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Ausgabe:

1934

Spalte:

185-188

Autor/Hrsg.:

Müller, Hans Michael

Titel/Untertitel:

Macht und Glaube 1934

Rezensent:

Köberle, Adolf

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18ö

Theologische Literaturzeitung 1934 Nr. 10.

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sehen. Im dritten Buch geht es um „Die Ordnungen".
Hier erfolgt die Einzelbehandlung in sechs Abschnitten.
Der I. Abschnitt erörtert das Verhältnis von Einzelnen
und Gemeinschaft. Weiterhin wird dann so disponiert:
II. Die Lebensgemeinschaft, Ehe und Familie; III. Die
Arbeitsgemeinschaft; IV. Die Volks- und Rechtsgemeinschaft
; V. Die Kulturgemeinschaft; VI. Die Glaubensgemeinschaft
.

Die vorher gerühmte Bemühung Brunners wirkt sich
am reinsten und stärksten in den beiden ersten grundlegenden
Teilen aus. Hier werden die Prinzipien evangelischer
Ethik aus der reformatorischen Grundposition
heraus entfaltet. Anders verhält es sich wenigstens
teilweis mit der Einzelbehandlung des dritten „Buches",
zumal derjenigen der Abschnitte IV und V. In ihnen
erfolgt Erörterung und Stellungnahme in betrachtlichem
Maße nicht aus der Glaubensposition und dem Glaubensverständnis
der Reformation heraus, sondern nach
Maßgabe positivistischen Denkens. Unter dies Urteil
fällt die ganze Behandlung der Fragen nach dem Wesen
des Staates, nach dem Verhältnis von Staat und Volkstum
, von Rechtsstaat und Kulturstaat, von Kulturstaat
und nationalem Staat, und demgemäß in weitem Umfange
auch die Behandlung der Kriegsfrage.

Güttingen. G- Wobbermin.

Müller, Hans Michael: Macht und Glaube. München: Chr.
Kaiser 1933. (IV, 476 S.) 8°. RM 9.70; geb. 11.50.

Ders.: Das politische Mißverständnis und das religiöse
Aergernis des Kreuzes. Eine Karfreitags-Predigt mit einem Anhang
: Reich Gottes, Jesus und Machtkampf. Tübingen: J. C. B. Mohr
1933 (24 S.) 8°. = Theolog. Flugschriften. RM -60.

Ders.: Was muß die Welt von Deutschland wissen? Nationale
Revolution und Kirche. Ebda 1933. (48 S.) 8°. = Theolog.
Flugschriften. RM '—•

Das Buch von Hans Michael Müller wirkt wie eine
eigenartige Synthese von Oswald Spengler und Karl
Barth. Den Ausgangspunkt bildet die Tatsache des
bellum omnium contra otnnes in dieser Weltgestalt. In
Volk und Staat, in Kirche und Kultur, in Wirtschaft
und Gesellschaft stebt vor uns die komplexe Mannigfaltigkeit
gegnerischer Haltungen. Müller hält es für
„sentimental und moralisch minderwertig" beim Ausfechten
solcher Gegensätze irgendein „humanitäres Zaudern
" walten zu lassen. Je charaktervoller eine Persönlichkeit
ist, desto härter und strenger und tapferer
wird sie für ihre Sache einstehen. „Der Letzte Ernst
ist das Kriterium menschlicher Höhenlage und ethischer
Qualifikation" (S. 7). Man soll die Freunde ehrlich
lieben und ohne Falsch die Gegner hassen. Neutral
bleibt nur — der Esel in der Fabel, der ratlos zwischen
zwei Heuhaufen steht und nicht weiß, wie er wählen
soll. Der vitale Mensch, dessen Leben allein lebenswürdig
ist, bejaht Kampf, Einsatz und Widerstand, er
sucht unter allen Umständen Herr zu bleiben und seinen
Opponenten schachmatt zu setzen.

Die Leidenschaft dieses Widerstreites wird dadurch
ungeheuer gesteigert, daß jeder Mensch, jede Partei,
jede Gemeinschaft ihr Tun religiös zu rechtfertigen
sucht. Es wird stets „metaphysisch dazu geheult"
(S. 41). Immer werden Götter und Götzen zur Bestätigung
und Verherrlichung der eigenen Sache angerufen
, was einen „wahrhaft abgründigen Polytheismus
in der Menschheit" zur Folge hat. Selbst die Christenheit
macht davon keine Ausnahme. Auch hier steht
in Trinitätslehre und Christologie, in Sozialethik und
Schöpfungsordnung ein Absolutsheitsanspruch wider den
anderen in prinzipieller Unverträglichkeit. Das Evangelium
hat mit dieser ganzen Machtproblematik, mit
der religiösen Begründung politischer, konfessioneller
Und theologischer Fronten rein nichts zu tun. Es ist
ein verborgenes Wort, das auf eine völlig andere Welt
hinweist und das mir nichts darüber zu sagen hat, was
ich jetzt und hier in meiner geschichtlichen Lage tun
soll. Ich kann mich darum nur nach wie vor den

