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Ausgabe:

1935 Nr. 24

Spalte:

444-445

Autor/Hrsg.:

Kitzig, Berthold

Titel/Untertitel:

Gustav Adolf, Jacobus Fabricius und Michael Altenburg 1935

Rezensent:

Lerche, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1935 Nr. 24.

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Verf. im letzten Kapitel Stellung, wobei er zu folgendem
Ergebnis kommt. Newton war Physiker, aber auch Mystiker
; er hat für Böhme ein starkes menschliches und
wissenschaftliches Interesse gehabt und umfangreiche
Auszüge aus seinen Schriften gemacht. Nun hat Newton
seine Physik durch eine Naturmetaphysik vervollständigt
, in der mystische Züge wirksam geworden sind.
„Newtons Mystik ist aber in hohem Maße von Böhme
beeinflußt, wodurch sich, mittelbar wenigstens, der Einfluß
Böhmes auf Newton bis in dessen Physik erstreckt"
(S. 88).

An dem gut gelungenen Aufbau der Arbeit P.s fallen
die häufigen und verhältnismäßig ausführlichen biographischen
Exkurse auf. Auch More, Law, Oetinger u. a.
werden mit biographischen Betrachtungen eingeführt.
Man hat den Eindruck, daß der Verf. die Strenge der
sachlichen Durchführung mit lebendigen Schilderungen
der Persönlichkeiten und ihrer Werke aufzulockern bestrebt
war. Dies wird man ihm bereitwilliger zugute
halten, wenn man sieht, daß es seiner Einfühlungsgabe
gelingt, bestimmte einseitig beurteilte Ereignisse in einer
Weise zu deuten, die unmittelbar überzeugt. Das gilt
namentlich für die Lebensbeschreibung Böhmes, die liebevoll
eindringend und sogar mit Benutzung handschriftlicher
Quellen bearbeitet ist, ohne daß sie indes über
die Forschungsergebnisse Jechts hinausführte. In Bezug
auf Böhme aber wird man die Notwendigkeit biographischer
Bemühungen am ehesten zugeben. Denn
die Darstellung des Verf. zeigt deutlich den inneren Zusammenhang
, in dem Leben und Lehre Böhmes stehen.
Im Einzelnen muß man freilich mit der Behauptung dieses
Zusammenhangs vorsichtig sein, will man nicht zu
Fehlurteilen kommen. P. nähert sich einem solchen,
wenn er anzunehmen scheint (S. 22 u. 24), daß erst der
letzte schwere Angriff Richters Böhme zur vollen Klarheit
über den Sinn des Bösen gebracht habe.

Am besten ist P. der Mittelteil seiner Arbeit über den
Einfluß Böhmes im England des 17. und 18. Jahrhunderts
gelungen. Gewiß fand er hier die Wege bereitet
durch wertvolle Beiträge zu dieser Frage, wie sie Spur-
geon, Bailey, Jones und vor allem Cloß geliefert haben.
Aber der Verf. weiß uns dank der Beherrschung eines
äußerst umfangreichen, weitverstreuten Materials ein vielgestaltiges
und ausdrucksvolles Bild von der Wirkung
Böhmes, und zwar sowohl von der Aufnahme wie der
Abwehr seiner Gedanken, auf religiösem, literarischem
und wissenschaftlichem Gebiet zu zeichnen. Erneut bringen
uns seine Ausführungen zum Bewußtsein, daß nicht
der Empirismus die Geisteswelt des Engländers beherrscht
, sondern daß er auch einer durchaus innerlichen
Betrachtung der Dinge fähig ist. Und dieser Typus gehört
nicht etwa der Vergangenheit an; denn noch heute
werden in England Böhmes Schriften verbreitet und gelesen
.

Bei der Erörterung der Kernfrage nach dem Einfluß
Böhmes auf Newton scheint die stoffliche Fülle allerdings
die Straffheit und Durchsichtigkeit der Gedankenführung
beeinträchtigt zu haben, obwohl P. sich darauf
beschränkt, die Aussagen der Hauptzeugen Law und
Oetinger kritisch zu untersuchen. Im Zuge dieser Untersuchung
zeigt nun der Verf., einmal daß überhaupt die
äußeren und inneren Voraussetzungen für jenen Einfluß
gegeben waren, dann aber daß Böhmes Lehre von
den drei ersten Naturgestalten tatsächlich nicht nur im
metaphysischen Unterbau der Physik Newtons, sondern
auch in seinem mechanischen Erklärungsversuch, ja sogar
in der mathematischen Formulierung der Gravitation
sichtbar wird. Man kann bezweifeln, ob dieser Nachweis
in allen Einzelheiten geglückt ist. Während sich z. B.
die Schwerkraft leicht zu Böhmes erster „ziehender"
Qualität in Beziehung setzen läßt, bleibt ungewiß, welche
Kraft bei Newton der zweiten „fliehenden" Qualität entsprechen
soll. Solche Fragen könnten nur durch genaues
Eingehen auf die Lehre Newtons geklärt werden. Aber
auch die Eigenart und die Bedeutung der Naturgestalten

