Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1934 Nr. 8

Spalte:

143-144

Autor/Hrsg.:

Müller, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Verwirklichung des Reiches Gottes 1934

Rezensent:

Seesemann, Heinrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

143

Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 8.

144

jährigen Torazyklus voraussetzen. Die babylonische
Punktation, an der das wissenschaftliche Interesse der
Schule Kahles, aus welcher die Arbeit stammt, haftet,
weist gleichfalls in den Osten. Die „kompliziert punktierten
Hss." werden nicht viel später als im 9. Jahrhundert
anzusetzen sein.

Der Verfasser hat viel Mühe an die Aufhellung des
Sinnes dieser hebräischen und des einen aramäischen
Geniza-Fragmentes, welche allesamt der „Taylor-Schech-
ter-Gollection" entstammen, gewandt und sich durch
das Studium der bisher aus Genizaschätzen veröffentlichten
Literatur dazu die Voraussetzungen beschafft.
Es scheinen ihm an Literatur nur die synagogalen
Stücke entgangen zu sein, die in den „Fragments from
the Cairo Genizah in the Freer Gollection" von Gottheil
und Worrell 1927 herausgegeben sind. Kleinigkeiten
konnte der Verfasser trotz aller Mühe nicht aufhellen
. Ein Anhang auf S. 63—69 ist veranlaßt durch
die Arbeit von Israel Davidson, Liturgical and secu-
lar poetry 1928. Zu dieser Sammlung werden eine
Reihe Bemerkungen gemacht. Ein Nachtrag, der sich
von S. 70—87 erstreckt, bringt noch 6 neue Texte
nebst nachfolgenden Bemerkungen. Ein Verzeichnis der
Gedichtanfänge S. 88, ein weiteres der benutzten und erwähnten
Genizahss. S. 89 sowie Berichtigungen S. 90
beschließen das Werkchen.

Inhaltlich stehen diese Dichtungen nicht hoch. Ihre
Bedeutung erschöpft sich darin, daß sie ältere Reste
synagogaler Poesie darstellen und bin und wieder einen
tastenden Schluß auf ursprünglichere Formen des Gottesdienstes
erlauben.

Goslar/Harz. Hugo Duensing.

Müller, Johannes: Die Verwirklichung des Reiches Gottes.

München: C. H. Beck 1933 (VII, 341 S.) kl. 8°. = Die Reden Jesu
verdeutscht u. vergegenwärtigt, 4. Bd. RM 4 —; Pappbd. 5—; Lwd. 6—.
Die ersten drei Bände von Joh. Müllers „Reden
Jesu" hat F. Niebergall in dieser Zeitschrift besprochen
(Bd. I: 1909, Sp. 419f.; Bd. II: 1912, Sp.
664f.; Bd. III: 1919, Sp. 210). Das dort Gesagte
trifft im Wesentlichen auch auf diesen vierten Band
zu. Es kommt dem Verf. hier darauf an, mit aller
Kraft zu betonen, daß das Reich Gottes keine menschliche
Idee und Religion ist (wie es in der Kirche und
Theologie nach M.'s Ansicht zumeist angesehen wird),
sondern die lebendige Wirksamkeit Gottes in uns; es
ist eine seelische Seinsweise, ein neues Wesen des Menschen
(vgl. bes. S. 72 f.). „Man merkt deutlich, wenn
man Spürsinn dafür gewonnen hat, daß man in dieses
himmlische Gespinst eingewebt wird, daß man . . . unbewußt
Dienst tut im Reiche Gottes, am meisten da,
wo man es nicht vermutet" (S. 157 f.). „In der unmittelbaren
elementaren Wiederherstellung und ursprünglichen
Verwirklichung der gesamten Menschenwelt
aus der schöpferischen Urheberschaft und Tätigkeit Gottes
besteht die Verwirklichung des Reiches Gottes"
(S. 176). — Ich habe bei vielen Deutungen M.'s Zweifel
, ob er wirklich das wiedergibt, was das N. T. sagen
will. In den meisten Fällen trägt er doch wohl seine
Gedanken und Erfahrungen (auf letztere legt er bekanntlich
den größten Wert) in die Schrift hinein. Zur
näheren Begründung darf ich dafür auf die oben erwähnten
Besprechungen Niebergalls verweisen, der denselben
Einwand erhebt. — Es nimmt bei dieser Erklärung
der Reden Jesu nicht Wunder, wenn die Thesen,
die M. ausspricht, öfters überraschen; ich führe nur ein
Beispiel an: „So sind die meisten, die dem Christentum
fernstehen, nicht fern vom Reiche Gottes, am nächsten
aber, wenn sie jungfräulicher Boden sind. Am fernsten
sind die Weisen und Klugen, die alles kennen und
besser wissen und sich ein Urteil darüber anmaßen."
(S. 254). Läßt sich der Superlativ „die meisten" im
ersten Satz wirklich rechtfertigen? Glaubt der Verf.
damit wirklich Jesus zu interpretieren? — Einem
Freunde der Gedankenwelt Müllers wird wohl auch dieses
Buch viel bieten können. Andere werden von ihm
nicht recht befriedigt sein und vieles aus dem Buch ablehnen
, auch wenn sie damit Gefahr laufen, unter Müllers
hartes Urteil zu fallen (s. o).

