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Ausgabe:

1935 Nr. 18

Spalte:

330-332

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Heilige Allianz 1935

Rezensent:

Lerche, Otto

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329

Theologische Literaturzeitung 1935 Nr. 18.

330

eine Bresche in die Vorherrschaft des humilitas-Gedankens. Hier beginnt I
der Weg aus dem purgatorio in das paradiso. Den entscheidenden Um- j
bruch glaubte der Verf. dann in der Interpretation des confido von
Rom. 14, 14 feststellen zu müssen. „Die Hoffnung der humilitas hat
«KM in die Zuversicht der fides verwandelt" (146) Der occamistisch
verstandene absolute Wille Gottes wird zum Liebeswillen. Rom. 1, 17
ist also in der Römerbriefvorlesung selbst noch nicht reformatorisch
verstanden. Das Turmerlebnis und die neue Sinnerfassung von Rom.
h 17 erfolgt erst im Herbst 1516. Der Verf. sucht diese Behauptung
nicht nur durch die Deutung der vorherigen Schriften Luthers als „unterOder
zwischenreformatorisch zu stützen, sondern zugleich durch
den Hinweis auf den neuen freudigen Ton der Heilsgewißheit in den
Sermonen von 1516. Die Hebräerbriefvorlesung ist dann durch die
»Mystik des Glaubens" und die Gewißheit der Begnadung, die von aller
occamistischen Metaphysik abzurücken ist, das erste deutliche Dokument
für die vom nominalistischen Denken befreite Exegese des Reformators.
Besonders wichtig ist dann noch dem Verfasser, daß Luther Ende Oktober
oder Anfang November 1516 den Entschluß faßt, seine erste
Psalmenvorlesung nicht im Druck erscheinen zu lassen. Merkwürdigerweise
ergänzt der Verf. diese Darstellung der religiösen und theologischen
Entwicklung Luthers noch dmch eine andere Stufenordnung: 1. Stufe:
die zwischenreformatorische hunilitas-Theologie; 2 Stufe: Das neue Verständnis
von Fides, Rechtfertigung und Heilsgewißheit; 3. Stufe: Da die
Rechtfertigung und die Vermittlung der Heilsgewißheit allein Gottes Tat
»st, kann die Heilsgewißheit nicht von der Hierarchie und dem Papsttum
abhängig sein. Die Heilsgewißheit besteht ohne, ja sogar gegen
den Papst.

Diese Darstellung der Entwicklung Luthers kann
durch ihren Widerspruch gegen bisherige, schon gefestigt
erscheinende Anschauungen und durch neue Einzelanalysen
anregend wirken, aber auf das Ganze gesehen
hat sie doch wohl keine Beweiskraft. Z. B. kann
das argumentum e silentio anläßlich der Interpretation
von Rom. 1,17 in Luthers Römerbriefvorlesung nicht
befriedigen (150 f.). Es soll psychologisch unmöglich
sein, daß „Luther gerade diesen Vers so kurz, so kühl, so
unpersönlich und sogar mit einer gewissen Unsicherheit
(videtur) erklärt, wenn er damals schon mit einem geradezu
brennendem Eifer die Bedeutung dieser Worte
erforscht hätte" (151). Zunächst beziehen sich die angeblich
unsicheren Erklärungen Luthers nicht auf das
Verhältnis von Glaube und Gerechtigkeit, sondern auf
die Exegese des ex fide in fidem. Ferner leuchtet die
Erklärung Fkkers mehr ein, daß Luther deshalb nicht
im Römerbrief auf sein Turmerlebnis sich beziehe, weil
es sehr viel früher lag. Ferner dürfen die Hinweise Luthers
in seiner 1. Psalmenvorlesung auf die profunda
theologia Pauli nicht einfach mit dem Verf. als spätere
Einschübe eliminiert werden.

Der Hauptfehler der Untersuchung hegt wohl in der
Ungeklärtheit des Begriffes Heilsgewißheit, die auch
der systematische Teil nicht beseitigt. Die Heilsgewißheit
hat nach dem Verf. folgenden Inhalt: 1. Die Gewißheit
, daß der Glaubensinhalt objektiv wahr ist und
die Verheißungen Gottes nicht trügen. 2. Die Gewißheit
, daß die Verheißungen Gottes mir persönlich gelten
und Christus auch mich erlöst hat. 3. Die aus Glauben
geborene und in ihm verankerte Zuversicht, daß Gott
das angefangene Werk vollendet, d. i. eine mit dem
erstarkenden Glauben immer mehr wachsende subjektive
Gewißheit der Berufung und Erwählung" (230).
Dann werden Glaubensgewißheit und Heilsgewißheit
wieder auseinandergehalten und endlich ist die Rechtfertigung
gleichzeitig Heiligfertigung (24!), als die
Heilsgewißheit auch Heiligungsgewißheit. Von einer umfassenderen
und genaueren Klärung des Begriffes Heilsgewißheit
aus wird man dann auch wohl mit Holl die
humilitas-Theologie der Römerbriefvorlesung nicht mehr
als unterreformatorisch bezeichnen dürfen. Die humilitas
enthält dann einerseits die ständige Aufforderung
zur Buße, aber andererseits erfährt der Glaubende, indem
er Gott, auch seinem Gerichtsurteil recht gibt, in
neuer Weise eine „innigste Verbundenheit mit Gott",
der wohl das Prädikat der persönlichen Heilsgewißheit
nicht zu bestreiten ist.