i Dingen dieser Welt hingeben und das Nötige nach
j meinem besten Ermessen angreifen, tun und gestalten,
j Wir sind frei und bevollmächtigt mit ganzer Kraft
J „das Menschliche" zu betreiben, das heißt: in Widerstand
und Hingabe in der Entscheidung zwischen Gegensätzen
zu existieren. Damit fallen alle offenen oder
verschleierten Ansprüche, als könnten wir in Staat, Theologie
und Kirche etwas „vom Evangelium her", „um
Jesu Christi willen", „in Gottes Namen", „auf das
Reich Gottes hin" unternehmen, als hätten wir in irgend
einem Fall bessere Vollmachten „von Gott her" als
die Partner, Gegner und Feinde. Für Müller sind alle
politischen und systematischen Programme aus dem rein
menschlichen Wesen ableitbar — „bei Rationalisten
und Katholiken, bei Atheisten und Protestanten".
Auch alle christlichen Symbole, Transparente, Gleichnisse
, Aufträge und Berufungen „entstammen ausnahmslos
der humanistischen Sinn- und Machtproblematik."
Der Fanatismus mag bleiben und wird bleiben, nur
darf es niemals zur Legitimierung irgend eines Parteistandpunktes
durch biblische Argumentation kommen.
Das Evangelium darf nicht zum Rechtstitel menschlicher
Ansprüche gemacht werden. Man soll den Gegner
unbedingt zu schlagen suchen, aber soll ihn nicht
zum Teufel degradieren und sich selbst nicht zum Gotteskämpfer
erhöhen. Alle Streitfragen in jeder Gemeinschaft
sind als rein menschliche Spannungen anzusehen
und zu tragen. Fort mit den Übertrumpfungen, Beteuerungen
und Verfluchungen im Namen Gottes!

Darin besteht nach Müller das eigentliche Wesen der
evangelischen Buße: Verzicht auf all solche religiöse
Hemmungslosigkeit im weltanschaulichen Glauben, Einsicht
, daß wir mit unseren Verwerfungen und Berufuncen
alle miteinander dem Reiche Gottes niemals näher kommen
und damit verbunden Bereitschaft den Machtkampf
dieser Welt nach innerweltlichen Gesichtspunkten weiter
zu fechten! Der Glaube läßt Gott hinter dieser zerrissenen
Daseinswirklichkeit dafür sorgen, wie er uns
„im Schmelztiegel der Verzweiflung mit dem Schmelz
seiner Herrlichkeit" segnet (S. 216). Der Untergang
aller religiösen Fixierung, Sanktionierung, Weihe und
Betätigung ist der Aufgang Gottes in unserem Leben,
der ganz anders regiert. Jesus hat dieser Wahrheit
mit seinem Tod die Bahn gebrochen. Er hat „vollkommen
auf religiöse Kulturpolitik verzichtet", so wurde
er „das Erstlingsopfer einer solchen schlechthin" (S.
351). Die evangelische Gemeinde kann die Machtproblematik
des Daseins nicht lösen. Sie muß daran festhalten
, daß diese menschliche Struktur unaufgebbar
bleibt, aber sie kann und soll darüber wachen, daß
„der Name ihres Herrn nicht als Waffe in den Machtkampf
hineingetragen wird." Ferner soll sie sich in
diesem unlösbaren Kampf lebendig erweisen in der
Samariter-Dienstbereitschaft, Leiden zu hindern, die aus
der fanatischen Parteiung staatlicher und religiöser Weltanschauungen
entstanden sind. Eine solche Haltung
wird erzeugt und gestärkt durch Predigt, Seelsorge und
Gebet. Inhalt des evangelischen Gottesdienstes hat zu
sein: die unverkürzte Bußpredigt, die Verheißung des
Heils für alle, das Gebet zum Schöpfer und Lenker
aller Dinge, im Wissen, daß es letztlich allein auf Gott
und nicht auf unser Tun ankommt. Weil die Früchte
des Glaubens Gottes Werk sind, brauchen wir uns um
sie nicht zu sorgen. Wenn diese Tatbestände ernstlich
festgehalten werden, kann nach Müllers Überzeugung
kein politischer und kein sozialer Umbruch, keine Geisteswende
und keine Weltanschauungsmode der evangelischen
Christenheit je etwas anhaben. Denn das
Reich Gottes ist ja unabhängig von Blüte und Verfall
aller politischen, kulturellen, humanen und religiösen
Größe und Tätigkeit.

Müllers Werk ist wohl der radikalste Beitrag zur
Diastase von Schöpfung und Erlösung, von Reich Gottes
und Welt, der in den letzten Jahren geschrieben worden
ist. Er kennt den Geist Gottes nur als 'Richter und