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Ausgabe:

1933 Nr. 7

Spalte:

123-125

Autor/Hrsg.:

Ellwein, Eduard

Titel/Untertitel:

Vom neuen Leben 1933

Rezensent:

Nöldeke, Martin

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Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 7.

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Ell wein, Eduard: Vom neuen Leben. De novitate vitae. Eine
systemat. u. theologiegeschichtl. Untersuchung z. Lehre vom neuen
Leben. Durchgeführt an einem Ausschnitt a. d. Römerbrief-Exegese
d. Reformationszeit. München: Chr. Kaiser 1932. (VIII, 211 S.)
8°. = Forschgn. z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus hrsg. v. P.
Althaus, K. Barth u. K. Heim, 5. Reihe, Bd. 1. RM 4.90.

Nach den Vorbemerkungen handelt es sich um eine
überarbeitete Dissertationsschrift, die der Evangel.-theolog
. Fakultät Bonn vorgelegen hat. Der Verfasser betrachtet
seine Ausführungen selbst als den Versuch einer
Vorarbeit „aus der Exegese des Römerbriefes die zentralen
Stücke der reformatorischen Theologie und Dog-
matik zu ermitteln". Dabei zeigt sich deutlich, wie die
reformatorische Dogmatik ganz in der Exegese des N. T.,
vornehmlich des Römerbriefes, verwurzelt ist und aus
ihr heraus Inhalt, Richtung und Ziel empfangen hat
(S. VI). Im Hinblick auf diesen Nachweis ist die „Arbeit
„systematisch" angelegt, indem in sechs Kapiteln
als zentrale Stücke der reformatorischen Theologie die
Erkenntnisse: De peccato, de lege et evangelio, de
iustia Dei, de novitate vitae, de sanctificatione Spiritus
Sancti und de novitate Spiritus hauptsächlich auf Grund
der Erklärung der Reformatoren und ihrer Gegner zu
Rom. VI—VIII dargestellt werden. Von den Gegnern
der Reformation kommen die Ansichten der Humanisten-
führer Faber Stapulensis und Erasmus deutlich zur Geltung
. Bei ihnen finden wir die noch heute typisch römisch
- katholischen , semipelagianisch - humanistisch geprägten
Gedanken begrifflich klar ausgesprochen: pec-
catum i. e. carnis infirmitas u. ä. (vgl. Ellwein S. 2 ff.).
Damit wird das Wesen der Sünde durch naturhafte,
nicht durch ethisch-persönliche Kategorien bestimmt. Die
Sünde verliert ihren Charakter als ernstliche Sünde
(S. 6). Infolgedessen besteht zwischen dem eigenen Wirken
des Menschen und dem göttlichen Wirken eine durch
den Begriff der oooperatio bezeichnete Beziehung (S. 33),
wobei dann trotz Anerkennung des Primates der iustitia
Dei in Praxis doch das Tun des Menschen das entscheidende
Übergewicht bekommt. Wie die Sünde nicht
das gänzliche Verlorensein, das „Tot-sein" in den Sünden
bedeutet . . ., so ist andrerseits die Gnade nicht das aus
dem Tode zum Leben rufende Schöpferwort Gottes . . .,
sondern eine den Menschen zum Mitschöpfer seines
Heils instand setzende qualitas und dignitas. — Dadurch
wird der Unterschied zwischen Gott und Mensch
aufgehoben (S. 6, S. 39). Das neue Leben wird zum
Gleichnis des Auferstehungslebens Christi. Es ist als
imitatio Christi gekennzeichnet symbolum gloriosae re-
surrectionis (S. 78). So ernst die Humanisten nun zwar
von Christus, seiner Wohltat und Gnade zu reden wissen,
so sehr sind sie doch der Gefahr eines nüchternen Moralismus
erlegen (S. 79 ff.), ohne zu erkennen, daß das die
Neuheit des Lebens ist, von dem in Rom. 6 die Rede ist,
daß das futurum ressurrectionis in einer alles Verstehen
übersteigenden Weise gegenwärtig ist und wird, ohne
aufzuhören, unsere göttliche Zukunft zu sein, die noch
nicht erschienen ist. Ohne zu ahnen, daß an jedem
Punkte des Weges der novitatis vitae sich abgründige
Tiefen auftun, weiß die Exegese der Humanisten nichts
vom neuen Leben als Glaubens- und Hoffnungsleben,
als „nur im Glauben zu wagender Dialektik" (S. 81).
Das lehrt uns jedoch die Exegese Luthers, Melanch-
thons und ebenso Calvins, nicht aber in gleichem Maße
diejenige Bucers, trotz vieler fruchtbarer Gedanken auch
bei" ihm. Calvin weiß bei dem strengen Ausgerichtetsein
all seiner Gedanken auf die in der Auferstehung der
Toten hervorbrechende Herrlichkeit und wahrhaftige
Neuheit des Lebens um das „Aber", das allem Studium
pietatis zum kräftigen Antrieb und zur Krisis wird.
Bucer hingegen erscheint in seinen Ausführungen ständig
von der Gefahr falscher Unmittelbarkeiten bedroht, wenn
er auch einem gewiß völlig zu Recht bestehenden Anliegen
gehorcht. Nach augustinischem Ansatz läßt er
die Rechtfertigung in der Heiligung aufgehen, da es ihm
bei der Sicherung des sola fide gegenüber libertinischen

