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Ausgabe:

1935

Spalte:

97-99

Autor/Hrsg.:

Jungbauer, Gustav

Titel/Untertitel:

Deutsche Volksmedizin 1935

Rezensent:

Vorwahl, Heinrich

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung

BEGRÜNDET VON EMIL SCHÜRER UND ADOLF VON HARNACK

unter Mitwirkung von Prof. D. HERMANN DÖRRIES und Prof. D. Dr. GEORG WOBBERMIN, beide in Göttingen

HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR D. WALTER BAUER, GÖTTINGEN

Mit Bibliographischem Beiblatt in Vierteljahrsheften. Bearbeitet v.Bibliotheksrat Lic.Dr.phil. REICH, Bonn, u.Lic.H. SEESEMANN, Göttingen

Jährlich 26 Nrn. — Bezugspreis: halbjährlich KM 22.50

Manuskripte und gelehrte Mitteilungen sind ausschließlich an Professor D. BAUKR in Güttingen, Düstere Eichenweg 14, su senden,
Rezensionsexemplare ausschließlich an den Verlag, tiewähr für Besprechung oder Rücksendung von unverlangt gesuntllcn Heaenaions-
exemplaren, besonders noch bei Zusendung nach Göttingen, wird nicht UbernommeD.

VERLAG DER J. C. HINRICHS'SCHEN BUCHHANDLUNG, LEIPZIG C 1

60. JAHRGANG, Nr. 6 16. MÄRZ 1935

Spalte1 Spalte

Baynes: A Coptic Gnostic Treatise (Bauer) 104
Gürsching: Die Unionspolitik der Reichsstadt
Nürnberg (Lerche)..........106

Hermelink: Die Eigenart der Reformation

in Württemberg (Bossen).........105

Jungbauer: Deutsche Volksmedizin (Vorwahl
) .................... 971

Koren: Volksbrauch im Kirchenjahr (Lerche) 108
Krüger: A Decade of Research in Early
Christian Literature, 1921 — 1930 (Heussi) 105

Leese: Die Mutter als religiöses Symbol

(Merkel)................... 99

P f ä f f 1 i n : Die vier Evangelien in der Sprache

Spalte

Sacks: Der Anglo- Katholizismus im englischen
Nachkriegsroman (Weber) .... 107
Schmitt: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte
(v. Campenhausen).......112

von heute (Seesemann)..........j |stroh: Christlicher oder Deutschreligiöser

Die Briefe des Neuen Testaments in derHOOj Gottesglaube? (Witte) 109

Sprache von heute (Ders.)........J Jstutzer: Meine Therese (Lerche) . ! '. '. '. 107

S u n d w a 11: Die Zusammensetzung des Mar-

kusevangeliutns (Seesemann)........101

Wieneke: Deutsche Theologie im Umriß
(Eisenhuth).................109

de Quervain: Vom christlichen Leben

(Michel)...................102

Ropes: The synoptic Gospels (Seesemann) 100

Jungbauer, Gustav: Deutsche Volksmedizin. Berlin: W. de | 1929, Bd. II, 151f.) Der einseitigen Auffassung des

Gruyter&Co. 1934. (VIII, 242 Seiten) 8°. geb. RM 4.80. „Krankheitswurmes" bei J. hätte die gleich häufige Maus-,

Jungbauer versteht unter Volksmedizin den Inbe- | Kröten- und Krebsvorstellung die notwendige Korrektur

griff der von alters überkommenen Krankheitsvorstel- nahelegen müssen, auf deren tiefere Verankerung die in

lungen und Heilverfahren im Gegensatz zur wissenr Traum, Fieber und bei Paranoia auftauchenden Tierge-

schaftlichen Medizin. Im Anschluß an Diepgen sieht stalten im Sinne von Jungs Archäotypenlehre hinwei-

er in ihr zwei Bestandteile: 1. die Erfahrungen edizin, ( sen. Entsprechend ist auch die Therapie nach dem Vor-

2. die eigentliche Zaubermedizin, die nicht von der Er- bild des Medizinmannes von Haus aus magisch und

fahrung ausgeht. Als Irrtum wird der Naumann'sche ohne pharmakologische Hintergründe entstanden zu den-

