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Ausgabe:

1935 Nr. 18

Spalte:

327-328

Titel/Untertitel:

Verdeutschung der Paulinischen Briefe 1935

Rezensent:

Michel, Otto

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Seite 1

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327

Theologische Literaturzeitung 1935 Nr. 18.

328

Die Geschichte der ntl. Kritik läuft im Grunde auf
eine Ablehnung der Kritik hinaus und rechtfertigt den
katholischen Standpunkt, allerdings unter Ablehnung
übertrieben scharfer Deutungen, welche die in Frage
kommenden Erlasse der kirchlichen Oberen gelegentlich
gefunden haben.

Göttingen. W. Bauer.

Ri vi ere, Jean: Le dogme de la rödemption au d6but du
moyen age. Paris: Vrin 1934. (XI, 515 S.) = BibliothequeTho-
raiste, 19, Section historique 16. Fr. 40.

Am Schluß meiner Anzeige der Arbeiten Rivieres
zur Erlösungslehre (diese Zeitung 58, 1933, 378 f.) habe
ich darauf hingewiesen, daß wir noch einen Band über
Stand und Entwicklung der Lehre in der Frühzeit des
Mittelalters aus der fleißigen Feder des Verfassers zu
erwarten hätten. Dieser Band ist inzwischen erschienen
und hat unsere Erwartungen nicht enttäuscht. Zwar
handelt es sich auch jetzt großenteils um den (stark
überarbeiteten) Abdruck älterer Aufsätze aus der Revue
des scienoes religieuses. Auch diesmal bildet die Auseinandersetzung
mit Gallerand-Turmel nicht nur den Ausgangspunkt
, sondern begleitet uns, wenn auch nicht aufdringlich
, durch den größeren Teil des umfangreichen
Bandes. Aber das positiv Neue, das Riviere vorträgt,
überwiegt doch weitaus. Dazu kommt, daß die zweite
Hälfte des Bandes eine Anzahl von Appendices bringt,
die sich vornehmlich mit entlegenen, darum aber nicht
weniger wichtigen Einzelheiten zumal der späteren Entwicklung
beschäftigen. Riviere beginnt mit einem Überblick
über das Schicksal der Lehre vom Recht des Teufels
auf den Menschen. Schon hier zeigt sich seine
große Belesenheit in den Autoren der scholastischen
Frühzeit. Daran schließt sich Darstellung und Kritik
der Genugtuungslehre Anselms von Canterbury, der das
Verdienst hat, jene Lehre überwunden zu haben, und der
Versöhnungslehre Abaelards, seines Gegenspielers, dem
gerecht zu werden Riviere sich redliche Mühe gibt, wenn
er auch begreiflicher Weise Anselm die Palme reicht.
Besonders wertvoll sind die Abschnitte, in denen an den
Autoren des 12. Jahrhunderts gezeigt wird, wie sich
Anselms Lehre trotz des lebhaften Widerhalls, den
Abaelards Theorien in den nächsten Generationen fanden
, allmählich durchzusetzen vermochte, während Abaelards
Einfluß verblaßte. Eine lehrreiche Darstellung
findet sodann die Lehre Bernhards von Clairvaux. Unter
den Anhängen wird man besonders gerne den mit sichtlicher
Freude am Gegenstand geschriebenen Aufsatz
über den „Streit der Töchter Gottes" lesen, nämlich der
Wahrheit und Gerechtigkeit auf der einen, der Barmherzigkeit
und Friedfertigkeit auf der anderen Seite, der seinen
Niederschlag in der volkstümlichen, also wesentlich
der Predigtliteratur gefunden hat, gelegentlich auch dichterisch
verwertet worden ist. Riviere greift dabei auch
auf die Predigt zurück, die Innozenz III. noch als Kardinal
gehalten hat, und vergißt nicht, dabei zu erwähnen,
daß diese Predigt schon Neander den nicht ganz unberechtigten
Anlaß bot, einen Vorklang der protestantischen
Auffassung der Genugtuungslehre darin zu finden
. Im Weiteren verfolgt R. die Entwicklung über das
Ende des 12. Jahrhunderts in die Zeit der Hochscholastik
(Thomas, Duns) hinein. In der Bibliographie wie
in den Anmerkungen fällt die sorgfältige Benutzung der
deutschen Arbeiten angenehm auf, wobei vermerkt zu
werden verdient, daß die meisten Beiträge zum Thema,
jedenfalls aber die wichtigsten, aus deutscher Feder
stammen. Aufs Ganze gesehen, kann ich Rivieres neuen
Band wie die früheren um der Zuverlässigkeit der Berichterstattung
und der Besonnenheit der Kritik willen,
vor Allem aber wegen der Heranziehung so vieler unbekannter
und wenig bekannter Quellen den Fachgenossen
zu eindringlichem Studium dringend empfehlen.
Gießen. G. Kruger.

Verdeutschung der Paulinischen Briefe von den ersten Anfängen
bis Luther. Beiträge zu ihrer Geschichte. Mit neuen Texten, synopt.

Tabellen u. 3 Bildtaf. Hrsg. in Gemeinschaft m. Fritz Jülicher,
Willy L ü d t k e u. Richard Newal d von Hans Vollmer. Potsdam
: Akad. Verlagsges. Athenaion 1934. (VI, 240 S.) gr. 8°. =
Bibel u. deutsche Kultur. Vcröff. d. Dt. Bibel-Archivs in Hamburg.
Bd. IV. N. F. d. „Materialien z. Bibelgesch. u. relig. Volkskunde d.
Mittelalters". Der Gesamtfolge Bd. VIII. RM 20—.