j Folgerungen um den vollen Ernst der Heiligung zu tun
ist (S. 63 ff., S. 109 ff). Auch Bucer kennzeichnet die
guten Werke als dona Dei faventis und hält so die reformatorische
Linie inne. Mit dem aus der franziskanischen
Theologie entlehnten Begriff des cooperari verläßt er
sie und hebt so die Spannung zwischen Gottes Alleinwirksamkeit
und des Menschen Selbstverantwortlichkeit
zu Gunsten des im Studium pietatis sich manifestierenden
Wirkens des Menschen auf. Dadurch aber wird der
reformatorische Ansatz überdeckt und von Einflüssen
durchkreuzt, die in die augustinische, franziskanische
und humanistische Gnaden- und Gerechtigkeitslehre zurückweisen
. In dem Verhältnis beider Linien zueinander
... besteht das Thema der inneren Auseinandersetzung
im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des Protestantismus
bis hin in die Auseinandersetzung innerhalb des
Protestantismus der Gegenwart (S. 65 f.). Darum ist
nach Ellwein alles daran gelegen, im Zentrum der reformatorischen
Theologie selbst sich auszukennen. In einem
Exkurs über Iustus et peccator simul (S. 66 ff.) schließt

E. sich an den Gedankengang der systematischen Untersuchung
von Prof. Dr. R. Herrmann an über Luthers
These „Gerecht und Sünder zugleich" (vgl. dazu die Besprechung
Thlg. Lit. Ztg. 1932, Nr. 20, S. 470 f. von

F. W. Schmidt, der gegenüber wegen ihres grundsätzlichen
Bedenkens gerade von Luther her Einwendungen
zu machen wären; Schmidt übersieht, daß Luthers Römerbrief
-Kommentar eigentlich kein Kommentar im üblichen
Sinne, sondern eine Art Tagebuch ist, wie Ellwein
mit H. Böhmer, „Der junge Luther" ausdrücklich
hervorhebt. E. S. 208). Mit Herrmann stellt Ellwein
die Tatsache fest: „Der Mensch steht in seiner
Ganzheit als Sünder vor Gott und simul in seiner Ganzheit
als Gerechter, aber das Letztere nur bedeckt von der
aliena iustitia Christi" (S. 67 ff.). Schon hier ergibt sich
die Notwendigkeit einer Verständigung über den viel
innigeren Zusammenhang von sog. histor. und System.
Theologie trotz der Berufung Schmidts auf Schlatters
Position als Neutestamentier. Eine Verwechslung von
neutestamentlicher Theologie und Dogmatik ist m. E.
Herrmann ebensowenig wie Ellwein nachzusagen. Beiden
kommt es vielmehr nur darauf an, auf Grund von
Luthers Ausführungen mit Paulus nachzuweisen, wie
das Leben des Gläubigen im Zeichen des simul in ständiger
Bewegung ist... ein ständiger Kampf um die
Rechtfertigung in quaerendo iustificationem (vgl. S. 72ff.
und vor allem auch S. 49 ff.). Diese Einsicht wird ohne
Eintragungen, wie die reichlichen, nicht aus dem Zusammenhang
gerissenen Zitate zeigen, eingehend dargelegt.
Von da aus gewinnen wir das Verlangen wieder, für die

I uns nur allzu lange nicht genügend wichtig gemachte Be-
j sehäftigung mit Luthers Römerbrief, die jeden Theologen
, den Alt- und Neutestamentier wie den Systemati-
I ker, und nicht zuletzt den Praktiker, fordert; doch der
gerade mag uns gegenüber unseren sine studio et ira
! nach Ellwein herausgestellten Tatsachen reform atori-
j scher Erkenntnis fragen: was sollen wir mit der Zusammenfassung
der Exegese von Rom. 6, die das Wesen
! der novitatis vitae im Zusammenklang ihrer einzelnen
j Momente erst als die „Neuheit des Lebens" kenn-
| zeichnet, so wie die Reformatoren sie verstanden? Wer
so fragt, lese, ja arbeite selbst diese vier Punkte
! (S. 134) durch, er wird sie nicht für sich nur nehmen,
sondern nun von vorne an Ellweins Tatsachenerweis zu
| folgen suchen, ihm zustimmen oder ihn als Luther-
j Scholastiker oder mit dgl. Schlagworten abtun — ein
j drittes gibt es nicht. Vor solchen Schlagworten, die
j nachgerade auch in der Theologie zu einer Modekrank-
I heit zu werden drohen — wohl auch ein Tribut der Thlg.
an das mit Schlagworten reich gesegnete „Zeitalter des
Säkularismus" — kann nicht nachdrücklich genug gewarnt
werden. Wer aber für solche Schlagworte nichts
übrig hat, der wird weiter lesen, vor allem auch aus
dem zweiten Exkurs über Spiritus et Charitas in Luthers
Römerbriefvorlesung und dem letzten Abschnitt