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Ausgabe:

1934 Nr. 1

Spalte:

19-20

Autor/Hrsg.:

Engelhardt, Roderich von

Titel/Untertitel:

Die deutsche Universität Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung 1934

Rezensent:

Seesemann, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. I.

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sitiven Würdigung der Welt. „Er sah sie nicht als einen
Organismus der Sünde, dessen Berührung jeder bekehrte
Christ bei Gefährdung seiner Seligkeit vermeiden
muß. Er wußte sich über alle innerweltliche Kreatur
als Gottes Schöpfung Herr. Darum finden wir auch
bei ihm keine asketischen Tendenzen" (127). Im Anschluß
an F. Blanke ,Der junge Hamann' (1931) werden
schließlich noch kurz die wesentlichen Linien berührt,
die hinsichtlich des theologischen Ertrags ihrer Bekehrungserlebnisse
Hamann mit Luther verbinden. Auf S. 20
bei der Erwähnung des Königsberger Philosophen Martin
Knutzen als Lehrer Hamanns (wie Kants) habe ich
den Hinweis auf B. Erdmann's grundlegende Arbeit über
,Martin Knutzen und seine Zeit' (1876) vermißt.

München. R. F. Merkel.

Engelhardt, Dr. Roderich von: Die deutsche Universität

Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung. München : E. Reinhardt
1933 (XIV, 570 S. u. 25 Taf.) gr. 8°. = Schriften d. Deutschen
Akademie Nr. 13. RM 17.— ; geb. 19.50.

Es ist eine Freude, diese ungemein lebendig geschriebene
und durch vorzügliche Abbildungen ihrer hervorragendsten
Vertreter ausgestattete Universitätsgeschichte
zu lesen. Sie umfaßt die Zeiten von der Gründung der
Universität an (1802) bis zum Hereinbrechen der Russi-
fizierung derselben in den 80. und 90. Jahren des
vorigen Jahrhunderts, mit der die deutsche Universität
Dorpat ihr gewaltsames Ende fand. Der Verfasser hat
es verstanden, dieser fast hundertjährigen Epoche deutscher
Kulturarbeit im Baltikum ein so würdiges Denkmal
zu errichten, wie es nur errichtet werden konnte.
— Hier interessiert in erster Linie die Stellung und Bedeutung
der Theologischen Fakultät; ihr hat der Verf.
(er ist ein Sohn des 1881 verstorbenen Dorpater Kirchenhistorikers
Moritz v. E.) wegen ihrer Bedeutung für
die ganze Universität und das Leben des ganzen Landes
auch besondere Beachtung geschenkt. Es war die besondere
Eigenart der deutschen Universität Dorpat, daß
sie fast die ganze Zeit ihres Bestehens hindurch durch
die politische Lage gezwungen war, in Kampfesstellung
zu stehen; diese Tatsache erforderte einen stark gesinnungsmäßig
betriebenen Lehrgang, d. h. die Universität
mußte ausgesprochen deutsch-national und evangelisch
-lutherisch sein. Dadurch gewann die Theologische
Fakultät innerhalb der Universität eine ganz besondere
Bedeutung, aber auch eine gewisse Starrheit;
sie verschloß sich allen Hberalisiereinden westlichen Tendenzen
, sie hielt mit Hartnäckigkeit am traditionellen
Dogma fest (als Hauptvertreter sind bekannt: Philipp
!, AI. v. Oettingen, M. v. Engelhardt). Dadurch
gewann sie aber die Kraft, die Position zu verteidigen,
die zu verteidigen ihr oblag: bedeutsamster Stützpunkt
der evangelischen Lehre und des Deutschtums überhaupt
gegen alle Angriffe vom Slawentum her zu sein.
Hätte sie diese Starrheit nicht besessen, hätte sie die
Positionen nicht verteidigen können. In anderer Beziehung
war die Fakultät aufgeschlossener, als manche
ihrer Schwesterfakultäten zu der Zeit in Deutschland:
so ist es für sie charakteristisch, daß sie in ihrem
Konservativismus vielseitig und weltoffen war; trotz
ihres Konservativismus war sie Führerin nicht nur der
Pastorenschaft, sondern des ganzen Deutschtums im
Lande; sie war es, die mit dazu beitrug, daß der Geist
von Weimar den Geist des baltischen Deutschtums mit
beeinflußte; sie stand auch den Naturwissenschaften
nicht feindlich gegenüber; sie verlangte von diesen nur,
daß sie nicht auf die Theologie übergriffen; diese Stellung
wurde ihr durch den Naturwissenschaftler Karl
Ernst von Baer besonders erleichtert, indem dieser es
durch seine organische Auffassung vom Leben zu einer
Zusammenarbeit von Naturwissenschaften und Theologie
brachte, wie es in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrh. kaum sonstwo geschehen ist. — Auf die wissenschaftliche
Bedeutung der Fakultät einzugehen, ist
hier nicht nötig; sie ist noch heute in Deutschland unvergessen
.

