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Ausgabe:

1935 Nr. 4

Spalte:

77-78

Autor/Hrsg.:

Brunstäd, Friedrich

Titel/Untertitel:

Ist eine Sozialethik der Kirche möglich? 1935

Rezensent:

Wendland, Heinz-Dietrich

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Theologische Literaturzeitung 1935 Nr. 4.

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sieht A. eine Überwindung dieser Gefahren in Richtung
auf die altkirchliche Lehre sich anbahnen (43). Die
Frage, ob nicht die „Verborgenheits"-Lehre dieser Theologie
in der Kreuzestatsache neutestamentlich wohl begründet
ist, hat A. nicht aufgenommen. Wir begegnen
hier einem wichtigen Unterschiede lutherischer und ostkirchlicher
Theologie. — Kennzeichnend für den neuen
Realismus ist vor allem auch das neue Verständnis der
Kirche: sie ist zugleich eine pneumatische, mystische
und konkrete Realität, die-Folge der Fleischwerdung,
ein Anfang der Verklärung der Kreatur. Der Epheser-
brief, die Verkündigung des Mysteriums der Kirche und
Christi als des Pleroma, ist neu entdeckt. Es ist eine
ökumenische Bewegung auf die Kirche hin im Gange
(A. verweist besonders auf ein Zeugnis von W. Monod).
Der mächtigste Ausdruck des Lebens der Kirche ist
das Sakrament des Abendmahls, es die Mitte des
Kultus und der Gemeinde. Das wird im außerdeutschen
wie im deutschen Protestantismus neu begriffen und
erlebt wofür A. eine Reihe sehr bedeutsamer Zeugnisse
anführt (60ff.). Zwar findet er bei den Berneuchenern
noch Züge eines modernisierenden Ästhetizismus, aber
die Richtung der Entwicklung geht auf das altkirchliche
Sakramentsverständnis zu. Der mystische Realismus
der Feier des verklärten Auferstehuinigsleibes bricht
sich wieder Bahn. — Hinter dieser ganzen Neubelebung
der Theologie steht die Erfahrung des „Christus victor",
der ,urchrfstlichen Botschaft von dem stattgefundenen
Sie°e''' (63). Bedenklich ist in diesem Zusammenhange
die° Anwendung der Begriffe „mystisch" und „Mysteriencharakter
" auf Kirche und Abendmahl. Wohl möchte
A. mit ihnen nur das unergründliche Gnadengeheimnis
der realen Gegenwart Christi, des „deus corporeus"
bezeichnen — er ke'nnt den Unterschied zwischen Gno-
sis usw. und Evangelium — aber sie besagen doch gerade
etwas gänzlich anderes, als was das N.T. unter
„mysterion" versteht.

A. führt S. 73f. mit Recht besonders W. Künneth's „Theologie
der Auferstehung" als Zeugnis für die von ihm herausgearbeiteten Tendenzen
der gegenwärtigen ev. Theologie an, weil hier die Auferstehungsbotschaft
als Zentrum der christlichen Predigt erkannt ist. Aber daß K.
dem zu Trotze eine „halbarianische, halb mythologisierende Auffassung
der Christusgestalt" vertreten soll, diese Behauptung scheint uns auf
Mißverständnissen zu beruhen.

Hoirlelhprtr Heinz-Dietrich Wen d land-

BT uns täd, Friedrich: Ist eine Sozialethik der Kirche möglich
? Vortrag, geh. a. d. Tagung d. Europäisch-kontinentalen Gruppe
d. Ökumenischen Rates f. prakt. Christentum i. Genf, am 8. Aug. 1932.
Berlin: Wichern-Verl. 1933. (16 S.) 8°. RM -70.

Der auf der Tagung der Europäisch-kontinentalen
Gruppe des Oekumenischen Rats für praktisches Christentum
in Genf im August 1932 gehaltene Vortrag
gibt in knapper und strenger Form eine gedankenreiche
Grundlegung der christlichen Sozialethik. Alle Ethik
ist in ihrer Wahrheit das, was wir mit Sozialethik meih
nen. Denn wir sind keine losgelösten Einzelnen, und
alle unbedingte Anforderung und Verbindlichkeit, die
das Wesen des Ethischen ist, trifft uns durch Verbundenheit
. Sozialethik ist Ethik überhaupt und steht
und fällt mit deren Möglichkeit. Wenn man fälschlich
meinte, Individual- und Sozialethik unterscheiden zu können
, so handelt es sich vielmehr um die „Begründung
des Ethos in seiner Ursprünglichkeit und seine Entfaltung
und Gestaltung in aller Wirklichkeit der Kreatur
" (5).

In einem Aufriß der drei Arten der Ethik, der deskriptiven, der normativen
und der kritischen, werden die beiden ersten abgelehnt, weil die
deskriptive entweder das Ethische nach der Art der antiken Ontologie als
ein Seiendes faßt oder aber in empiristischer Form die Ethik in Psychologie
und Soziologie des Ethos verwandelt, die normative aber das Ethos
rationalistisch verfälscht in Legalität oder Normalität, indem sie die
Struktur des Theoretischen auf das Sittliche übertragend meint, sittliche
Grundsätze aufstellen zu können.