Das Hamburger Bibelarchiv schenkt uns mit dem
neuen Band einen weiteren Beitrag zur Geschichte der
vorlutherischen Bibelübersetzung. Wichtig sind die Tabellen
zu Rom. 13,11 — 14; 1. Kor. 5,1— S; 1. Kor. 13;
Phil. 2,5—8 und Hebr. 12,28—13,8 (S. 28—127). Rieh.
Newald ediert zwei neue zusammengehörige Handschriften
des 14. Jahrhunderts (Gotha = G, Salzburg = S), von
denen die eine (S) erst durch ihn zugängig gemacht
wurde (S. 128—228). So wertvoll diese einzelnen Beiträge
zur Geschichte der deutschen Bibel sind, so hat
doch der Leser einen starken Eindruck von der Bruch-
stückhaftigkeit unserer bisherigen Funde, die noch kein
vollständiges Bild ergeben. Daß auch die Herausgeber
auf diese Tatsache immer wieder hinweisen, ist besonders
dankenswert; in solchen Fällen dürfte eine übereilte
Zusammenfassung keinen Bestand haben. Begrüßen würde
ich es, wenn die Arbeit an der deutschen Bibelübersetzung
vor Luther auch in unserer protestantischen Exegese
zum Anreiz würde, auf die lateinischen Vorlagen zu
achten. Die Arbeit an der lateinischen Bibel ist kein
Vorrecht der Vulgata-Kommission. Als Resultat unserer
Bibeluntersuchung stellt sich heraus: „Hauptergebnis
ist auch diesmal die klar hervortretende Überlieferung
einer alten Norm. Und von ihr zeigt sich auch Luther
in den Übersichten des vorliegenden Bandes wieder
mehrfach beeinflußt, ganz unbeschadet der alles Frühere
überragenden Genialität seiner Verdeutschung" (S. 25).
Halle a. S. Otto Michel.

Kurz, Alfred: Die Heilsgewißheit bei Luther. Eine Entwicklungsgeschichte
u. systemat. Darstellung. Gütersloh: C.Bertelsmann 1933.
(XII, 262 S.) gr. 8°. RM 8—; geb. 10-.

Die vorliegende Untersuchung vertritt energisch einen
von der durchschnittlichen Lutherauffassung abweichenden
Standpunkt; sowohl die religiöse und theologische
Entwicklung als auch die reformatorische Grundposition
wird anders gezeichnet als es in einem großen Teil der
bisherigen Lutherforschung geschah.

Der Verf. geht davon aus, daß der „Grundtrieb in Luthers religi-

! ösem Denken und Erleben sein brennendes Verlangen nach Heilsgewiß-
heit gewesen ist (VI) In diesem Ringen Luthers um Heilsgewißheit
unterscheidet der Verf. drei Entwicklungsphasen: 1. Inferno: Luther
versucht den Weg der mönchischen Heilssicherung zu gehen. Er nimmt
die scholastische Lehre von der Eingießung der gratia sanetificans ernst

1 und folgert daraus, daß die Heilsgewißheit in der Heiligkeitsgewißheit
bestehen müsse. Dem widerspricht die Erfahrung der Sünde, und er

| beginnt an dem Besitze der heiligmachenden Gnade zu zweifeln.

2. Purgatorio. Der Verf. lälit es mit der Übernahme der Witten-

1 berger Professur und der 1. Psalmenvorlesung beginnen. Entgegen der

| bisher üblichen Ansicht bedeutet für den Verf. dieser Neuansatz noch

i nicht den Durchbruch der reformatorischen Entdeckung. Die Psalmenvorlesung
wird lediglich bestimmt „durch Luthers Ablehnung des aristo-
telisch-thomistischen Gottes- und Gnadenbegriffes und die Einführung
der occamistischen Gedanken über diese Begriffe". (53) „Das war eine
zeitgeschichtliche bedingte Reform der Theologie, aber es war nicht die

' Reformation" (31) „Es ist tragisch, daß diese Theologie für reforma-

! torisch gehalten wurde, und daß gerade sie in unsern Tagen den jungen

! Luther über den alten erhoben hat." (31) Luther sieht die Schrift durch
den occamistischen Gottes- und Gnadenbegriff hindurch. Die Gnade ist
keine res, sondern als Rechtfertigung nur die Nichtzurechnung der Sünde.
Gott läßt die Sünde weiterhin bestehen, weil er den Menschen in Demut

i und Abhängigkeit erhalten will, damit er nicht in die Grundsünde der
superbia zurückfalle. Demselben Zweck dienen die Anfechtungen. Es
gibt also keine Heilsgewißheit, ja die Heilsungewißheit ist notwendig

1 zum Heil. Weil Gott begnadigt und verwirft, wie er will, gibt es auch
keine Einwirkung des Menschen auf sein Heil durch gute Werke, son-

! dern nur die demütige Bitte um das Heil auf Grund der Erfahrung der
Sündigkeit und darüber hinaus noch Heilshoffnung auf Grund der Ge-

! wißheit, daß die Anfechtungen notwendig sind zum Heil. So entsteht
die humilitas-Theologie Luthers, bei der auch noch mystische Gedanken
mitgewirkt haben.

Auch die Römerbriefvorlesung steht noch im Zeichen dieser „zwischen-
reformatorischen" Theologie. Erst das 8. Kapitel des Römerbriefes legt