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Ausgabe:

1934 Nr. 6

Spalte:

103-104

Autor/Hrsg.:

Moeller, Kurt D.

Titel/Untertitel:

Hamburger Männer um Wichern 1934

Rezensent:

Strasser, Ernst

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103

Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 6.

104

Weiterhin wird das gesamte Gebiet der jüdischen Kultur
berücksichtigt. Dabei mußte auch auf die Stellung
des Königstums zu den Juden Wert gelegt werden.
Damit ergibt sich dann der dritte Gesichtspunkt der
Stoffsammlung: das Verhältnis zwischen Christen und
Juden überhaupt. In der Bearbeitung dieses Materials
liegt auch die besondere Bedeutung der Sammlung für
den Religions- und Kirchenhistoriker. Reichhaltiges Material
findet sich vor allem über die Verfolgungen.
Es ist sehr dankenswert, daß Baer gerade hier auch
anderswoher Stoff zusammengetragen hat. So erhalten
wir einen umfassenden Einblick in den Hostienprozeß
von Barcelona 1367 und in die im Mittelpunkt dieses
Bandes stehende große Judenverfolgung von 1391 (S.
653—703). Die Verfolgung, die in Sevilla ihren Ausgang
genommen hatte und sich über ganz Spanien erstreckte
, fiel in Aragonien in die Regierungszeit Juans I.,
der eine sehr sachliche Judenpolitik trieb. Er ließ den
Juden, wo er konnte, Schutz angedeihen und befahl, man
solle sie nicht zur Taufe zwingen, „denn wenn sie sich
nicht freiwillig bekehren, so wird der Irrtum schlimmer
als vorher" (Nr. 417). Er war sehr aufgebracht
darüber, daß man das Gerücht verbreitete, daß ihm die
Ausschreitungen „nicht mißfielen" (Nr. 434). (Das Jahr
1391 galt übrigens später als das Stichjahr: wer nach
diesem Jahr Christ geworden war, wurde nicht mehr
zu den „alten Christen" gerechnet, ein Ehrentitel, auf
den im wesentlichen der Stolz des alten Spaniers beruhte
). Die Urkunden aus dieser Verfolgungszeit, sowie
einige zufällig erhaltene hebräische Briefe (Nr. 456a,
469—471, 602) leiten hinüber in die Zeit der großen
vom Papst ausgeschriebenen Disputation von Tortosa,
die 1413/14 in 68 Sitzungen stattfand. Das Material
dieses Religionsgesprächs wird von Baer gesondert herausgegeben
und behandelt werden. Was der Band noch
sonst aus dem 15. Jahrhundert hereinbringt, ist wesentlich
spärlicher, es soll nur provisorischen Charakter
tragen. Hinzu kommt, daß die Juden im 15. Jahrhundert
aus dem öffentlichen Leben mehr und mehr
zurücktreten. Über die Judenpolitik Ferdinands IL, der
1479 das Königreich von Aragon erbte, findet sich
ebenfalls nur weniges im Generalarchiv von Barcelona.
Wir erfahren, daß der König 1484 den aragonischen Beamten
befiehlt, die Juden auf Wunsch des Inquisitors
zu Aussagen zu zwingen (Nr. 561); 1486 werden die
Juden von Saragossa vertrieben (Nr. 563). (1483 war
die „Suprema" begründet worden, die unter der Leitung
des Großinquisitors Torquemada stand). Über diese
Zeit werden die kastilischen Archive zu sprechen haben,
insbesondere die Bestände des nationalen Archivs für
Geschichte in Madrid, in welchem sich auch die kirchlichen
Archive mit den Inquisitionsakten befinden.

Für Navarra ist hauptsächlich das im Generalarchiv
in Pamplona liegende Material herangezogen worden.
Besonders überraschend ist ein Fund hebräischer Dokumente
, die wahrscheinlich aus den jüdischen Gemeindearchiven
stammen. Sie sind umso wertvoller, als im
allgemeinen die jüdischen Gemeinde- und Privatarchive
der Vernichtung anheimgefallen sind.

Es wäre nur zu wünschen, daß diese Sammlung,
sowie die Arbeit über die Disputation von Tortosa von
Baer fortgesetzt werden könnte. Mit dem vorliegenden
Band ist ein Werk begonnen, auf das alle künftige historische
Arbeit wird zurückgreifen müssen.

Leipzig. Otto von H a r 1 i n g.

Möller, Kurt Detlev: Hamburger Männer um Wichern. Ein

Bild der religiösen Bewegung vor hundert Jahren. Hamburg: Agentur
des Rauhen Hauses 1933. (160 S.) gr. 8° geb. RM 3.75.

