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Ausgabe:

1933 Nr. 3

Spalte:

47-52

Autor/Hrsg.:

Goguel, Maurice

Titel/Untertitel:

La Vie de Jésus 1933

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 3.

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Arbeit beschäftigt er sich dann mit den für seine Fragestellung
komplizierteren ethischen Auffassungen Philos
wie Familie und Familiensitte, Sexualethik, Gerechtigkeit
, Eigentum u. a. m.

Aus feinem Verständnis des Hellenismus heraus und
feinem Gefühl für jüdische Lebensart geht H. die einzelnen
Fragenkomplexe durch. Er zeigt m. M. n. überzeugend
, wie Philo von seiner jüdischen Herkunft aus die
Auswahl unter dem hellenistischen Bildungsgut trifft,
und wie andererseits gerade der Hellenismus alles
Rituelle und Partikularistische im Judentum zurückdrängt,
und wie Philo oft genug echt jüdische Anschauungen
mit hellenistischen Motiven unterbaut. So ist die Herausarbeitung
einer Synthese von griechischer Kultur und
jüdischer Frömmigkeit Philos geschichtliche Aufgabe.

H. hat uns ein Werk von vorbildlich methodischer
Exaktheit und gründlichster Sachkenntnis geschenkt,
dessen Ergebnissen im ganzen zuzustimmen ist. Die
Philoforschung wird, auch wo sie sich Einzelfragen zuwendet
, immer wieder von der hier aufgeworfenen Fragestellung
ausgehen müssen. H. führt nicht zu vorschnellen
Lösungen, zeigt die ganze Schwierigkeit der
Probleme, ist aber m. E. n. den Weg gegangen, der
Philos kultureller Vielbezogenheit wie seiner jüdischen
Herkunft gerecht wird. Es wäre kleinlich, mit einem
Buch, dessen Methode und Grundthese man für durchaus
richtig hält, in Einzelheiten zu rechten; so scheint
mir H. im Punkt der Sexualethik z. B. nicht immer
ganz richtig Hellenismus und pharisäisches Judentum
anzusehen. Aber da handelt es sich um Abstufungen,
die für den Gesamtaufriß nicht in Frage kommen.
Aufs Ganze gesehen, kann man nur mit herzlichem
Dank und reiner Freude H.s Buch zur Hand nehmen
und aus der gründlichen und, wie er schreibt, auf 20-
jährige Forschung zurückgehenden Arbeit immer wieder
lernen.

In einer Studie in der Zweimonatzeitschrift „Der
Morgen", Jg. 7, H. 5 u. 6, und Jg. 8, H. 1, die als
Sonderdruck erschienen ist (Philo-Verl. Berlin 1932) betitelt
„Die griechische Weltanschauungslehre bei Juden
und Römern", der die obige Arbeit zugrunde liegt, und
auf die ich hier nur kurz zustimmend hinweisen möchte,
formuliert H. seine These so: „Wie ihn (- Philo) sein
Judentum zum besseren Hellenen macht, so umgekehrt
sein Hellenentum zum besseren Juden".

H.s ganze Fragestellung wird — so kann ich nur
hoffen — die Philoforschung wesentlich befruchten
und an Einzeluntersuchungen immer wieder nachzuprüfen
sein.

Breslau (z. Zt. Halle a. S.). Herbert Preisker.

Goguel, Maurice: La Vie de Jesus. Paris: Payot 1932. (586 S.)
8°. == Bibliotheque Historique. J6sus et les Origines du Christi-
anisme I. Fr. 60—.

Nachdem das 19. Jahrhundert eine Hochflut von
Versuchen hervorgebracht hatte, das Leben Jesu geschichtlich
zu erfassen, sind in den letzten 30 Jahren an
wissenschaftlichen Werken über das Leben Jesu nur
kleinere Skizzen erschienen, die fast durchweg das
Hauptinteresse der Lehre Jesu schenkten. Und es ist
auch bekannt, daß die Auflösung des Vertrauens in die
Darstellung des Mk.-Evangeliums, wie sie besonders
durch Wellhausen und Wrede eingeleitet wurde, den
Hauptgrund für diesen Verzicht auf ein Leben Jesu bildete
. Dazu kam neuerdings die Einsicht in die Bedingtheit
der evangelischen Tradition durch das religiöse
Leben der ältesten Gemeinde. So schien die Möglichkeit,
ein zusammenhängendes Leben Jesu zu schreiben, für
die kritische Forschung endgültig beseitigt.

