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Ausgabe:

1934 Nr. 4

Spalte:

75-79

Autor/Hrsg.:

Piper, Otto A.

Titel/Untertitel:

Die Grundlagen der evangelischen Ethik 1934

Rezensent:

Köberle, Adolf

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 4.

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Bände, die man nur mit Spannung erwarten kann, schon
die Erfüllung dieses Wunsches.

Heidelberg. J. Wagen mann.

Piper, Otto: Die Grundlagen der evangelischen Ethik. I. u. II.

Band. Gütersloh: C. Bertelsmann 1928 u, 1930. (XXIX, 371 u. XVI,
422 S.) gr. 8°. I. Bd. geb. RM 14—; II. Bd. RM 13.50; geb. 15.50.

In zwei sehr ausführlich gehaltenen Vorworten orientiert
der Verfasser den Leser, welche inhaltlichen und
methodischen Anliegen ihn bei der Niederschrift seiner
umfangreichen Arbeit entscheidend bestimmt haben.
Die evangelisch-theologische Ethik soll herausgerissen
werden aus der Gefolgschaft und Abhängigkeit der philosophischen
Ethik, wie sie sich unter dem Einfluß
von Kant immer weitergehend entwickelt hatte. Wie
gegenüber der Philosophie und ihrer apriorischen Begründung
der ethischen Werte gilt es die evangelische
Eigenart ebenso streng aber auch zu wahren gegenüber
dem Katholizismus, der auf Grund sehr weitreichender
Fachkenntnisse von Piper als Gesprächspartner immer
wieder herangezogen wird. Das Ganze der Untersuchung
sieht bewußt von der Erörterung praktischer
Einzelfragen ab. Die Notwendigkeit einer erneuten
Durchdenkung solcher Probleme wird in ihrer Bedeutsamkeit
für die evangelische Kirche in keiner Weise
bestritten, aber es wird mit Recht erklärt, daß ohne
die ständige Besinnung auf die Wesensgrundlagen des
gläubigen Handelns all solche Bemühungen hemmungslos
den Zeittendenzen verfallen müssen. Seiner innersten
Wesensstruktur nach bekennt sich Piper nachdrücklich
als Vertreter des sogenannten Neurealismus. Das
bedeutet für ihn Kampf gegen die griechische Metaphysik
, gegen Nominalismus und Neukantianismus, Abneigung
gegen alle intellektualistische Gedankenblässe
und jeden dualistisch gestimmten Spiritualismus, wobei
freilich gefragt werden kann, ob es ihm wirklich
schon gelungen ist, den Feind im eigenen Haus
völlig zu vertreiben. Auf alle Fälle spürt man überaus
wohltuend immer wieder das Ringen, die künstliche
Zerreißung des Menschen in ein Natur- und Geistwesen
zu überwinden, die kosmische Tragweite der Offenbarung
ernst zu nehmen und die sittliche Verantwortung
des Menschen auszudehnen auf sein gesamtes Verhalten
gegenüber Mensch, Kreatur, Natur, Geschichte
und Weltenschicksal.

In der methodischen Anlage wird der induktive
Weg gewählt. Die lebendige Gesprächsanknüpfung an
die Philosophie der Gegenwart empfiehlt und rechtfertigt
ein solches Vorgehen sicherlich, nur wäre das ganze
Werk jedenfalls sehr viel einheitlicher und übersichtlicher
geworden, wenn die philosophische Anthropologie
und Ontotogie der sittlichen Werte gleich zu Anfang
im Zusammenhang vollständig zur Darstellung gekommen
wäre, ehe zum christlichen Menschenverständnis
und evangelischen Glaubensgehorsam übergegangen
wird. So geht es nun beständig her und hin. Zuerst
erfolgt eine rein phänomenologische Beschreibung des
Ich. Es wird unterschieden zwischen der transzendentalen
Individualität des aktuellen Ich und der empirischen
Ichheit, der Leib und Seele zugeordnet wird.
Es folgen Untersuchungen über das Verhältnis von
Körperlichkeit und Personhaftigkeit, von Gattung und
Individuation, von Ich und Umwelt. Daran schließt
sich, noch ehe von Schöpfung, gefallener Welt, Offenbarung
und Erlösung theologisch recht gesprochen worden
ist, unmittelbar die Deutung der gläubigen Reue,
die ein personaler Akt des transzendentalen Ich ist.
Später kommen dann wieder sehr breite Analysen der
autonomen ethischen Werte, ausführliche Beschreibungen
der natürlichen Bedingungen unseres Handelns, an
die sich wieder theologische Bestimmungen und pneumatische
Wertsetzungen von der Offenbarung her anreihen
. Es geht einem bei der Lektüre dieses zweibändigen
Werkes darum ähnlich wie beim Anhören einer
Bruckner'sehen Symphonie. Das Thema wird aufgenommen
und wieder fallen gelassen, nach einiger Zeit kehrt
es wieder und abermals wieder, immer breiter und
weiter ausgesponnen, auch hier bei Piper wahrhaftig
nicht ohne Größe und Tiefe, aber die Lektüre erfordert
bei einer solchen Art der Entfaltung einen langen Atem
und viel Geduld und Versenkung. Innerhalb der ausgesprochen
theologischen Abschnitte, die nach Umfang
und Wert durchaus das Schwergewicht des Buches bit
den, läßt sich dann ebenfalls noch einmal eine gewisse
Ordnung beobachten, indem Bibelautorität, Traditionsreichtum
und persönliches Glaubenszeugnis beständig
ineinander greifen und sich gegenseitig stärken und stützen
müssen. Besonders wird gegen die Unterschätzung
des kirchlich überlieferten Erbgutes gekämpft und vor
der Überschätzung des Einzelich in der Frage des Wahrheitsergreifens
gewarnt. Persönlich bekennt sich der
Verfasser zum Erbe des lutherischen Konfessionalismus,
mit dem er sich vor allem um des theologischen Realismus
willen nah verbunden weiß. Dem Leser drängt sich
daneben mindestens ebenso stark die zwar nicht ausdrücklich
bezeugte Gemeinschaft mit dem schwäbisch-
theosophischen Biblizismus auf.