Trotz aller Bedenken ist die Schrift fruchtbar und
anregend, weil sie die Lutherforschung von neuem zu
letzter Klärung zwingt. Sie hat auch das Verdienst

darauf hingewiesen zu haben, welche Gefahr darin besteht
, Luthers Theologie vornehmlich unter dem Gesichtspunkt
der Diastase und der abstrakten Dialektik
von Zeit und Ewigkeit zu interpretieren. Weder die falsche
securitas, noch die durch solche Diastase hervorgerufene
Unsicherheit ist reformatorisch, sondern die
gläubige certitudo des Heils durch die Gegenwart des
lebendigen Herrn und des heiligen Geistes in Wort und
Sakrament.

Münster i. W. Martin Redeker.

Schwarz, Wilh.: Die Heilige Allianz. Tragik eines europäischen
Friedensbundes. Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchh. Nchf. 1935.(396 S.)
8°. RM 5 - ; geb. 7.50.

Das Thema dieses Buches — und ein Buch über dieses
Thema überhaupt — zieht uns alle, die wir Versailles
, den Völkerbund, die Abrüstungskonferenz und
immer wieder eine grenzenlose Flut von Konferenzen mit
nichts als Worten erlebt haben, nur schwer in seinen
Bann: es war nichts mit dem Friedensgedanken, mit dem
Verzicht auf die von der Natur gegebenen Machtmittel,
und wird mit diesen Dingen nie etwas sein! Das vorliegende
Buch ist keine aktenmäßige, pragmatische Darstellung
, es geht über eine Fülle von Einzelheiten hinweg
und gibt doch mit eigentümlichem Schwung und
mit oft ganz unakademischer Grazie einen Überblick
über „das gesamte Geschehen der Jahre 1815 bis 1825
zwischen Petersburg und Buenos Aires, Konstantinopel
und Washington". Was es mit der Heiligen Allianz auf
sich hatte, wußten die zeitgenössischen Politiker, „der
Engländer Castlereagh sprach von einem Aktenstück
eines prachtvollen Mystizismus und Unsinns, der Preuße
von der Marwitz von einem Gaukelspiel, der Österreicher
Metternich von dem lauttönenden Nichts und Gentz von
der bloßen Theaterdekoration, von der Urkunde, die
eines Tages nur noch als Denkmal der Schrullenhaf-
tigkeit ... zu finden sein werde". Johannes Haller, dem
dies Buch gewidmet ist, sagt in den Nachweisen und
Erläuterungen des ersten Bandes seines „Papsttums"
(1934 S. 441), es gäbe verschiedene Arten Geschichte
zu schreiben. Mit dieser recht unbeschwerten und doch
recht eindringlichen Art wird er vermutlich einverstanden
sein.

Das Buch behandelt große weltgeschichtliche Probleme
. Es handelt sich nicht nur um die Neuordnung
Europas nach den Napoleonischen Wirren, nicht nur um
den Ausgleich der Gegensätze innerhalb der Reihen der
Sieger über den Korsen, nicht nur um die Rückführung
Frankreichs, das noch immer anrüchig war, in den Kreis
des zivilisierten Europa. Der Zerfall der altgewordenen
spanischen Weltmacht, das stürmische Hereinbrechen
des jugendstarken Rußland in das schläfrig-muffige
Europa und der weitausgreifende Aufbruch Englands beherrschen
die Situation. Griechenland, Neapel, Spanien
— Nordamerika, Mexiko, Brasilien werden von der Bewegung
angezogen und verstört oder in sich gefestigt
und auf eigene Selbständigkeit gewiesen.

Das Milieu wird bestimmt durch eine Kette von

I Konferenzen und eine endlose Flut hohlen Geschwätzes
(S. 138 das Lob der Konferenzen aus englischem Munde

I laut und überschwenglich!): Erinnerungen an näherliegende
Zeiten werden nur zu lebendig. Es ist viel die

i Rede von einer Gesellschaft der Nationen, der christlichen
Nationen, von Moral und Liebe. Mit dem Begriff

i des wahren Christentums wird gröblich Mißbrauch ge-

j trieben. Abschaffung der Geheimdiplomatie, Abrüstung
oder Einschränkung der Bewaffnung (S. 88 ff.) und Verzicht
auf das Machtmittel des Krieges (S. 154) sind keineswegs
Ideale von 1918: sie hatten sich bereits vor
Menschenaltern als lächerliche Popanze erwiesen. Da-

: mals aber nahm man die schönen Worte hier und da

; nicht ohne ehrliche Erbauung an. Unberührt von all den
schönen Worten blieben die nüchternsten Exponenten
im europäischen Konzert: der Papst und die englische

i Krone. Aber alle diese Einzelheiten, die nichtrussischen