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Ausgabe:

1934 Nr. 14

Spalte:

257-261

Titel/Untertitel:

Orient und Occident ; Hefte 9-15 1934

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 14.

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mit meiner Studie über die philos.-theol. Methode
Schleiermachers auseinandersetzte). Nicht der spekulative
, auch nicht der empirische Weg, betonte er damals,
sei für Schleiermachers Theologie das Bezeichnende,
sondern, kurz gesagt, wenigstens der Absicht nach ein
Denken aus dem Phänomen heraus. Daß dieses Verfahren
in der Durchführung von der nebenhergehenden
Spekulation her überfremdet werde, kam auch zum Ausdruck
, doch konnte es den zu Grund liegenden Sachverhalt
nicht aufheben. Aufs große Ganze gesehen, ist
diese These als richtig anzuerkennen; man wird Schleier-
macher nicht gerecht, wenn man nicht diese seine eigentliche
theologische Intention, mit den Abhandlungen zu
reden, offen anerkennt. Von mannigfachen Seiten her,
auf Grund einer weiten Überschau, stützt Wobb. nunmehr
seine Auffassung weiter: sei es daß er die Lehre
Schleiermachers vom Verstehen aufbietet und darin das
auf das Objektive (das votuio, nicht die voi|ök;) inten-
tional bezogene Moment seiner Verstehenspsychologie
betont; oder daß er den gegenüber dem Hochidealismus
geltend gemachten Gedanken Schleiermachers vom Wechselverhältnis
der Philosophie und der realen Wissenschaft
zur Erwägung vorlegt; sei es daß er, apagogisch
vorgehend, aus dem literarischen Befund von Dialektik
und Glaubenslehre das Recht verficht, letztere aus sich
selbst auszulegen; oder daß er aus dem stärkeren und
jugendlichen Charakter der Reden die Warnung begründet
, nach ihnen einfach die Glaubenslehre zu beurteilen
; oder wieder daß er, die Sittenlehre neben die
Glaubenslehre stellend, aus jener die gemeinsamen Denkprinzipien
beleuchtet und für beide die Beziehung auf
den geschichtlichen Charakter des Christentums hervorhebt
. Dabei unterläßt es Wobb. nicht, die allen Lebensabschnitten
gemeinsame theologische Linie Schleiermachers
hervorzuheben: die durchgehende doppelseitige
Frontstellung gegen Dogmatismus und Rationalismus,
u. z. in Anknüpfung an die reformatorischeii Grundintentionen
, positiv das Bemühen, die religiöse Überzeugung
selbst zum Wort kommen zu lassen oder die
rel. Erfahrung zum Prinzip wissenschaftlicher Wesensbestimmung
von Religion und Christentum zu machen.
Die Zustimmung dazu wird umso leichter, als Wobb.
eine geschlossene Durchführung selbst nicht behauptet.
In der Tat muß man bei Schleiermacher die innersten
Intentionen ergreifen, wollen wir sein theologisches Werk
zugleich in seinen unleugbar großen Nachwirkungen wirklich
würdigen. Immerhin wäre wohl das tatsächliche
Ineinandergreifen von theologischer und philosophischer
Arbeit bei Schleiermacher in seiner oft ärgerlichen Kompliziertheit
stärker zu unterstreichen. Wobbermin sollte
sich einmal zur „Kurzen Darstellung" genauer äußern,
als er das bisher getan hat.

Tübingen. Georg Wchrung.

Orient und Occident. Staat, Oesellschaft, Kirche. In Verbindung
m. Nicolai Berdjajew u. Erwin Reisner u. einer Arbeitsgemeinschaft
v. Deutschen u. Russen hrsg. v. Fritz Lieb u. Paul Schütz. 9. Heft:
Der religiöse Sinn des Bolschewismus. 10. Heft: Dichtung-Mythus-
Offenbarung. 11. Heft: Zur russischen Selbstbesinnung. 12. Heft:
Der Protestantismus als Mitte. 13. Heft: Volkstum, Kirche u. Bolschewismus
in Rußland. 14. Heft: Ukraineheft. 15. Heft: Kirche u.
Schule in Rußland. Leipzig: J. C. Hinrichs 1932/34 (je 48 S.) gr. 8°
Heft 9—12 je RM 3—, Heft 13—15 je 2—

