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Ausgabe:

1934 Nr. 21

Spalte:

388-389

Autor/Hrsg.:

Schröder, Christel Matthias

Titel/Untertitel:

Christentum und völkische Religiosität 1934

Rezensent:

Nöldeke, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 21.

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kanntlich keine andere als sittliche Sünde gelten lassen
wollte, als inteliigibele Abkehr von Gott, die durch den
Mythus von Adams Fall verzeitlicht wurde, („das Metaphysische
in principio wird zu einem inprincipio
als zeitlichen Anfang"). Andererseits ist Ottos Theorie
sehr geeignet, um die christliche Idee der „Verlorenheit
", die Paulus und Augustin aufgestellt
und Luther in ihrer Nachfolge vertreten hat, von Unmöglichkeiten
, die sich bei Augustin, bisweilen auch
bei Luther damit verbinden, zu befreien. Wenn die Verlorenheit
religiös gemeint ist, dann hat man nicht
nötig mit Augustin eine verkrampfte und unwahre Apologetik
zu treiben, die alle Tugenden der Heiden für
glänzende Laster erklärt, sondern kann mit urgesunden,
erfrischenden Äußerungen Luthers die Tugenden großer
Männer der Antike unbefangen anerkennen. Es ist sehr
richtig und geradezu entscheidend, wenn Otto betont,
daß diese Idee der Verlorenheit überhaupt kein sittliches
Urteil enthält, sondern nur verstanden werden kann als
nachträgliche Betrachtung eines Glaubens, der in der
innigsten Gottesliebe alle Seligkeit und in ihrem Entbehren
alle Verlorenheit erblickt. Das wird am schönsten
deutlich durch die Strophe eines Liedes von Angelus
Silesius: „Ach daß ich dich so spät erkennet, du hochgelobte
Schönheit du, und dich nicht eher mein genennet
, du höchstes Gut und wahre Ruh! Es ist mir
leid und bin betrübt, daß ich so spät dich hab geliebt."
Noch deutlicher redet die folgende Strophe: „Ich lief
verirrt und war verblendet, ich suchte dich und fand dich
nicht; ich hatte mich von dir gewendet und liebte das
geschaffne Licht; nun aber ist's durch dich geschehen,
daß ich dich endlich hab erseh'n" („Ich will dich lieben"
Strophe 3 u. 4).

Mit dem zuletzt Gesagten wird deutlich, daß auch
Luthers Glaube nicht ohne Mystik zu verstehen ist und
daß jede tiefe Frömmigkeit „mit einem vollen Tropfen
mystischen Öles gesalbt ist". Luthers Glaube ist nicht
nur confidere Deo, sondern auch adhaerere Deo. Deshalb
ist es sinngemäß, daß Otto nicht nur den Einfluß
der Mystik auf Luthers Rechtfertigungslehre erörtert,
sondern überhaupt mystische und gläubige Frömmigkeit
vergleicht und an typischen Gestalten erläutert, unter
denen E k k e h a r t1 weitaus hervorragt. Der Einfluß
auf Luther tritt bekanntlich in der Schrift von der christlichen
Freiheit besonders deutlich hervor. Er zeigt sich
in den tiefen Ausführungen über die Verbindung der
gläubigen Seele mit dem Herrn Christus. Es ist aber
doch nicht zu verkennen, daß mystische Gedanken dem
Reformator gleich im Anfang das Konzept erheblich verrücken
. Die christliche Unfreiheit soll doch im Anschluß
an Paulus als freiwillige Dienstbarkeit gegenüber dem
Nächsten geschildert werden, so daß die im Eingang
aufgestellte Paradoxie von Freiheit und Dienstbarkeit
sich dahin vollendet, daß die höchste Freiheit sich in der
vollkommenen Dienstbarkeit offenbart. Dieser Grund-
und Zielgedanke der Schrift wird durch die mystische
Unterscheidung des inneren und äußeren Menschen lange
Zeit verdeckt. So wird auch hier wieder die polare Betrachtung
festzuhalten sein, daß die Mystik dem Glauben
zugleich unentbehrlich und gefährlich ist. Luthers Glaube
ist aufs Ganze gesehen zweifellos etwas anderes als
Mystik.