Standpunkt abgewiesen, daß aus der sog. Oberschicht, | ken, denn dem griechischen (pdeiutacov wie dem lateini-

in unserm Falle aus der Schulmedizin „Kulturgut" in sehen medicamentum kommt der Doppelsinn zu, daß

die breiten Volksschichten herabgesunken sei, weil viel- sie sowohl Zauber wie Heilkraut bezeichnen. Das be-

mehr aus dem Erfahrungsteil der Volksmedizin „Kultur- stätigen auch die von J. selbst mitgeteilten Beispiele,

gut" in die Oberschicht hinaufsteige. Die Vorstellung daß z. B. die Benutzung der Kellerassel als Heiltier

vom „Wurm" (Finger-Zahn-Wurm) als Krankheitsur- auf die Assoziation mit den Zuckungen des Epileptikers

sache leitet J. daraus ab, daß der Mensch schädigende zurückgehe, während erst in jüngster Zeit festgestellt

Würmer und Maden beim Obst beobachtet und in den sei, daß sie tatsächlich einen die Nierentätigkeit anre-

Eingeweiden der Tiere gefunden habe, woraus er schloß, genden Stoff enthalte. Oder daß die Tibetaner den Tee

daß der Menschenleib überhaupt aus Würmern künst- | für ein Schutzmittel gegen Typhus halten, während die

lieh zusammengesetzt sei. Eine der ältesten Heilbehand- wirksame Vorbeugung allein im Abkochen des Wassers

lungen, das Belecken, deutet J. dahin, daß ursprüng- besteht. Darum hat mehr die äußere Ähnlichkeit von

lieh die Körperhaut von Krankheitsstoffen gereinigt wer- Pflanzen mit bestimmten Organen oder die Vorstellung

den sollte. Vom Zeitaberglauben und der Wiederholung von der Mana-Ladung bestimmter tierischer Organe oder

der Formeln vermutet J., daß sich dahinter die Absicht menschlicher Absonderungen (Speichel als Lebensträ-

der Zeitgewinnung berge, weil in längeren Zeiträumen ger, daher das Ablecken!) die Aufnahme in den Heil-

die Krankheit unter Umständen von selbst zur Heilung schätz bewirkt, zu dem Ab- und Überleitungen der Krank
kommen könne.

Diese aus gründlicher Quellenkenntnis schopfende
Darstellung der Volksmedizin, welche die Fülle ihrer
Vorstellungsformen svstematisch verarbeitet und den

psychologischen Grundlagen und Gesetzen nachgehen hygienische Gedankengänge maßgebend gewesen, son-
will, leidet jedoch an dem gleichen Fehler, den das dem nach dem Wundt'schen Prinzip der Heterogonie
ärztliche Schrifttum zum Thema gewöhnlich aufweist, j der Zwecke wurden hier magische Tendenzen unbe-
nämlich an die Dinge mit rationalistisch-praktischen i wüßt in wissenschaftlicher Hinsicht sinnvoll. Dieser
Kategorien heranzugehen, d. h. überall richtige BeoD- Einwand gegen den Ansatz der Deutung bei J., zu
achtungen und Zwecke zu vermuten. Aber die frühe- | dessen näherer Begründung ich auf meine „Geschichte
sten Versuche, die Natur- und Lebensgehalte denkend der Volksmedizin" verweisen muß, hindert aber nicht
und empfindend auszuschöpfen bedienen sich der Mit- ; die Anerkennung, daß es dem Verfasser gelungen ist,
tel und Formen des Aberglaubens (Levy-Brühl, Frazer, die unübersichtlichen Einzeluntersuchungen von Höfler
Negelein). Daher ist die Deutung, daß durch Wieder- • und das unhandliche, alphabetisch angelegte Werk von
holung der Formeln Zeit gewonnen werden solle, völlig t Kronfeld-Hovorka über Volksmedizin durch eine überabwegig
. Sie wurzelt vielmehr in der magischen Idee, i sichtliche, den ganzen Stoff trotzdem umfassende, knappe
wie ein opus operatum zu wirken (Vergl. A. Bertholet, 1 Einführung überboten zu haben. Da auch die kathoü-
über Gemination von Kultriten, R. Seeberg-Festschrift, sehe und Tierheilkunde einen gesonderten Abschnitt

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heitsstoffe, Abstreifen und Verpflocken der Krankheit,
Analogiezauber und Besprechen gehören. Wenn auf
primitiver Stufe eine Seuche durch Abbrennen des ganzen
Dorfes „vertrieben" wird, sind dafür nicht primär

B.TÜB.