Die Schlüsselstellung zu Pipers theologischer Ethik
ist seine Mächtelehre. Wer diese Anschauung nicht
| teilt, wer sich zu ihr nicht durchfinden kann, wer den
gewaltigen Ernst solcher kosmischen Hintergründe nicht
zu erfassen vermag, für den muß das ganze Werk in
hohem Maß ärgerlich, dunkel und unverständlich bleiben
. Wer hier mitgehen kann und gepackt wird, für
den bedeutet die Lektüre eine starke innere Anregung
und Vertiefung der sittlichen Verantwortung. Piper steht
auf das stärkste unter dem Eindruck der verunreinigten,
verdorbenen, zerbrochenen Schöpfung. Die ursprüngliche
Herrlichkeit der geschaffenen Werke ist dahin.
Dieser Verlust ist auf eine für uns unbegreifliche Weise
geschehen. Wir können davon nur mythisch, urge-
schichtlich, vorgeschichtlich reden. Seitdem steht die
Welt unter der Herrschaft der Mächte: Phthora, Ens,
Hybris, Ananke, Penia, Hamartia, Thanatos. Es wird
darauf verzichtet, diese Mächte auf ein einheitliches
Prinzip (Teufel) zurückzuführen. Aber es wird deutlich
gesagt, daß sich hier etwas manifestiert, was im
Gegensatz zu der ursprünglichen Schöpfung Gottes steht.
Diese Mächte herrschen über die Welt, sie bringen
Krankheit, Leid, Zwietracht, Chaos, Tod und Verderben
über die Menschheit und über die Erde. Der natürliche
Mensch steht völlig unter ihrer Herrschaft, er kann
ihnen gar nicht ernsthaft widerstreben, er muß ihre
Knechtschaft erdulden, wenn auch freilich nicht ohne
persönliche Schuldverantwortung.

Piper kommt damit an den dämonischen Realismus
des Neuen Testaments ganz nah heran. Es ist bedauerlich
, daß er gerade an dieser Stelle nicht versucht hat,
I seine Zentralanschauung von Jesus und Paulus her zu
j unterbauen. Nicht recht klar wird, warum gerade ein
solches theologisches Denken, wie es uns hier begegnet
, sich weigert mit dem Dasein eines Fürsten und
j Herrn dieser Mächte zu rechnen. Wer so realistisch
I von der Herrschaft der Finsterniskräfte zu reden weiß
und wagt, von dem möchte man annehmen, daß auch
j für ihn, wie es bei Luther der Fall war, der „Tat*
j felsglaube" konstitutiv sein würde. Bedenken erregt,
I ob es möglich ist, die Macht Hamartia anderen Mächten
wie „Übermut, Zwietracht, Selbstüberschätzung, Mangel
, Vergänglichkeit" als gleichentsprechendes Glied
j einfach zuzuordnen. Ist es nicht vielmehr so, daß die
I Macht Hamartia in irdischen und überirdischen Reichen
die Urmacht der Empörung gegen Gott schlechthin
j ist, aus der alle anderen Verderbensmächte erst als gif-
i tige Frucht hervorbrechen, so wie wir doch auch ge-
| wissensmäßig immer wieder die innere Vorordnung der
Sünde vor Übel und Leid erfahren und anerkennen
j müssen. An einigen Stellen schießt Piper zweifellos
über das Ziel hinaus, wenn er selbst die Erzeugung
von Zeit, Materialität und Individuation als Werk der