Mit großer Dankbarkeit begrüße ich die ausgezeichneten
, wirklich befreienden Ausführungen Ottos zur Deutung
des wahren Sinnes der Recht fertigungs-
lehre. Die traditionelle Auslegung, der Glaube sei die
Zuversicht, die das „Verdienst" Christi ergreift, der das
Gesetz für uns erfüllt habe und dessen Verdienst uns
„angerechnet" werde, so daß wir für gerecht „erklärt"
werden: diese ganze Betrachtung ist gegen den Grundsinn
Luthers und Pauli, denn sie hält an der von beiden
bekämpften Anschauung fest, daß der eigentliche Weg

1) Freilich mit liebevoller Einseitigkeit geschildert. Die Schwächen
verschwinden. Man lese zur Ergänzung den gerecht abwägenden Aufsatz
von Wilhelm Ernst in der Zeitschrift f. System. Theologie 1933/34 Heft 4.

des Heils der Weg der Leistung, der Gesetzeserfüllung
sei und der schwache Mensch nur die Leistung
Christi statt der e i g e n e n Leistung nehmen müsse.
Damit ist die Paradoxie der paulinischen Ausdrucksweise

; und das Wesen des Glaubens als eines kindlichen
Empfanges aus Gottes Gnade gleichermaßen verkannt

I und verkehrt.

In dem Kapitel IX „S akrament als Ereignis
des Heiligen" wird im Anschluß an eine jüdische
Qiddusch-Mahlzeit das Abendmahl Christi ähnlich wie

I in dem neusten Buche „Vom Gottesreich und Menschensohn
" beschrieben. Ich bin nicht überzeugt von der Da-

I tierung der Feier auf den Tag vor dem Passahmahl,

j auch nicht von der gewollten kultischen „Stiftung", wohl
aber von der starken Betonung des Brotbrechens als

! der den eigentlichen Sinn darstellenden Handlung: Hiermit
ist dann auf eine erwartete Steinigung, nicht auf die
Kreuzigung hingewiesen, und der Kelch ist, wie der ur-

j sprüngliche kurze Lukastext noch zu erkennen gibt, zunächst
nur Eingang, aber nicht gleichwertiger Bestandteil
der Haupthandlung gewesen. Erst nachträglich ist
der Kelch dem Brote angeglichen, das Brot zum Symbol
des Leibes, der Kelch zum Symbol des Blutes geworden.
Aber Otto hat vollkommen recht: „Nicht zwei Substanzen
werden identifiziert sondern zwei Geschehnisse
(das Brechen des Brotes und das Brechen des
Leibes), auf daß wo das eine sei, das andere sich darin
ereigne." Damit fallen alle Theorien von Transsubstan-
tiation oder Impanation dahin. Der Streit zwischen Luther
und Zwingli wird zu einem Stück Geschichte, die
uns heute nicht mehr trennen darf; ein Luthertum, das
heute noch meint, einem Reformierten die Abendmahlsgemeinschaft
versagen zu müssen, verkennt das innerste
Anliegen Luthers, das doch schon im kleinen Katechismus
sich deutlich offenbart, wenn für würdig und wohlgeschickt
nicht der erklärt wird, der den Glauben hat an
die Worte „dies ist mein Leib", sondern an die Worte
„für euch vergeben und vergossen zur Vergebung der
Sünden". (Warum aber, wenn Otto mit recht die Handlung
des Brotbrechens so sehr betont, verbleibt er in
dem Entwurf einer Abendmahlsfeier in Kap. XVI bei
der katholischen Oblate, die doch nicht gebrochen werden
kann?)

Ich verzeichne zum Schluß mit Dank noch den schönen
Aufsatz über das Auferstehungserlebnis
als pneumatische Erfahrung. Diese Deutung
erlöst uns von der Ängstlichkeit um das leere Grab und
überhaupt die äußeren Formen und Vorstellungen, indem
sie uns auf den wunderbaren Sinngehalt hinweist.
Daß bei Schleiermacher ein neuer Aufbruch des
Sensus numinis (Kap. X) festzustellen ist, wird überzeugend
dargetan. Das Christentum ist ihm in der Tat
nicht gereinigter Theismus, wofür der Rationalismus es
genommen hatte; aber darf man wirklich schlechthin
sagen, es sei ihm Sünden- und Verloreniheits-Erfährung?

I Die Spannweite endlich von Ottos theologischer Gedankenwelt
offenbart sich darin, daß er dieses Buch mit
einer prachtvollen Schilderung und Überwindung des

I Darwinismus sowohl des eigentlichen wie des populären
beschließt und zwar unter der Überschrift: „Rationale
Theologie gegen naturalistischen
Irrationalismus". Der Prophet des Numinosen
will also kein Verächter der Ratio sein.

Hannover-Kleefeld. H. Schuster.

Schröder, Christel Matthias: Christentum und völkische Religiosität
. Elsfleth a. d. Weser: H. Bargmann 1933. (188 S.) 8°.

. RM 2.50; geb. 3.75.

Der Verfasser will sich vom Standpunkt des biblisch-
reformatorischen Christentums mit der völkischen Religiosität
der Gegenwart auseinandersetzen (S. 10).

Er versucht „die weltanschaulichen und religiösen
| Grundlagen der völkischen Anschauung in ihren Hauptzügen
" herauszuarbeiten, gibt weiter einen kurzen, ge-
| schichtlichen Überblick über ihre Entwicklung bis zur