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Ausgabe:

1935 Nr. 5

Spalte:

92-93

Autor/Hrsg.:

Vasella, Oskar

Titel/Untertitel:

Untersuchungen ueber die Bildungsverhaeltnisse im Bistum Chur 1935

Rezensent:

Muralt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1935 Nr. 5.

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ist wie immer die Geschichtsdeutung stärker als das
Geschehene und das Bild der Vergangenheit, wie sie
hätte sein sollen, richtiger als die Vergangenheit, wie
sie war (S. 414).

Es ist schwer, ja eigentlich unmöglich zu den Ergebnissen
dieses Buches, zu der Fülle der neuen und
geistvollen Gesichtspunkte und Ausführungen Stellung
zu nehmen, denn am Schluß (S. 481) heißt es: „Die
Veröffentlichung wichtiger Textstellen der handschriftlichen
Überlieferung und der Anmerkungen folgt in
einem besonderen Band." Es ist also noch ein ganzer
Band zu erwarten, der ohne Zweifel die Begründung
der Darstellung aus den Quellen und wohl auch die 1
Auseinandersetzung mit den bisher erschienenen Arbei- j
ten über den franz. Spiritualismus (Ehrle, Denifle u. a.)
enthalten wird. Das Buch selbst enthält gar keine solche
Auseinandersetzung, (die Auslassung über die positivistische
Theologie, die an ihrer eigenen Lächerlichkeit
und Dürre eingegangen sei (S. 97) und über die sentimentale
Auslegung des h. Franz, wie sie seit Mitte des
vergangenen Jahrhunderts Mode wurde (S. 162) wäre
wohl besser unterblieben); aber z. B. die Anführung
des Anfangs der ersten Regel (S. 149), deren Wortlaut
doch ganz nur zu vermuten ist, und die der Auslegung
des Vaterunsers (S. 162), die selbst von Böhmer unter
die zweifelhaften Schriften des Heiligen gerechnet wird,
fordern doch notwendig eine Begründung; ebenso ist
die Frage der Stigmen keineswegs nur eine lächerliche
Theologenfrage, sondern durch die scharfe Polemik von
Celano I. gegen den einzigen Augenzeugen unter den
Berichterstattern Elias von Gortona zu einer Frage des
Historikers geworden. Doch darüber und über vieles
andere kann man nichts sagen, ehe der zweite Band
des Buches erschienen ist.

Stuttgart. Ed. Lempp.

Grau, Wilhelm: Antisemitismus im späten Mittelalter. Das

Ende der Regensburger Judengemeinde 1450— 1519. Mit einem Geleitwort
von Prof. Karl Alexander von Müller. München: Dunker
& Humblot 1934. (XII, 201 S. u. 1 Abb.) 8°. RM 5.50; geb. 7.50

Zur Judenfrage, die eine bis heute in unserem Volk
ungelöste Lebensfrage ist, will die vorliegende Arbeit
einen wissenschaftlichen Beitrag geben, wobei der Verfasser
mit Erfolg sich bemüht, weder eine Anklage-
noch eine Verteidigungsschrift zu schreiben; er beschränkt
sich dabei auf die Entwicklung der Judengemeinde
in Regensburg bis zu ihrer Austreibung, was
seinen Grund in der Fülle des Quellenmaterials hat, das
hier vorliegt und bereits in Druckbogen der bis jetzt
nicht edierten Ausgabe von Raphael Strauß ihm zur Verfügung
gestellt wurde. Diese Beschränkung ermöglicht
ein überaus plastisches Bild der lokalen Vorgänge und
zeigt doch typische Züge, die für den ganzen Antisemitismus
des ausgehenden Mittelalters charakteristisch sind.
G. schildert zunächst die in einem ummauerten Bezirk
von Regensburg wohnende Judengemeinde, die in der im
Niedergang begriffenen Stadt als ein unverdaulicher
Fremdkörper wirkte und durch ihr überlegenes, durch
keinerlei ethische oder religiöse Bedenken gehemmtes
Wirtschaftsgebahren dem durch das Zunftwesen gebundenen
Handwerk und Handel der christlichen Bevölkerung
großen Abbruch tat, was den wirtschaftlichen
Antisemitismus hervorrief. Dieser wurde wesentlich verschärft
durch den religiösen und ethischen Gegensatz
der Kirche gegen die Juden, der ein gegenseitiges Verstehen
völlig unmöglich machte und auch den vereinzelten
Versuch einer Judenmission durch den Dominikaner
Schwarz von vornherein aussichtslos und ergebnislos
machte. Besonders interessant ist die Darstellung
der sich kreuzenden und widerstrebenden Politik der
bayrischen Herzöge, der Kaiser, des Stadtrats, der Bischöfe
und der geschickten Gegenwehr der Juden, wobei
gezeigt wird, daß auch die den Juden günstige Politik
des Herzogs Georg und der Kaiser Friedrich III.
und Maximilian nicht etwa aus Mitleid oder Gerechtigkeitsgefühl
sondern lediglich aus finanziellen Beweggründen
entsprang. Zusammenfassend werden endlich
die religiösen, wirtschaftlichen und instinktiven Motive
und dann der Verlauf des Endkampfes, der 1519 zur
Austreibung der Juden aus der Stadt führte, geschildert.
Aus der trefflichen, aus reichstem Quellenmaterial geschöpften
Darstellung geht m. E. deutlich hervor, daß
der Antisemitismus des ausgehenden Mittelalters von
dem der Gegenwart sich hauptsächlich dadurch unterscheidet
, daß im Mittelalter der unüberbrückbare religiöse
Gegensatz zwischen Christen und Juden heutzutage
ganz zurücktritt, welcher der im tiefsten und schärfsten
treibende Grund des Antisemitismus war, während der
heute beherrschende Gegensatz der Rasse damals zwar
gefühlt wurde und in instinktmäßigen gegenseitigen Widerwillen
zum Ausdruck kam, aber doch kaum ins
klare Bewußtsein trat. Ich schließe mich dem Wunsch
des Geleitswortes an, daß das treffliche Erstlingsbuch
des Verf. viele Nachfolger nach sich ziehen möge.

