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Ausgabe:

1934 Nr. 7

Spalte:

128-131

Autor/Hrsg.:

Kattenbusch, Ferdinand

Titel/Untertitel:

Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher 1934

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 7.

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gischen Vertreter findet, und eine rechtliche, die nach
der Meinung des Verf. vom hellenistisch-römischen
Rechte herkommt, aber wohl vielmehr nur mit jenern eine
gemeinsame Wurzel hat, so daß später die Rezeption
jenes Rechtsdenken in die Theologie keinen Schwierigkeiten
begegnet. Beide Tendenzen verschlingen sich im
Laufe der Geschichte in wechselnder Weise.

Nach Augustin ist es „nicht das objektive Geschehen
, sondern (allein) das subjektive Wollen, das
die sittlichen Werte und Unwerte begründet" (S. 26).
„Voluntas est, qua et peccatur et recte vivitur". Daneben
setzt sich aber seit dem 4. Jh. von der ttußdtszi-
plin (namentlich Kleinasiens) her im Anschluß an die
Lehre von der Todsünden eine mehr rechtliche Auffassung
von Sünde und Guthandeln durch.

Alle sexuelle Unreinheit (z. B. auch durch Pollution
und Menstruation und Vergewaltigung) wird als
Sünde angesehen, ebenso wie die unfreiwillige Tötung
dem Morde gleichgestellt wird. Diese Beurteilung
dürfte — im Anfang wenigstens — nicht so sehr dem Bedürfnis
nach strenger Bußdisziplin gegenüber der Sittenlockerung
durch die Barbareneinflüsse zuzuschreiben
sein (S. 41), sondern im Unterschiede von der psychologischen
in einer mehr ontischen Auffassung der Heiligkeit
begründet sein. Müllers kulturgeschichtliche Erklärung
dürfte höchstens für das Abendland zutreffen,
wo sich in der Bußdisziplin der Übergang von der
ethischen zur rechtlichen Betrachtungsweise vom 6. zum
9. Jh. allmählich vollzieht. Im Laufe des 9. Jh. tritt
im Westen allerdings eine starke Gegenbewegung gegen
die rein objektivistische Betrachtungsweise der Sünde
in den Bußbüchern auf, wohl vor allem vom germanischen
Rechtsempfinden her. Aber die weitere theoretische
Entwicklung ist bereits durch die Canones und
das Decretum Gratiani festgelegt. Wohl arbeiten die
Glossatoren zum Decretum Gratiani den Unterschied
zwischen ethischer und rechtlicher Imputation klar heraus
. Um aber nicht mit der Tradition in Konflikt
zu kommen, suchen sie beide in der gekünsteltsten
Weise zu harmonisieren. Auf dieser kanonistischen Beurteilung
bauen sich seit dem 13. Jh. die für die Beichtpraxis
bestimmten Summae Confessorum auf.

Neben den Kanonisten geht aber die Moraltheologie
ihren eigenen Weg. Die Theologen suchen im wesentlichen
Abälards grundlegende Einsicht weiter zu entwickeln
, daß für die Ethik die rechtliche Betrachtungsweise
ausgeschlossen werden müsse (S. 118 ff.). Freilich
ist auch die Frühscholastik, die augustinisch denkt,
geneigt, in der ignorantia des Täters insofern eine Schuld
zu sehen, als sie in der Erbsünde begründet sei (S.
167 f.), eine Anschauung, die freilich nach der Meinung
des Verf. grundfalsch ist. Den eigentlichen Fortschritt
sieht er vielmehr in der aristotelischen Willenslehre
des hl. Thomas. Thomas will den sittlichen Wert
der Unwissensheitssünde beurteilt wissen nach den vorangehenden
oder nachfolgenden Affekten des Wünschens
und Verabscheuens, bezw. der Reue oder der nachträglichen
Freude. Thomas nimmt ferner eine Schuld des
Täters an bei selbstverschuldeter Unwissenheit über das,
was der Täter wissen konnte und mußte. Aber die
eigentliche Vollendung der Lehre von der Imputation
findet sich nach der Meinung des Verf. erst in derjenigen
Weiterbildung der thomistischen Willenslehre,
die im 16. Jh. Gajetan und die Schule von Salamanca
vornahmen. Hier unterscheidet man bei der ignorantia
conoomitans zwischen den vorangehenden verwerflichen
Affekten und der sittlich neutralen Tat. Ich möchte
hier im Gegenteile die völlige Preisgabe augustinischer
Einsichten zugunsten einer reinen Aktualitätspsychologie
sehen.