In Nr. 15/16, Juli 1932, besprach ich — sehr ein-

fehend — das damals letzte, 8. Heft der vorstehend
ezeichneten Serie. Seither habe ich aus verschiedenen
Gründen gezögert. So sind es inzwischen sechs weitere
Hefte geworden, die der Anzeige in der Theol. Litz.
warten. Das Hauptinteresse der Sammlung bieten die
Beiträge der russischen Mitarbeiter. Sie sind sämtlich
Emigranten, zum größten Teile wohnend in Paris. Ist
es ihr Vorzug, Land und Leute des vergangenen Rußland
lebendig gekannt zu haben, so ist das auch ihre
Schranke. Sie haben alle warmes kirchlich-religiöses
Interesse, aber sind dadurch auch in Vorurteilen verstrickt
. Ich meine das in dem Sinn, daß ihrer keiner

bisher sich dargetan hat als wirklich historisch geschulter
Kenner und Beurteiler des Charakters, der Sonderart
ihrer Kirche und des von ihr vertretenen Christentums
. In den früheren Anzeigen (s. solche in Jahrg.
1930, 31 und, wie schon vermerkt, 32) habe ich das
eingehend begründet und bleibe dabei. — Ob unter
dcii Herausgebern Fritz Lieb der russischen Sprache
mitkundig ist, ersehe ich nicht, jedenfalls sind seine
„Berichte" über russische Literaturstücke sämtlich willkommen
zu heißen. Theologisch ist auch Lieb in dogmenhistorischer
Unkenntnis stark befangen. Der Mangel
des Urteils der Russen und auch Liebs ist der,
daß sie sich die orthodoxe Kirche zu sehr mit abstraktem
, persönlichgläubigem Maßstabe — nach welchem sie
ihnen in ihrer „dogmatischen" Art wie selbstverständlich
auf der „Höhe" christlichen Glaubens steht —
idealisieren. Es ist ja ein grenzenloser Jammer,
der über diese arme Kirche hereingebrochen ist. Aber sie
war versteinert, von ihrer byzantinischen Abkunft
her (ruhend nach ihrer Selbstauffassung unter den christlichen
Kirchen „allein" ganz und nur auf den oeltu-
menischen Konzilien der alten Kirche) zu sehr
selbstsicher geworden: wie sie bis zu der schrecklichen
, grauenhaften Revolution des Bolschewismus „dastand
", war sie ein historisches Petrefakt. Das schließt nicht
aus, daß sie einen historischen Untergrund ehrwürdigster
Art, den der Lehrschöpfungen der noch
„einigen" Christenheit, hatte, und daß von ihm aus auch
noch zum Teil edele, eigenartige, aber echtchristliche,
evangeliumsmäßige, Frömmigkeits- und Sittlichkeitstriebe,
je und dann neu aufstiegen. Ein „russischer" Gottesdienst
war durch und durch feierlich, und doch —
zu monoton, um den Seelen anderes als im besten
Fall während seiner Dauer durchhaltende mystische
Andachtsempfindung, vielleicht eine Weile auch „draußen
", nach Verlassen des Kirchengebäudes, Wiedereintritt
in die „Welt" — sie „begann" sehr deutlich schon
in der „Vorhalle"! —, weiterwirkendes stilles Friedensgefühl
zu gewähren. Eigentliche Leitmotive für „bürgerliches
" Leben gewährte der russische Gottesdienst
kaum. „Kult", Ritus, heilige Darbietungen (der Kelch
mit dem Leibe Christi in seinem Blute!) war (und ist
in der Kirche des Orients überhaupt) das Ganze. Das
ist nicht wenig, aber nicht genug, um das wirkliche
Evangelium verständlich zu machen. Das „Dogma"
ist „Formel". Doch steht hinter ihm und ist dauernd
erhalten geblieben der Gedanke, daß Christus den Tod
überwunden habe. Das stärkt natürlich, hat sicher vielen
frohe, feste, dankbare Ewigkeitshoffnung gewährt, nur
doch auch allzu viel Anregung zu bloß sinnenhafter
Seligkeitsvorstellung (doch da wollen wir Abendländer
, auch wir Protestanten, nicht etwa „stolz" sein,
als ob wir den Se 1 ig ke i t sgedanken „klar" evangeliumsmäßig
in's Volk getragen hätten: da haben auch
wir noch vieles zu „lernen", zu bessern!).

Heft 9 trägt den Titel „Der religiöse Sinn
des Bolschewismu s". Unter dieser Überschrift tritt
uns ein kleiner Aufsatz von Berdjajew, dann, mit
dem Unterschiede, daß statt „Bolschewismus" gesagt
wird „russische Revolution", ein erheblich größerer von
S t e p u n entgegen. Beide sind sehr ernst und sagen
auch uns Abendländern viel. Der erstere betont, wie
man nur als richtig anerkennen kann, den eigentlichen
Sinn des Bolschewismus, bzw. des sich darin realisierenden
Marxismus, als gewissermaßen antireligiöser
(will sagen: anti„kirehlicher", anti„christlicher"
Religion. Es geht ihm um die Aufrichtung einer
neuen, unbedingten, metaphysisch - „physischen" d. i.
welthaften, Letztgewalt, ein ganz anderes „Menschentum
". Überwelt und Individuum sollen nichts, gar
nichts mehr bedeuten, das Erdendasein, in ihm das Kollektiv
müsse das Ein und Alles werden. Beidj. weist
darauf hin, daß in Rußland selbst von vielen zwischen
Bolschewismus und Kommunismus unterschieden werde,
ersterer werde vorgestellt als bejahter, willenhaft-unegoistischer
Sozialismus. Man muß in der Tat, darin