autor/Hrsg.: | Reiner, Hans |
Titel/Untertitel: | Das Phänomen des Glaubens 1936 |
Rezensent: | Wobbermin, Georg |
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Theologische Literaturzeitung 1936 Nr. 11.
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Maß zurückgewinnen wollte, verzehrte er sich vielmehr
an seiner eigenen Maßlosigkeit (151 ff.).
Damit berührt sich der systematische Haupteinwand
L.'s gegen die Lehre von der ewigen Wiederkunft: diese
Lehre bricht in N.'s eigener Argumentation entzwei in 1
eine anthropologische und eine physikalische Theorie
(82 ff.). Dieser Einwand erscheint jedoch dann nicht
zwingend, wenn wir N.'s Lehre als eine metaphysisch
fundierte Formulierung eines neuen „secunduim naturam
vivere" verstehen, und es wäre wohl zu zeigen, daß N. !
selbst sie so verstanden wissen wollte. Eine andere
i Frage ist natürlich, ob damit das menschliche Dasein
in seinem Wesen richtig verstanden und ob N.'s Lehre
in dieser Hinsicht evident ist. Wenn wir aber diese
Frage verneinen, so haben wir uns damit noch nicht j
von N. emanzipiert. Eine Ablehnung N.'s scheint hoch- !
stens dann möglich, wenn man in der gemeinsamen
geistigen Situation eine grundsätzlich andere Position
für geboten hält, wie dies die christliche Theologie ]
im Prinzip tut. (Andeutungsweise wird eine ähnliche
Haltung auch bei L. sichtbar, wenn er N. mit Argumen-
teil Kierkegaards und Weiningers begegnet (vgl. i
137 ff.)). Aber auch dann kann man an N. nicht vorübergehen
, weil keiner das Nihilismusproblem mit solcher
Radikalität und Tiefe zu zeigen vermocht hat.
Die Stellung der heutigen Philosophie zu N. ist praktisch
vorwiegend anders orientiert: sie knüpft an seine
Problematik an, aber sie geht nicht mehr experimentierend
auf radikale Endlösungen aus, sondern sie ist
geduldiger mit sich selbst und damit zugleich mit ihrem
»bjekt. So begegnen wir zwar N.'s psychologischen,
ethischen, anthropologischen Entdeckungen, aber es fällt
niemandem ein, seine Lehre von der ewigen Wiederkunft I
zu wiederholen. In der Radikalität seiner Position bleibt j
N. für uns eine Ausnahme. Das darf freilich nicht be-
deuten, daß man N.'s Philosophie künstlich verharm- i
lost. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, wie Jaspers
es ausgedrückt hat, „angesichts der Ausnahme nicht
als Ausnahme zu philosophieren". Im Blick auf N.
heißt das wiederum, das Nihilismusproblem wirklich
ernstnehmen. Und darum hat jene Blickwendung, die
das Buch L.'s mit solcher Eindringlichkeit vorgenommen
hat, eine mehr als philosophiegeschichtliche, eine
durchaus aktuelle Bedeutung.
Göttingen. Hermann Zeltner.
Seraphim, Ernst: Baltische Schicksale. Im Spiegel der Geschichte
einer ktirländischen Familie 1756 bis 1919. Berlin u. Stuttgart
: Verlag Grenze u. Ausland 1935. (256 S.) gr. 8°. RM6-;geb. 8-.
Im Spiegel der Schicksale der kurländischen Familie Seraphim ziehen '
vor unserem Auge die Jahre 1756—1919 der baltischen Geschichte 1
vorüber. Am ausführlichsten sind naturgemäß die Erlebnisse des Verf. J
selbst geschildert, und am meisten Berücksichtigung finden die Jahre !
1890 ff. In unserem Zusammenhang interessiert das Schicksal der bal- 1
tischen Kirche in diesen Leidens-Jahrzehnten des baltischen Landes.
Dir Vf. ist nicht Theologe, ebensowenig wie die anderen charakterisier-
ten Mitglieder der Familie. Er kommt jedoch immer wieder auf die
Kirche zu sprechen, und es ist eindrucksvoll, zu sehen, eine wie große 1
Bedeutung ihr zukam. Das Buch sollte daher als lebendiges Zeugnis
eines mitten in dem Erleben jener Jahre Drinstehenden auch von Seiten
der Kirchengeschichtsschreibung nicht übersehen werden.
Riga. H. Seesem an n. >
Thiel icke, Helmut: Geschichte und Existenz. Grundlegung
einer evangel. Geschichtstheologie. Gütersloh: C. Bertelsmann 1935.
