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Ausgabe:

1934 Nr. 1

Spalte:

22

Autor/Hrsg.:

March, Hans

Titel/Untertitel:

Der religiöse Sinn der sexuellen Krise 1934

Rezensent:

Neumann, Johannes

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 1.

22

handelt Zimmers Erziehungslehre, in der besonders individuelle Erziehung
, Selbsterziehung und Selbsttätigkeit gefordert werden. (Arbeitsschule
). Nach seinem Tod im Jahr 1919 ist seine zweite Gattin Gertrud
geb. Berger, früher Leiterin des Luisenhauses, die treue Verwalterin
seines Erbes. Mit der Inschrift seines Grabsteins, „Sein Werk lebt",
schließt hoffnungsvoll das hochinteressante, wertvolle Buch, dem man
•viele Leser, namentlich auch unter den berufsmäßigen Erziehern wünscht.
Halle (Saale). Wilhelm Usener.

Gunz, Dr. rer. pol. Johanna: Sozialismus und Religion im
Deutschland der Nachkriegszeit. München : Dunker & Humblot
1933. (VII, 125 S.) gr. 8°. RM 5—; geb. 6.50.

Die Verfasserin geht davon aus, daß ein Bedürfnis
nach einer Durchdringung des Sozialismus mit christlichen
Ideen und umgekehrt der Religion mit sozialistischen
Anschauungen besteht. Nur durch eine Vereinigung
von Religion und Sozialismus werden beide die
Krise überwinden können, in die sie geraten sind. Daß
die Vereinigung trotz der ablehnenden Haltung der offiziellen
Instanzen möglich ist, beweisen die englischen
Verhältnisse. Für den Marxismus ist die Annäherung
an die Religion schwieriger. Denn Marx' Religionsfeindschaft
ist nicht ein aus dem bürgerlichen Liberalismus
{Feuerbach, Bauer) übernommenes Ressentiment; Marx
hat die Bekämpfung der Religion vielmehr neu begründet
und dadurch erst politisch wirksam gemacht. Jedoch enthält
der Marxismus ein aus dem jüdischen Prophetismus
stammendes, von Marx selbst geleugnetes religiöses
Moment. Diese religiöse Kraft muß unwirksam werden,
wenn sie nicht bewußt herausgehoben und vertieft wird.

Die Verfasserin gibt dann einen Überblick über die
wichtigsten Versuche zur „Vereinigung von Keligion und
Sozialismus" auf dem Boden des Katholizismus, des
Protestantismus und auf allgemein religiöser Grundlage
(De Man). Die Darstellung ist ausgezeichnet durch
Klarheit und gründliche Durcharbeitung der reichhaltigen
Literatur. Doch trägt sie nicht genügend dem Umstand
Rechnung, daß „Religion" und „Sozialismus" nicht fest-
umrissene Größen sind, die „vereinigt" oder „angenähert
" werden könnten, daß beide vielmehr in ihrer Mannigfaltigkeit
und Dynamik begriffen werden wollen. Es
muß zu schiefen Urteilen führen, wenn die Arbeit Steinbüchels
, Beyers und Mertens'; Ragaz' und Barths; des
Bundes religiöser Sozialisten und des Tillich-Kreises und
schließlich De Mans unter dem Gesichtspunkt betrachtet
wird, wieweit sie zur Vereinigung von Religion und Sozialismus
dienen kann. Was diese Männer und Bewegungen
leisten wollen und können, ist, auch im Hinblick auf
das Problem Religion und Sozialismus, so verschiedener
Natur, daß es unmöglich nach ein und demselben
Maßstab gemessen werden kann.

Auch im Einzelnen sind manche Urteile fragwürdig.
So etwa die Behauptung, der reine Calvinismus sei „mit
dem Sozialismus unvereinbar". Deshalb bestehe auch
zwischen Sozialismus und dialektischer Theologie „keine
Möglichkeit des Zusammenwirkens" (75). Als Grund
dafür wird die „statische Weltbetrachtung" des Calvinismus
geltend gemacht. Allerdings wird für einen durch
den Calvinismus und die dialektische Theologie bestimmten
Christen vieles in der heute vorherrschenden Begründung
des Sozialismus gerade hinsichtlich des Zutrauens
zur unbedingten Sinnhaftigkeit der geschichtlichen Entwicklung
völlig unannehmbar sein. Dadurch ist jedoch
nicht ausgeschlossen, daß ein solcher Christ auf Grund
einer konkreten politischen Entscheidung Sozialist sein
kann.