Stuttgart. Ed. Lempp.

V a s e 11 a, a. o. Prof. Oskar: Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse
im Bistum Chur mit besonderer Berücksichtigung
des Klerus. Vom Ausgang d. 13. Jahrh. bis um 1530. Chur.
Sprecher, Eggerling & Co. 1932. (212 S.) = Separatabdr. aus d.
62. Jahresbericht d. Historisch-Antiquarischen Ges. von Graubünden:
8°. Fr. 5-

Die vorliegende Habilitationsschrift ist dank der ausgedehnten
Heranziehung ungedruckten Materials besonders
verdienstlich. V. versucht mit Erfolg auf Grund
der UniversitätsmatrikeLn, die überhaupt erreichbar waren
, festzustellen, welche Bildung beim Klerus des Bistums
Chur vor der Reformation zu finden ist. Eine Einleitung
zeigt die methodischen Schwierigkeiten in der
Identifikation der Studenten und in der Auffindung von
weitern Nachrichten über sie. Ein I. Abschnitt behandelt
die Schulen des Bistums, von denen die Domschule die
bedeutendste war. Der II. Abschnitt untersucht das Universitätsstudium
. Die Frequenz der Universitäten wird
statistisch erfaßt. Da V. Mindestzahlen errechnet, dürfen
wir seinen Ergebnissen volles Vertrauen schenken.
Danach ergibt sich, daß im 14. Jahrhundert 26,7q/n,
im 15. Jahrhundert 54,2o/0 und von 1500—1530 76,3°/o
der Domherren nachweisbar studiert haben. Kleiner
ist die Zahl derjenigen Domherren, welche einen akademischen
Grad erlangten. In denselben Zeiträumen
10%, 23%, 45°A>. Von diesen Graduierten erreichten ein
Drittel bis die Hälfte nur den magister artium. Von
denen, die noch höhere Fakultäten besuchten, erreichten
viele den Licentiaten oder Doktor in decretis. Ein
einziger Doktor der Theologie ist zu verzeichnen. Dieser
Grad wurde allgemein nur bei Beschreitung der akademischen
Laufbahn erworben. In Anbetracht der eher geringen
finanziellen Mittel, die das Bistum Chur seinen
Geistlichen bieten konnte, darf der Bildungsstand der
Domherren als ansehnlich bezeichnet werden. Bedeutend
weniger Universitätsstudenten finden wir beim Seelsorgeklerus
. Immerhin haben von 1490—1520 nachweisbar
41 o/o davon an Universitäten studiert. Nur sehr wenige
erreichten einen akademischen Grad, nämlich ein Achtel
den artistischen Baccalariat. Von 100 Baccalaren erwarben
18 den Magistergrad. Auch hier wurde von den
wenigen, welche das Studium fortsetzten, das kanonische
Recht der Theologie vorgezogen.

Mit Recht tritt V. der Behauptung entgegen, der
Klerus sei vor der Reformation völlig unwissend und
ungebildet gewesen. Nun liegt aber m. E. die Hauptschwierigkeit
darin, zu sagen, was wenigstens die studierten
Kleriker an Bildung in sich aufgenommen haben.
Hier möchte ich doch gegenüber V. den Akzent etwas
verschieben. Das artistische Studium entspricht ja ungefähr
unserer heutigen Mittelschulbildung, führt vielleicht
etwas darüber hinaus. Die Wenigsten haben also mehr
als aristotelische Philosophie und Naturwissenschaft erhalten
. Diese Wenigen, unter ihnen Zwingli, haben, wie
V. selber angibt, erst nach der Studienzeit durch Bücher