So aufschlußreich die Untersuchungen des Verf. sind,
hier zeigt sich eben, daß jeder umfassenden theologie-
geschichtlichen Untersuchung durch den konfessionellen
Standpunkt des Verf. eine Grenze gezogen ist. Denn
die vorliegende Untersuchung hätte, um das geschichtliche
Problem wirklich allseitig zu erfassen, die Theologie
der Reformatoren mit heranziehen müssen, bei
denen ja das neue Verständnis der augustinischen Willenslehre
(Unterscheidung von aktuellem Wollen und
Wesens- oder Personwillen, Identität von Täter und
Adam) die Grundlage der Sünden- und Rechtfertigungs-
i lehre bildet. Dann wäre freilich auch deutlich gewor-
j den, daß die Weiterbildung des Problems nicht so einfach
in den Bahnen der Nachscholastik erfolgen kann,
wie der Verf. meint. Eine fruchtbare Behandlung des
Problems ist heute für katholische wie für evangelische
Theologen nur in einer dialektischen Auseinandersetzung
zwischen Reformation und Nachscholastik möglich.
München. Otto Piper.

Kattenbusch, Prof. D. Dr. Ferdinand: Die deutsche evangelische
Theologie seit Schleiermacher 1. Teil: Das Jahrhundert
von Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg. 6. Aufl. 2. Teil:
Zeitenwende auch in der Theologie. Gießen: A. Töpelmann 1934.
(XI, 156 u. 80 S.) gr. 8°. 1. Tl. RM 4.20; 2. Tl. 2—.

Wenn der hochbejahrte und hochverdiente Altmeister
unserer mehr oder weniger auch gelehrten Zunft der
theologischen Systematiker bei dem flotten Tempo, das.
I seine literarische Produktion immer noch inne hält,
schon wieder eine 5 Bogen starke auf der Höhe theologischer
Einsicht und Gelehrsamkeit stehende Arbeit
hat veröffentlichen können, so ist das eine willkommene
Gabe, zu deren Vollendung wir ihm ebenso Glück wünschen
, wie ihm für sie dankbar sein dürfen. Es ist
der neu hinzukommende zweite Teil des aus einem Vortrag
(1892) allmählich hervorgewachsenen Buchs, dessen
jetzt in 6. Auflage mechanisch reproduzierter erster
Teil nunmehr den Untertitel „Das Jahrhundert von
Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg", eine neue Vorrede
und eine dem Andenken Martin Kählers geltende
Widmung erhalten hat. Der Sondertitel des zweiten
Teils, der (nicht etwa mit einem Fragezeichen versehen)
„Zeitenwende auch in der Theologie" lautet, steht in
Beziehung zu dem ungeheuren Umschwung, den unser
deutsches Volk nicht allein in seiner politischen, sondern
in seiner gesamten geistigen Haltung dank dem Genie
Hitlers und der gewaltigen Stoßkraft seiner begeisterten
Gefolgschaft seit einem Jahre zu durchleben das
Glück hat (vgl. S. 4). Darauf nun, daß die nationale
„Zeitenwende" sich gegenüber den deutschen evangelischen
Kirchen bisher nur erst in der diese straff vereinheitlichenden
neuen Organisation ausgewirkt hat, geht
K. nicht näher ein, da sein Thema nicht von kirchenhistorischer
Art sei. Den „deutschen Christen" aber,
deren eigentlich theologische Interessen ja auch erst
wenig durchsichtig sind, kommt er soweit entgegen,
daß er es für eine theologische Aufgabe hält, „den Gedanken
des Gottesvolkes in seiner irdischen Art
von, daß ich so sage, Provinzialisierung, je nach der
Art der Völker, erfassen zu lernen" (S. 18). Andererseits
wehrt er das Verlangen mancher von ihnen nach
! „einer Ausschaltung des A. T's. aus dem kirchlichen
! Brauch" als unzulässig ab (S. 20).

Nun ist es ja möglich und, wie ich meine, auch dringend
zu wünschen, daß sich infolge der durchgreifenden
inneren Erneuerung, die das deutsche Volk dereinst einmal
dem Nationalsozialisinus zu danken haben wird,
| auch der evangelischen Theologie wieder packende reli-
: giöse Ideen aufdrängen werden, durch deren Vertretung
i die Kirche die ihr entfremdeten Kreise unseres Volkes
I auch innerlich wieder gewinnen könnte. Da aber noch
I immer nur erst die in ihr schon bisher vorherrschenden
i theologischen Bestrebungen lebendig sind, so hat K.
doch bloß an diese denken können (vgl. S. 3), wenn er
seinem zweiten Teil den Namen Zeitenwende gab. Soweit
freilich von einer solchen in Beziehung auf die
neueren theologischen Unternehmungen indertat geredet
j werden kann, erscheint sie mir als grundlegend bedingt
durch den tiefen Eindruck der deutschen Niederlage
von 1918 und ihrer entsetzlichen Folgen. Denn vor
I allem "der hierdurch bewirkte seelische Druck spiegelt