Mit diesen Sätzen ist nur ein kleiner Ausschnitt aus
dem Buch wiedergegeben; ein kurzes Referat kann seinen
ganzen Inhalt nicht erschöpfen. Es ist zu wünschen,
daß diese Universitätsgeschichte, die in ihrer Art wohl
einzig dasteht, in möglichst weiten Kreisen bekannt
wird, damit dieses leuchtende Stück deutscher Geistesgeschichte
im Gedächtnis des deutschen Volkes nicht
ausgelöscht werde.
Göttingen.__H. Seesemann.

St ölten, Wilhelm: Friedrich Zimmer. Ein deutscher Volkserzieher
. Berlin-Zehlendorf: Mathilde Zimmer-Haus, Verl.-Abt 1933.
(XI, 276 S.) 8°. geb. RM 2.80.

Es ist wirklich ein deutscher Volkserzieher von Gottes Gnaden,
dessen Leben und Werk in dem gegenwärtigen Leiter seiner „Mathilde
Zimmer-Stiftung" einen berufenen Darsteller und Interpreten findet. Ein
gründliches Studium der Quellen und mancherlei mündliche Nachrichten,
um die der Verf. sich mit Fleiß und Liebe bemüht hat, liegen dem
Buch zu Grunde und verhelfen zu einem deutlichen Bild des Mannes,
dessen Bedeutung als Volkserzieher wohl noch nicht genügend erkannt
ist, und den weite Kreise nur als den Gründer des evangelischen Dia-
konievereins kennen. Von Z. sagt der bekannte Förderer der Mädchen -
Schulbildung Wychgram, er sei der genialste Mensch, der ihm in seinem
reichen Leben begegnet sei.