(XVI, 369 S.) gr. 8°. RM 15—; geb. 17—. |
Es ist eine Fülle von Gelehrsamkeit, die Thielicke
in seinem Werke „Geschichte und Existenz" vor uns >
ausbreitet. Man muß schon in den philosophischen
Gedankengängen der letzten Jahrzehnte zu Hause sein
und die Dogmatik der neuesten Zeit beherrschen, man
muß sich über Geschichte und Politik in der Zeit des
Umbruchs seine Gedanken gemacht haben, wenn man
aus diesem Buche Nutzen ziehen will. Denn alles das,
Was in geistiger Beziehung bisher erarbeitet ist, setzt
Thielicke als bekannt voraus und zwingt uns, es von
einem völlig neuen Gesichtswinkel aus zu betrachten.
Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, ist: Das Problem
der Geschichte in „theologischer" Weise in den
Blick zu bringen. Dabei erheben sich 2 Fragen: Inwiefern
hat sich der Mensch als geschichtlich zu verstehen
und Inwiefern ist er an das Schicksal dieser „geschichtlichen
" Situation gebunden.
Auch die Philosophie beschäftigt sich mit diesen Gedanken
; es ist aber die Frage, ob Philosophie und
Theologie dabei dieselbe Wirklichkeit meinen, wenn sie
von Geschichte sprechen, oder ob sie nur verschiedene
Gesichtspunkte bilden. Die Entscheidung fällt auf dem
Boden der Anthropologie, die (in diesem Sinne) die
Theologie bisher abgelehnt hat. Darum will Verf. zunächst
die notwendigen Gesichtspunkte im Problembereich
„Geschichte und Existenz" aufzeigen. Er ist
sich bewußt, daß dabei Wiederholungen nötig sind,
weil „in den einzelnen Teilkreisen grundsätzlich schon
das Ganze enthalten sein muß". Und nun wird eigentlich
alles behandelt, was zum Bereich der Dogmatik
und Ethik gehört, aber alles zugleich in eine neue
Beziehung zu einander gesetzt, eben unter dem Gesichtswinkel
„Geschichte und Existenz".
Wieweit diese Gedanken befruchtend wirken werden,
wird die weitere Bearbeitung des Problems erwiesen. An
sich ist das Werk geeignet, der theologischen Betrachtung
eine andere Richtung zu geben.
Stettin._ Hugo Stelter.
Reiner, Hans: Das Phänomen des Glaubens. Dargestellt im
Hinblick a. d. Problem seines metaphysischen Gehalts. Halle a. S.:
M. Niemeyer 1934. (XI, 256 S.) gr. 8°. RM 8—; geb. 9.50.
Dieses lehrreiche und sehr förderliche Buch hat
zur Grundlage eine Preisschrift, die von der Kantgesellschaft
einen der beiden „ersten" Preise erhalten hat.
So wie das Buch vorliegt, trägt es allerdings stark
konstruktives Gepräge. Aber in seinen Konstruktionen
sind vielfach die entscheidenden
sachlichen Motive wirksam und daher dem
geschärften Blick auch erkennbar.
Der Titel der Preisschrift hatte gelautet: „Die Psychologie
des Glaubens". In der vom Verf. für den Druck
vorgenommenen Titeländerung tritt hervor, daß seine
Arbeitsweise in der Richtung der von Husserl und
Heidegger befürworteten „Phänomenologie" liegt.
In Sonderheit ist es Heideggers Fortbildung der
letzteren zur Existenz-Philosophie, die des Verf. Methode
weithin beherrscht und die auch seine Terminologie
in beträchtlichem Maße bestimmt.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der I. Teil
betrifft „das allgemeine (nicht-religiöse) Phänomen des
Glaubens in seiner Darstellung als Einzelphänomen".
Im II. Teil wird „die Grundverfassung und die Grundproblematik
des menschlichen Daseins als philosophischer
Ort des religiösen Glaubens" behandelt. Und der
III. Teil ist „dem religiösen Glauben innerhalb der
Gnmdverfassung und Grundproblematik des menschlichen
Daseins" gewidmet.
R. gibt also seine Darlegungen ausgesprochener
Weise vom Standort des Philosophen und der
philosophischen Problematik aus. Er bemüht sich
aber auch ernstlich um das Verhältnis dieser zur theologischen
Problemstellung und Problembehandlung.
In diesem Zusammenhang sagt er gelegentlich des Versuchs
einer Wesensbestimmung der Religion, eine wissenschaftliche
Wesensbestimmung sei als solche immer
philosophische (S. 1501. Durch diese Vorentscheidung
würde aber entweder die theologische Aufgabe als unwissenschaftlich
gekennzeichnet oder es würde ihre Abgrenzung
gegen die philosophische Aufgabe unmöglich
gemacht. Beides widerspricht R.'s eigener üesamtdenk-
weise. Sein Versuch einer Wesensbestinimung lautet:
Religion ist die von der durchschnittlichen (als Sorge
um ein bestimmtes Wie des In-der-Welt-sein-könnens
existierenden) Alltäglichkeit aus gesehene Sorge des
menschlichen Daseins um etwas, was ihm „im Rücken"
(als Rückhalt) dieser Alltäglichkeit sein In-der-Welt-