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Ausgabe:

1933 Nr. 5

Spalte:

93-95

Autor/Hrsg.:

Gogarten, Friedrich

Titel/Untertitel:

Politische Ethik 1933

Rezensent:

Dibelius, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 5.

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erste Teil noch Schwenckfeld zugesandt (1544), von
diesem aber nicht mehr beantwortet sei.

Die „Vermahnung" ist 1925 von Chr. Hege in der
„Gedenkschrift zum 400jährigen Jubiläum der Menno-
niten oder Taufgesinnten" (Ludwigshafen) neu gedruckt.
Dort hat Loserth eine Vorstudie biographisch-quellenkrir j
tischen Inhalts erscheinen lassen, die er in der Einleitung '
zu seiner Ausgabe der „Verantwortung" fortsetzt und
um ausführliche Inhaltsangaben, Mitteilungen über die
MSS. und eine Schilderung von Schwenckfelds Täuferbeziehungen
vermehrt. Die Textgestaltung bot bei der I
Art der Erhaltung keine besonderen Probleme, im allgemeinen
genügte der einfache Abdruck. So ist die |
Zahl der textkritischen Notizen nicht allzugroß, während j
die schon zum Verständnis des volkstümlichen Dialekts I
unentbehrlichen Erläuterungen reichlicher sind und auch |
sachliche Bemerkungen nicht fehlen. Ist die Ausgabe in
der Anlage des Apparats und den Literaturverweisen ein
wenig altmodisch, so schränkt das doch ihre Verwend- i
barkeit nicht ein, die nur durch Beifügung eines Sachregisters
noch etwas gehoben werden könnte. Auch |
wenn man die hohe Meinung L.s von dem umstand1-
lieben opus, das er „als eine siegreiche Apologie des j
Täufertunis" bezeichnen möchte, nicht teilt, wird man
es für höchst aufschlußreich halten und deshalb dem
greisen Herausgeber, der schon so viel zur Aufhellung
der Täufergeschichte getan hat, Dank wissen, daß er
es uns zugänglich gemacht hat.

Der Ausgabe sind zwei Beilagen mitgegeben. Die
erste ist ein Brief Marbecks, der ebenso wie das den
1. Teil einleitende Begleitschreiben M.s an Schwenckfeld
in allen drei MSS. mit der „Verantwortung"' verbunden
ist und der geschichtlich den Anstoß zu Schwenckfelds
ludicum gegeben hat (abgedruckt S. 50/1, vgl. S. 179).
Eine dem Brief angehängte Notiz des Züricher Codex
möchte ich so verstehen, daß der Briefwechsel mit Frau
Helene Streicher, der Freundin Schwenckfelds, in dem
Marbeck für die ihm nahestehende Magdalena Marschalk
von Pappenheim das Wort nimmt, bislang von dieser
selbst geführt war; nun ihr Lehrer eingreift, hat auch
Schwenckfeld sich zum Schreiben veranlaßt gesehen und
sein Iudicium ausgehen lassen, auf das dann wieder
die Täuferführer, wenn auch durch Marbecks Hand,
antworten: so sind unvermerkt aus dem Gedankenaustausch
der Anhängerinnen die offiziellen Kundgebungen
erwachsen, die die Grundsätze der ganzen Bewegung
feststellen!

Die 2. Beilage ist die Vorrede zu einer weiteren
Schrift des gleichen Kreises, der „Testamentserläuterung
", auf deren Zusammenhang mit der „Verantwortung
" der Herausgeber aufmerksam macht und die,
nahezu verschollen, noch des Neudrucks harrt.
(jöttinKen. H. Dörries.

Gogarten, Friedrich: Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung
Jena: E. Diederichs 1032. (II, 221 S.) 8°. RM 4.20; geb. 6.40

Das Verwunderliche an diesem Buch — das, um es
gleich zu sagen, eine sehr beträchtliche theologische
Leistung darstellt — ist der Titel. Mit Ethik hat es
wenig, mit Politik fast gar nichts zu tun. Wenigstens
wenn man diese Worte in ihrem geschichtlich gewordenen
Sinn anwendet. Und das muß nun einmal geschehen,
wenn Menschen sich untereinander verständigen sollen.
Man wird es tragen müssen, wenn der Systematiker überlieferte
Worte und Begriffe mit eigentümlicher Betonung
gebraucht. Gogarten tut das reichlich und nicht
immer ganz glücklich. Das Wort „Hörigkeit" z. B., das
er für das Ich-Du-Verhältnis braucht, bezeichnet in unserem
Sprachgebrauch das direktionslose Beherrschtsein
durch einen anderen. Diesen fatalen Beigeschinack wird
das Wort nicht so bald verlieren. Es wird sich daher
in der theologischen Sprache nicht einbürgern. Die Eigenmächtigkeit
des Sprachgebrauchs aber darf nicht auf
die Grundbegriffe des systematischen Denkens übergreifen
. Sonst hört jede Möglichkeit auf, sich mit den
Mitteln der Muttersprache zu verständigen.