Maurice Goguel, der durch mehrere Werke an dieser
ganzen Entwicklung entscheidend beteiligt ist, hat dennoch
in einem sehr bedeutsamen Werk den Versuch gemacht
, trotz aller kritischen Erkenntnisse über die Kritik
hinaus zur historischen Konstruktion zu kommen. Was
veranlaßt ihn dazu? Nach G.s Meinung beruht der
Skeptizismus auf einer Vermischung des historischen und

religiösen Problems. Man habe von der Geschichte Jesu
eine absolute Sicherheit verlangt, wie sie nur der
Glaube bieten könne. Obwohl das geschichtliche und das
religiöse Problem eng zusammenhingen, so müsse und
könne man doch die Geschichte betrachten „avec un
; desinteressen.ent philosophique et religieux absolu" (S.
j 184). Diese rein historische Arbeit aber habe zwei
; Voraussetzungen: die Quellen müssen analysiert und geprüft
werden, und die so gefundenen Tatsachen müssen
mittels Chronologie, Geographie und Psychologie geordnet
und verbunden werden. Wie bei jeder historischen
Arbeit müsse daher auf der Psychologie letztlich jeder
S Versuch ruhen, das Leben Jesu darzustellen. Die Gefahr
i des Subjektivismus sei dabei groß, aber die kritische
i Wissenschaft könne davor bewahren. Goguel will also
! die Geschichte Jesu von innen heraus rekonstruieren.
I Außerdem soll ein angekündigter 2. Band zeigen, daß
; sich von der so gezeichneten Grundlage aus die Entstehung
der ältesten Gemeinde verstehen lasse.

Dem hier skizzierten methodischen Kapitel schickt
j Goguel aber zuerst eine sorgfältige Untersuchung der
! Grundlagen voraus. Einer kurzen, gut gegliederten Ge-
| schichte der Leben-Jesu-Forschung folgt zunächst eine
j Besprechung der nichtchristlichen Quellen, von denen
nach Goguel die talmudischen ganz von der christ-
I liehen Tradition abhängen, während Tacitus aus heid-
! nischer Quelle schöpft (hinter der aber doch auch christ-
liehe Erzählung stehen könnte!). Im Anschluß an Eisler
i nimmt auch Goguel an, daß der Samaritaner Thallus
um die Mitte des 2. Jahrh. die Leidensgeschichte kennt
(Windischs Bedenken gegen die Identifizierung des Thal-
i lus mit dem oUo? 2u(ittoei>c aus Jos. Ant. 18 § 167 [Th.
Rundsch. 1929, 286] ist nicht berücksichtigt). Ein 3. Kapitel
weist nach, daß Paulus durch seine verschiedenen
Erklärungen des Todes Jesu und die von ihm wiedergegebenen
Traditionen zeigt, daß seiner Lehre von Chri-
| stus eine historische Tatsache zu Grunde liegt. In der
i Besprechung der Evangelien nimmt G. sodann an, daß
Mk. nachträglich verändert und erweitert worden sei, daß
die Redequelle Mt. und Lk. in verschiedener Form vorgelegen
habe. Wenn G. wieder die Redequelle mit
Papias „Logia" nennen will, so liegt dabei jedoch zweifellos
ein Mißverständnis des Papias vor, der nicht von
einer Quelle des Mt., sondern von den „OrakelSprüchen
Jesu" redet (vgl. Bacon, Gospel of Matthew, 1930,
i S. 3 ff., 443 ff.). Der Mk.-Rahmen ist unzuverlässig
j und nur mit äußerster Vorsicht zu benutzen. Im Joh.-Ev.
sind nur die verwendeten Traditionen wertvoll. Was die
I den Evangelien zu Grunde liegende Tradition angeht, so
j ist eine Anwendung der Gesetze volkstümlicher Über-
: lieferung auf die evangelische Tradition, also die form-
i geschichtliche Betrachtungsweise falsch, weil sie nicht
; auf direkter Beobachtung der Texte selber beruht. Viel-
| mehr: „une seule methode permet de reoonnaitre le veri-
table charactere de Revolution de la tradition evangeli-
; que, c'est l'analyse des recits paralleles et la recherche
; des causes de leurs transformations" (145). Freilich
| sollen dann doch aus dem ältesten erhaltenen Bericht die
Zuwüchse der Tradition entfernt werden, ohne daß man
die Linien nach rückwärts verlängern dürfe, die man bei
der Verglieichung der Parallelberichte entdeckt hat. Wie
| das geschehen soll, wird auch in der nun folgenden
methodischen Erörterung nicht klar, von der schon die
Rede war.

Die eigentliche historische Arbeit beginnt Goguel
i mit einer chronologischen Untersuchung, die aufgrund
von Joh. 2, 20 und Luk. 3, 2 den Tod1 Jesu auf Passah
28 verlegt. Der Aufenthalt Jesu in Jerusalem muß länger
gedauert haben, als die Synoptiker angeben; nun
! zeigt sich in Joh. 7, lff. und 10, 40 ff. eine Quelle, nach
i der Jesus vor dem Tempelweihfest nach Jerusalem kam,
sich dann jenseits des Jordans aufhielt und zum Passah
wieder nach Jerusalem zurückkehrte. Daraus ergibt sich,
daß Jesus seine Tätigkeit Anfang 27 in Galiläa begann
und von Sept. 27 bis Passah 28 in und bei Jerusalem