Die kritische Ethik dagegen bezeichnet in den beiden
Grundbegriffen des radikalen Bösen und des unbedingten
Sollens die eigentliche, wirkliche sittliche Frage
, aber eben nur Frage. Sie zeigt den Menschen
als den dem Ethos Widerstrebenden und das Ethos
wiederum als die den Menschen in der Wurzel seiner
Existenz, in seiner Selbstbehauptung angreifende Bedrohung
. Das ist der „Grundwiderstreit" (7), in dem
I der Mensch steht. Kritische Ethik ist das Alarmiertwer-
• den durch diesen, die Erkenntnis, daß wir durch die
i unbedingte Anforderung zur Entscheidung gerufen sind.
; — Das Wachwerden für die sittliche Frage bedeutet nun
I ein Offenwerden für das Evangelium, das die Antwort
I auf die sittliche Frage darstellt: „Ethos ist Leben aus
i der Gnadengerechtigkeit Gottes im Rechtfertigungsglau-
[ ben." „Die Frage nach der Möglichkeit des Ethos ist
die alte nach Rechtfertigung und Heiligung, nach Glau-
i be und guten Werken" (8). Wir sind nicht gerecht
aus den Werken, auch nicht in den Werken, aber zu
guten Werken, vgl. Eph. 2,8—10. Gottes Tat ist die
| Möglichkeit des Ethos, des Sozialethos und damit auch
| der kirchlichen Sozialethik. Damit ist die Ethik der
; Weltverbesserung abgelehnt, die nur Selbstgerechtigkeit
wäre. Es gibt aber ein Sichmühen um die Erfüllung
von Gottes Schöpferordnung im Ringen mit der Sünde.
Denn die Welt bleibt auch in ihrer Sünde und unter
j Gottes Zorn seine Schöpfung, die er regiert und erhält.
Näher hat Br. das heute so stark in den Vordergrund
getretene Problem der göttlichen Weltordnungen nicht
expliziert, aber man darf wohl nach seinem Ansätze
schließen, daß er diese sowohl als Schöpferordnung wie
als Zornesordnung über der Sünde verstehen würde.

Von hier aus werden nun kritisch abgewiesen 1. Die Lehre vom
Naturrecht, in welcher „die Schöpfungswirklichkeit gleichsam unberührt
neben der Sünde steht" (11); 2. die christliche Soziologie
als Darstellung eines christlichen Gesellschaftszustandes, in der der Irrtum
j steckt, als wären wir in Werken gerecht, — es gibt aber keine christ-
, liehe Gesellschaft oder Kultur - ; 3. die Sozialethik als normatives
kirchliches Sozialprogramm, das entweder in ganz allgemeinen,
dem antiken Naturrecht entnommenen Wahrheiten oder in Normalisierung
bedingter Inhaltlichkeiten endigt.

Vielmehr ist die Sozialethik der Kirche nur möglich
als ^existentielle Bezeugung von Gottes Willen, aus dem
wir im Glauben leben, in konkreter Geschichtlichkeit unserer
Welt" (12). Die Kirche als Ort und Ereignis solcher
Glaubensentscheidung ist Basis und Möglichkeit der
Sozialethik. Gerade im Widerstreite unserer irdischen
Existenz in Sünde, Zweifel und Mangel, im Hungern
und Dürsten nach der Gerechtigkeit unter der Zornesordnung
zerbrechen die Götzen und tritt das Positive
unserer Berufung hervor. Es ist die Wahrheit des Na-
turrechtes, daß inmitten unserer Sünde doch durch die
Ordnungen ein Ergriffen- und Gehaltensein lebendig
bleibt, durch das Gott uns zu sich zieht. Wir empfangen
im Glauben an die Rechtfertigung und in der Erwartung
der Vollendung Vollmacht zur Kreatürlichkeit. Eschato-
logie und Sozialaktivismus sind nur falsch verstandene
Gegensätze: „Die Ausrichtung auf die Vollendung gibt
vielmehr allem Hier und Jetzt den Schöpfungsernst" (16).
Besonders die Brunstäd'sche Auseinandersetzung mit dem Naturrecht
j und seine Lehre von der positiven Gottesberufung in unserer sündigen
■ Existenz sind ein nicht zu übersehender Beitrag zu dem gegenwärtigen
Ringen um „Anthropologie" und „natürliche Theologie". Die Kritik wird
sich vor allem auf die Begründung der Ethik richten und auf die Rolle,
die dabei Br.'s „kritische" Ethik spielt. Hier ist Br.'s. Haltung mit
Althaus' und teilweise auch mit Brunners Ethik verwandt.

Heidelberg. Heinz-Dietrich Wendland.

1 Tögel, Prof. Dr. Hermann: Der Religionsunterricht im neuen
Deutschland. Leipzig: J. Klinkhaidt 1933. (IV, 75 S. u. 1 Lehr-
Plan) 8°. RM 2.40.

Der Verf. greift mit Energie und Mut zu den notwendigen
Konsequenzen die Frage auf, die dem Schulreligionsunterricht
durch die völkische Neugestaltung des
Erziehungswerkes gestellt ist. Soll und kann sich der
christliche Religionsunterricht dem Bildungs- und Erziehungswerk
der neuen Deutschen Schule einordnen?
Tögel meint durch eine stärkere Betonung der völki-