Ein sympathisches Buch! Auf geschichtlichem Wege,
aus Briefen, Urkunden und zeitgenössischer Literatur
zusammentragend, stellt uns der Verfasser hinein in die
Umwelt Wicherns. Es wird uns an Hand dieses Buches
klar, wie Wichern nicht als ein Einsamer unter Fremden
aufgewachsen ist, daß er vielmehr der Auseinander-

! setzung und Verbindung mit verschiedenen Männern
| — und doch auch wohl Frauen — seiner nächsten Um-
i gebung Bestes verdankt. Dieser Werdegang wurde we-
j sentlich gefördert durch die eigenartige Kulturgemeinschaft
, wie sie Alt-Hamburg war. Möller malt uns
gewissermaßen das Unterholz, aus dem die überragende
Eiche hervorgewachsen ist. Dabei fällt besonders für
den, der die Hamburger Stadtgeschichte liebt, mancherlei
Interessantes ab. Persönlichkeiten treten vor
uns hin, die jede in ihrer Art für die Hamburgische
j Stadtgemeinschaft von Bedeutung gewesen ist. Aus verschiedensten
Kreisen setzt sich die Schar zusammen, mit
denen Wichern geistlich verbunden Gedankenaustausch
| gepflogen hat: Geistliche, Künstler, Juristen, Professoren
, kleine Beamte und Senatoren. Wir nennen unter
ihnen nur einige wie die Pastoren Rautenberg, Wolters,
John, Rentzel, Willerding, die Maler Erwin Speckter
und Julius Milde, den Syndikus Dr. Sieveking, den Direktor
Gurlitt, Bibliothekar Hartmann, Oberlehrer Pluns,
Lehrer Nürnberg, Oberpostsekretär Hachtmann und
nicht zuletzt den bedeutenden Senator Hudtwalcker, bei
dessen Lebensgang und Persönlichkeitsdeutung Möller
mit besonderer Liebe verweilt. Das, was diese Menschen
kennzeichnet, ist ihr „Erwecktsein" für die Botschaft
: des Evangeliums oder auch ihr Widerspruch gegen diese
! Erweckung, aus der heraus Wichern das Rauhe Haus
| gründete und ausgestaltete. Charakteristisch für diese
Erweckung ist nicht ein Widerspruch gegen die KuÜ
tun Vielmehr beweist Möllers Buch, daß diese Erweckung
lauter Männer von starkem Kulturwillen zu
ihren Trägern hatte. Auch in diesem Punkte scheint
mir der lutherische Charakter der Bewegung um
und mit Wichern auf eigentümliche Weise deutlich zu
werden.

Der Verfasser hat seinem Buch einige Beilagen angeheftet
(Die Propositionen auf der Gründungsversamm-
J lung des Rauhen Hauses; Wicherns Rede auf der Grün-
I dungsversammlung; Wicherns Gutachten über den Bürgerhof
) und damit die Wichernforschung bereichert. Die
Lesung des Buches wird durch die sinnige Art der Darstellung
und gelegentlich eingestreute Urteile allgemein
menschlicher Art in willkommener Weise abwechselungsreich
. Eine Wiedergabe eines Aquarells von Hermann
Haase (Das alte Rauhe Haus) leitet das Buch
künstlerisch ein.
j Hildesheim. E. Strasser.

Bauch, Prof. Dr. Bruno: Anfangsgründe der Philosophie. 2.,

verb. Aufl. Leipzig: F. Meiner 1932. (132 S.) 8°. RM 2.40.

Philosophie volkstümlich zu machen ist ein schwieriges
, vielleicht unmögliches Unternehmen; philosophisches
Denken der Allgemeinheit zugänglich zu
machen, ist trotzdem eine Notwendigkeit. Bruno Bauch
hat die so entstehende Aufgabe in den Grenzen ihrer
i Möglichkeiten ansprechend gelöst. Er weckt den Zwei-
! fei an der Möglichkeit des Erkennens, um diesen Zwet-
! fei im platonischen Sinne zu lösen: Die Leugnung der
; Wahrheit setzt bereits ihre Anerkennung voraus. „Wie
'< immer man sich also winden und wenden mag, um die
{ Wahrheit zu leugnen, immer hebt solche Leugnung sich
selber auf."

Vierfach sind nach Bauch die Stufen des Erkennens,
in dem der Mensch vom Zweifel zur Gewißheit aufsteigt
. Natur, Materie, Atome, materielle Kräfte erscheinen
als Wirklichkeit in unserer Wahrnehmung; aber
sie sind nicht das Ganze und das Letzte. Die 2.
Stufe der Erkenntnis führt sie auf elementare Kräfte
als ihre Bedingung zurück. Auf der 3. Stufe der Erkenntnis
erscheint die Wirklichkeit in das Reich des
Gedankens erhoben; in Gesetzlichkeiten wie Raum, Zeit
und Zahl usw. wird die Wirklichkeit der elementaren

| Kräfte erfaßt. Aber erst auf der 4. Stufe, die zwischen
psychologischem und kritischem Denken unterscheidet,
wird die Objektivität gewonnen, die das Erkennen der

; subjektivistischen Isolierung entzieht.