Weiter: es mag richtig sein, daß die Lehre Tillichs j
wegen der Schwierigkeit ihrer Gedanken und ihrer Sprache
für die Massen nicht leicht fruchtbar gemacht werden
kann. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sie deshalb
für die Aufgabe der „Vereinigung von Religion und
Sozialismus" ungeeignet ist, sondern nur dies, daß sie !
bei dieser Aufgabe nur eine ganz bestimmte Funktion
wird erfüllen können: die der Klärung und Wegberei- i
tung. Der Vorwurf, in den Gedanken Tillichs wirke sich j
„das Lähmende, zum quietistischen Hände-in-den-Schoß- I

Legen Führende des Prädestinationsglaubens" aus (102),
verkennt das echt religiöse Paradox des Prädestinationsglaubens
. Wenn Tillich verlangt, der Mensch müsse sich
innerlich frei machen für eine Schicksalstatsache, dann
bedeutet das letzten Einsatz. Denn bereit sein ist alles!

Es handelt sich bei der „Vereinigung von Religion
und Sozialismus" um eine so schwierige und umfassende
Aufgabe, daß sie niemals von einem Einzelnen oder auch
einem einzelnen Kreis erfüllt werden kann. Es werden
von den verschiedensten Seiten aus und in verschiedenster
Weise Beiträge zu dieser Aufgabe geleistet werden
müssen. Es wäre wünschenswert, daß diese Verschiedenartigkeit
schärfer herausgearbeitet würde. Wenn sie erst
erkannt wäre, könnten vielleicht manche Mißverständnisse
zwischen den Vertretern verschiedener Richtungen
überwunden werden.

Freilich stehen wir heute auch in der Frage Religion
und Sozialismus vor einer völlig veränderten Situation
. Doch wird es für jeden, der die Dringlichkeit der
Frage sieht, unerläßlich sein, sich mit den bisherigen
Versuchen eines wie auch immer gearteten religiösen
Sozialismus gründlich vertraut zu machen. Dazu bietet
die vorliegende Studie vor allem durch das gründliche
theologische Durchdenken der Probleme eine ausgezeichnete
Anleitung.

Eidinghausen, Kreis Minden._Wilhelm Schümer.

March , Dr. H.: Der religiöse Sinn der sexuellen Krise. Leipzig :
E. Pfeiffer 1930. (46 S.) 8°. = Kleine Schriften z. Menschenkenntnis
u. Seelsorge. In Verbdg. m. a. hrsg. v. W. Gruehn, 3. H.

RM 2.50.

Der bekannte psychoanalytische Arzt und religiöspsychotherapeutische
Schriftsteller bietet hier eine gediegene
Studie auf breiter biologischer und soziologischer
Basis. (Ausführliche Besprechung der russischen
Eheverhältnisse.) Es ist March zuzustimmen, daß die
sexuelle Krise letzten Endes Symptom einer Krisis des
Glaubens ist.

Gießen._Johannes Neu mann.

Frey, mag. theol. H.: Ein Menschenschicksal. Versuche einer
seelsorgerlichen Analyse mit anschließender Seelenführung. Leipzig: E.
Pfeiffer 1931. (42 S.) 8°. = Kleine Schriften z. Menschenkenntnis u.
Seelsorge. In Verbdg. m. a. hrsg. v. W. Gruehn, 2. H. RM 3—.

Verfasser rollt das Schicksal und Charakterbild eines
außerordentlich schwer verwahrlosten jungen Mannes
auf in exakter Durcharbeitung und mit feinsinnigem
psychologischem Verständnis. Methodisch sucht Vf. yon
allen Richtungen zu lernen, prakt. ist seine Arbeit eine
Kombination der Individualpsychologie Adlers mit Anregungen
Gruehns (Wertpsychologie, Schichtenanalyse).
— Vf. glaubt „Lücken in der individualpsychologischen
Deutung" durch „Ergänzung durch die Wertpsychologie
füllen zu müssen". Wie bei vielen theologischen, aber
auch mediz. Publikationen, die ihre Kenntnis der Psychotherapie
lediglich aus der Literatur beziehen, statt
aus eigener praktischer Erfahrung bei einem Psychotherapeuten
, greift auch Vf. vorbei an der ganz konkreten
ind. psychol. Arbeit, die nicht stehen bleibt bei den
„groben Umrissen der Adlerschen Deutung" S. 21 und
keineswegs nur „Anamnese und Aufklärung" S. 23 ist.
Vf. weiß offenbar nicht, wie die tägliche Analyse und
Richtunggebung in der konkreten Situation, die Entfaltung
des Gemeinschaftsgefühls der Weg der Ind. Psych,
ist. Er würde damit weiter kommen als mit seinen
praktisch noch unzureichenden Mitteln. (Das Ergebnis
der Seelenführung erfahren wir auch nicht!) Vf.
hat das Zeug zu einem Psychotherapeuten, er bedürfte
praktischer Schulung.
Gießen.___Johannes Neumann.

Hutten, Kurt: Kulturbolschewismus. Eine deutsche Schicksalsfrage
. Stuttgart: W. Kohlhammer 1932. (IV, 124 S.) 8°. RM 2.50.
Die Schrift, flott und flüssig geschrieben, getragen
von Leidenschaft für die Sache, hat apologetischen Charakter
. Kulturbolschewismus sind nicht nur die in Verbundenheit
mit dem marxistischen Sozialismus auftreten-