Göttingen. H. Seesemann.

Gulin, E.G.: Die Freude im Neuen Testament. 1. Teil: Jesus,
Urgemeinde, Paulus. Helsingfors: Akademische Buchhdlg. in Komm.
1932. (X, 293 S.) gr. 8°. RM 4.80.

Nicht auf das Wort, die Idee oder den Begriff der
| Freude kommt es dem Verf. an, sondern auf die eigen-
| artige freudige Stimmung, das frohe Lebensgefühl, wel-
' ches das Urchristentum durchflutet und auch dort zu
J spüren ist, wo nicht ausdrücklich von Freude geredet
i wird. Da diese freudige Stimmung von Jesus entzündet
! ist, stellt der 1. Teil der Arbeit den freudigen Grundzug
des Wesens und der Haltung Jesu dar. Seine Freuide
wurzelt in der Gewißheit der eschatologischen Heilsverwirklichung
. Es wird gezeigt, wie diese eschatolo-
gische Freude das ganze Sein und Wirken Jesu durchstrahlt
. — Auch die Urgemeinde zu Jerusalem (Teil 2)
war von eschatologischer Freudigkeit erfüllt. Diese erhielt
aber ihre besondere Farbe durch den pneumatischen
Enthusiasmus, der sich in Kultus und Gemeindeleben
, Wunder und Martyrium auswirkt. — Neben
der bisher geschilderten, man möchte fast sagen naivunmittelbaren
Freudenstimmung ist Paulus (Teil 3)
durch seine Temperamentsanlage, durch die Tiefe des
Bruches in seinem Leben, durch den pessimistischen
Grundzug seines Denkens und Urteilens eine andersartige
Gestalt. Den besonderen Stimmungsgehalt seines
christlichen Lebensgefühls sucht G. zu erfassen, indem
er die Hauptgesichtspunkte oder vielmehr „Komplexe"
untersucht, in deren Rahmen Paulus das christliche
Heilserlebnis beschreibt: den „dualistisch-eschatolo-
gischen Komplex", den „Rechtfertigungsikomplex", den
„Tod- und Auferstelmngs-(Imitatio)-Kornplex". Der
vierte, der „Sakramentskomplex" bleibt dagegen außer
Betracht, „weil die Freude in ihm wegen der unpersönlichen
Art seiner Heilsmitteilung keine Rolle
spielt" (?). „In striktem Gegensatz zum kultischen
Zustand der Begeisterung oder der enthusiastischen
Wunderfreude der Urgemeinde lebt Paulus in einem beständigen
geistgewirkten Freudenzustand." (In striktem
Gegensatz?). „Die Kultusfreude der Urgemeinde und
ihr pneumatischer Enthusiasmus über das Wunder sind
von Paulus in seiner Freude ethisiert worden und zugleich
wird diese ein konstantes Eigentum des Einzelnen
". (Sie wird?) „Das Loswerden von der Sünde
als Schuld wird vom Apostel nicht als eine besondere
Quelle der Freude betont". „Bei Paulus verschwindet
! das tiefe Verständnis für die Sünde als Schuld und somit
i auch für die echt soteriologische Freude der Evangelien".
! Und Röm.5,lff. u.Röm.8? „Die starke eschatologische Veran-
I kerung seiner Heilsgewißheit läßt dem Sündenbewußtsein kei-
j nen bedeutenden Spielraum übrig, wie sie auch die
! soteriologische Freude lieber in die pneumatisch-escha-
tologische Freude verwandelt." Aber — sind das im
Sinne des Paulus und des Urchristentums Gegensätze?
Wir haben Frieden mit Gott — schreibt der Apostel
! aufatmend. Und weshalb eigentlich hat er seinen Heilsbesitz
in der Form des Rechtfertigungsglaubens beschrie-
i ben ?

Derartige Monographien sind nicht immer so dank-
! bar, wie man bei der ersten Erwägung leicht meint.
| Wenn es sich nicht um gewaltige und zentrale Themata
handelt wie etwa den Glaubensbegriff, eignen sie sich
mehr für Vorträge als für Bücher. Im vorliegenden Falle
i wird jedenfalls der Teil über Paulus von dem
i über Jesus erheblich übertroffen. Im ganzen Buch aber
zeigt sich der Verf. als Exeget von großer Sorgfalt
i und umfassender Belesenheit. Einen besonders starken
Einfluß hat A. Schweitzer auf ihn ausgeübt.
Erlangen. H. Strathmann.
I----