Gogartens „Ethik" ist keine Ethik und will es nicht
sein. Das Buch müßte etwa heißen: „Die Rechtfertigung
aus dem Glauben. Nebst Nachweisung, daß es
auf dem Boden der lutherischen Dogmatik eine Ethik
nicht geben kann."

Von einer kraftvollen, ja radikalen Auffassung des
Rechtfertigungsglaubens aus — und darin liegt die Bedeutung
des Buches — wird das Verhältnis des Menschen
zu Gott und zu den Mitmenschen in eins gesetzt.
Schöpfung und Erlösung gehören zusammen. Das „Gute
Gottes", das dem Menschen in der Erlösung geschieht,
ist dasselbe, das ihm in der Schöpfung zuteil wird. Das
„Du sollst", mit dem Gott den Menschen anredet, hat
lediglich den Sinn, daß es den Menschen in die rechte
Erkenntnis seiner selbst treibt — nämlich in die Erkenntnis
seiner schuldhaften Nichtigkeit und von da aus in die
Erlösung. Diese Erkenntnis des Bösen ist für Gogarten
der eigentlich ethische Vorgang. Alles andere, die Beziehungen
der Menschen zueinander, die „Ordnungen,
Institutionen und Fertigkeiten" des Lebens, auch das,
was man sittliche Zucht nennen kann, Sitte, Ideale usw.,
kurz das, was man das Gebiet des Ethischen nennt,
rechnet er zum „uneigentlichen ethischen Phänomen".
Die sittlichen Forderungen, die für diese Beziehungen
der Menschen zu einander erhoben werden, gehen lediglich
darauf aus, „daß der böse Mensch das tue, was nötig
ist, damit die äußere, wenn man will, die uneigentliche
I Hörigkeit der Menschen gegeneinander gewahrt bleibt,
die nötig ist, damit das menschliche Leben in Ordnung
gehalten und so erhalten bleibt" (S. 117).

Dogmatik und Ethik, Glaube und Sittlichkeit werden
hier im Zeichen des 1. Gebots, das von der Rechtfertigung
her verstanden wird, in eins zusammengezwungen
. Und zwar unleugbar eindrucksvoll. Niemand, dem
es um geschlossenes Denken vom reformatorischen Glau-
I ben her zu tun ist — und wem wäre nicht darum zu
I tun? — wird diesem Versuch den Respekt versagen.
| Es fragt sich nur, ob der Versuch geglückt ist.

Die Kritik wird sich nicht aufhalten bei den zahl-
! reichen Eigenwilligkeiten der Definition und derGedan-
! kenführung, mit denen Gogarten den Andersdenkenden
! zum Widerspruch reizt. Die Kritik wird vielmehr die
] Frage stellen müssen, ob es möglich ist, auf dem von
| Gogarten beschrittenen Wege zu dem Reichtum und zu
[ der Gewalt der ethischen Forderungen der Heiligen
i Schrift, aber auch der reformatorischen Predigt, zu gelangen
. Diese Frage stellen, heißt, sie verneinen. Bei
j Gogarten gibt es ein „Du sollst", das lediglich den
j Zweck hat, mich in die Erkenntnis meiner Nichtigkeit
] zu stürzen. Der Inhalt des „Du sollst" ist gleichgültig,
j Es würde völlig genügen, wenn der Dekalog nur aus
! dem 1. Gebot bestünde. Daneben gibt es dann die un-
| eigentlichen ethischen Forderungen, die „Man-tut-das-
und-das-Forderungen", wie Gogarten sagt. Diese aber
sind nur dazu da, die Ordnungen des menschlichen
I Lebens in Gang zu halten. Sie sind aus der „Polis" zu
I begründen, nicht aus dem Absoluten. Für den übrigen
Inhalt des Dekalogs, für den Inhalt der Bergpredigt,
für die Forderungen der neutestamentlichen Briefe ist
nirgends Raum. Selbst das Gebot der Liebe kommt
kaum irgendwo zur Geltung. „Konkrete Forderungen
von der Art des ,Du sollst', deren konkreten Inhalt man
verwirklichen könnte, gibt es gar nicht" (S. 152). Das
ist ungefähr das — Gogarten, der so viel vom Gesetz zu
sagen weiß, möge die Parallele verzeihen — was die
Poach und Otho im antinomistischen Streit auch meinten,
als sie vom Gesetz nur anerkennen wollten, daß es Erkenntnis
der Sünde wirkt und das „politische" Leben in
Ordnung hält, während sie den tertius usus legis, daß
nämlich die Christen wissen sollen, welche Taten Gott
i von ihnen fordert, leidenschaftlich bekämpften. Luther
ist das nicht. Und wer je in den gewaltigen Forderungen
des Alten und des Neuen Testaments das „Du sollst"
seines Gottes gehört hat, ein „Du sollst", das nicht nur
eine Erkenntnis, sondern eine Tat fordert, eine ganz kon-
i krete Tat, die ich zwar nicht tue, weil ich ja ein Sünder