Wir lernen den Lehrersohn kennen, den ältesten, der schon früh
den jüngeren Geschwistern gegenüber Erzieheraufgaben hat. Liebe zur
Musik, ein starkes Verantwortungsgefühl sowie eine schlichte Frömmigkeit
und Hilfsbereitschaft bringt er als Erbe des Elternhauses mit. Schul-
pforta gibt ihm dem zukünftigen Erzieher, viel, wird ihm zur zweiten
Heimat. Der Student der Theologie und nachmalige Hauslehrer kann
weiter seinen musikalischen Interessen nachgehen ; der 22jährige gibt
Kinderliederbücher mit eigenen Texten und Melodien heraus, andere
Lieder folgen, von seinem Freund, dem späteren Historiker Lamprecht,
sehr anerkannt, besonders wegen ihrer Volkstümlichkeit. Aber auch
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wird ihm das Volkslied. Als
Herausgeber einer musikalischen Zeitschrift, die später das Organ der
evangelischen Kirchengesangvereine wird, und als Musikpädagoge wirkt
er auf weitere Kreise. Sein Lebensziel wird die akademische Tätigkeit,
zuerst Privatdozent für Neues Testament in Bonn kommt er nach kurzer
Tätigkeit im Dorfpfarramt in Ostpreußen als Privatdozent für neutesta-
mentüche und systematische Theologie nach Königsberg und wird zugleich
Pfarrer am dortigen Diakonissenhaus, wie vieles aus seinen dortigen
Erfahrungen ist ihm später für seinen Diakonieverein von Wert
gewesen. In der Königsberger Zeit beginnt seine Tätigkeit als Herausgeber
von theologischen Sammelwerken, die s. Z. ziemlich bekannt
waren, er bewährt auch hier seine organisatorische Gabe. 8 Jahre wirkt
er dann als Direktor des Nassauischen Predigerseminars in Herborn,
in dem er große, umgestaltende Änderungen durchführt, deren Bedeutung
vom Verf. sehr hoch eingeschätzt werden, wohl mit Recht. „Es
zeigte sich in allen Neueinrichtungen ein pädagogischer Realismus von
erfreulicher Kraft." In die Herborner Zeit fällt die Gründung des Dia-
konievereins, dessen innere Triebkräfte, Anfänge und weitere Entwicklung
mit großer Liebe geschildert werden. Durch ihn ist der Name Z.
ja weithin bekannt geworden, auch hier steht der Gedanke der Erziehung
stark im Vordergrund, er sieht die Not der Kirche in den Pfarrhäusern
mit Pfanfrauen, die für den Beruf der Pfarrfrau völlig ungeeignet sind.
Aber die damals in der Öffentlichkeit sich stark anmeldende Frauenfrage
gibt den Plänen eine ganz andere Auswertung. „Dem Herrn wollen
wir dienen, indem wir den Bedürfnissen der Zeit dienen." Gegen viele
Schwierigkeiten und Mißverständnisse galt es anzukämpfen. Von vornherein
ist der Töchterheimgedanke auf's engste mit der Gründung verbunden
. Herbst 1894 wird das erste Töchterheim in Kassel eröffnet.
Abteilungen für Lehrdiakonie, Kindergarten, Werkunterricht, Gedanken
über den heute zum Schlagwort gewordenen „lebensnahen Unterricht"
wirken sich aus, Bürgerkunde. Die große Tätigkeit für den Diakonieverein
nötigt zur Aufgabe des Amts am Predigerseminar. Berlin-Zehlendorf
wird seit 1898 der Mittelpunkt und Sitz des Vereins. Aber die
Pläne Zimmers gehen weiter, als sie sich im Rahmen des Vereins verwirklichen
lassen. Soziale Frauenarbeit im weitesten Sinn ist das Ziel,
das ihm vorschwebt. So kommt es zum Abschied vom Verein, seiner
eigensten und bedeutendsten Gründung, die bei seinem Ausscheiden
1075 Schwestern zählte. Mit 50 Jahren beginnt er sein neues Werk.
Auch hier geht es durch mancherlei Enttäuschungen, Schwierigkeiten
und Sorgen finanzieller und anderer Art. Die spätere „Frauenschule"
geht eigentlich auf seine Anregungen zurück. Ein schwerer Schlag
trifft ihn durch den Tod seiner Gattin im Jahr 1908. An dem Tag,
I da er mit ihr die silberne Hochzeit hätte feiern können, faßt er die
i ihm verbliebenen Werke in der „Mathilde Zimmer Stiftung" zusammen.

„Ausrüstung für den natürlichen weiblichen Beruf" steht im Mittelpunkt
| der Arbeit der untereinander sehr verschiedenen Anstalten, in denen
allen auch auf die körperliche Ertüchtigung Wert gelegt wird (Gymnastik
, die spätere Lohelandschule ist aus einer Zimmerschen Gründung
hervorgegangen). Für weit umfassende Pläne, die die ganze Volkserziehung
betreffen, wirkt er unermüdlich. Ein besonderer Abschnitt be-