Böhmes wäre schärfer zu fassen, als es im Rahmen der
im ersten Kapitel gegebenen Gesamtdarstellung möglich
ist, welcher der Kenner überdies noch manches Fragezeichen
beisetzen dürfte. Im Ganzen aber wird man den
Ausführungen P.s zustimmen und überzeugt sein, daß
von einem Einfluß Böhmes auf Newton gesprochen
werden kann. Über das Wie mag man verschiedener
Meinung sein. P. kommt zu dem oben mitgeteilten Ergebnis
. Ich könnte mir denken, daß die Konzeption des
üravitationsgesetzes sich bei Newton an der unbewußten
Vorstellung von dem Verhältnis der drei ersten Naturge-

! stalten Böhmes entzündet hat, und daß demnach das
großartige physikalische Weltbild einer allgemeinen Ro-
tation der Himmelskörper als Wirkung verschieden ge-

| richteter kosmischer Energien der ebenfalls unbewußte
Ausdruck des tiefen metaphysischen Gedankens Böhmes

| von der allgemeinen Unruhe der Natur ist, die durch

j widerstreitende und wie ein Rad sich in sich selber drehende
geistige Kräfte erzeugt wird. Weil aber Newton,
dem nichts ferner lag als eine Vermengung von Natur-

I Wissenschaft und Mystik, sich keiner mystischen Inspiration
bewußt war, als er sein physikalisches Gesetz
entdeckte und darstellte, hatte er auch keine Veranlas-

I sung, Böhme in seinen Schriften zu erwähnen. Daß

! er ihm verpflichtet war, bekundet er freilich doch, wenn
auch implicite, in seiner mechanischen und noch deut-

I licher in seiner metaphysischen Erklärung der Gravitation
.

Am Schluß seiner Arbeit bringt P. ein reichhaltiges
| Verzeichnis von deutschen Böhmeausgaben und engli-
j sehen Übersetzungen sowie von Literatur über Böhme
und Newton. So sehr man eine solche Beigabe begrüßt,
muß man doch andrerseits mit Bedauern feststellen, daß
I sie, namentlich in der Bibliographie der Texte, eine Reihe
von ungenauen und fehlerhaften Angaben enthält. Dieser
i Mangel fällt um so mehr ins Gewicht, als nicht nur im
Titel der Schrift P.s ausdrücklich auf das Verzeichnis
hingewiesen wird, sondern auch die Schrift selbst einer
Reihe angehört, die sich „Studien und Bibliographien
" nennt. Dennoch wird hierdurch die Gesamt-
| leistung des Verf. nicht beeinträchtigt, noch weniger unser
Dank verkürzt für sein mit lebendiger Anteilnahme
geschriebenes, aufschlußreiches und anregendes Erstlingswerk
.

Göttingen. W. Buddecke.

Kitzig, Pastor Berthold: Gustav Adolf, Jacobus Fabricius und
Michael Altenburg, die drei Urheber des Liedes: Verzage
nicht, du Häuflein klein! Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
i 1935. (112 S. m. 39 Abb.) gr. 8°. RM 3.80.

Kitzig ist, wenn wir uns nicht irren, der scharfe Kritiker
, der mit Leider nur zu berechtigten Aussetzungen
und durchweg begründetem Tadel den Text des künstlerisch
so anmutig gestalteten evangelischen Gesangbu-
; ches der Provinz Sachsen (1931) völlig abgelehnt hat.
i K. bemängelt da eine schier unglaubliche Fülle von Ver-
I sehen, Fehlern, falschen Überlieferungen, Unrichtigkei-
! ten usw., die dem Nichtfachmann als Kleinigkeiten er-
j scheinen mögen, die er aber mit Recht ernst und wichtig
i nimmt.

Von der Gesangbuichseite her also kommt K. zu der
Frage: wer war der Dichter des Liedes „Verzage nicht,
du Häuflein klein"?, und er löst oder beantwortet diese
Frage nicht mit dem Gewicht überwältigender Zeugen-
und Tatsachenbeweise, sondern mit einem in seiner Unübersichtlichkeit
, Weitschweifigkeit und wohl gar Abwegigkeit
ermüdenden, komplizierten Aufbau von Spezialuntersuchungen
, antiquarischem Wissenskram, Vermutun-
i gen, unbestrittenen Feststellungen und halbüberzeugen-
! den Schlüssen. Um dann schließlich festzustellen: das
! Lied sei am Morgen von Lützen „aus dem heißen Atem
der Schlacht geboren" vom Könige und seinem Feldprediger
Jakob Fabricius gemeinsam verfaßt (S. 79), und
< dies Lied dürfe nach dem Willen des Dichters Fabricius