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Ausgabe:

1933 Nr. 23

Spalte:

419-420

Autor/Hrsg.:

Stelzenberger, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa 1933

Rezensent:

Strathmann, Hermann

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Seite 1

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419

Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 23.

420

direkte paulinische Herkunft des Eph. ins Feld führt,
werden durch sie nicht aufgehoben, und wenn der Vf.
nicht Paulus sein sollte, so beweist R.'s schöne Auslegung
, daß der Vf. in der Tat kein bloßer „Epigone"
war, vielmehr ein dem Meister kongenialer, gleich geistesmächtiger
Schüler.

In echter Ergriffenheit ist vor allem der Gedankenlaut
des schwierigen Eph. wiedergegeben. Die Erhabenheit
der gewaltigen um den Christus als die Mitte sich
bewegenden Meditationen wird dem Leser eindrucksvoll
vor die Augen gestellt. Dasselbe gilt von den christo-
logischen Partien des Kol. Daß die immer zum höchsten
und Absoluten aufsteigenden Sätze des Paulus
von der gnostischen Irrlehre aus zu verstehen sind, deren
Behauptungen eben überboten werden müssen, wird immer
wieder, zu beiden Briefen, hervorgehoben. Die
Erklärung der dogmatischen Partien zeichnet eine gewisse
Ausführlichkeit aus, die dann durch eine mehr
summarische Behandlung der ethischen und rein brieflichen
Partien ausgeglichen wird.

Auch in den theologischen Partien geht der Vf. freilich manchmal
über diese oder jene schwierige Einzelstelle hinweg. So wird z. B. nicht
ausdrücklich gesagt, daß die „Propheten" Eph. 3,20 die christlichen
Propheten sind (es wird freilich aus dem Zusammenhang dem Leser
klar), und gar nichts hören wir zu Eph. 3, 5 f., über den auffallenden,
paulinische Autorschaft zweifelhaftmachenden Ausdruck .heilige Apostel
und Propheten'. Über das mystische Bild von der Ehe 5, 32 läse
man gern etwas mehr; daß das . . Bild von der Kirche als einer Frau
hier seinen Ursprung habe, ist wohl nicht ganz richtig formuliert.
In der Erklärung von Kol. 1, 24 kommt das Merkwürdige nicht recht
zur Geltung, daß R. sich hier als den hinstellt, der als Einziger nach Christus
für die Gemeinde das Leiden abzutragen hat. Zu dem heute Vielen so
ärgerlichen Worte ,kein Grieche, kein Jude' Kol. 3, 11 endlich betont
R., den Weg zu der Einheit der Christenheit sei für Paulus nicht die
Leugnung der Unterschiede zwischen Völkern und Kulturen, sondern das
sich Begegnen in der Wirklichkeit; nicht das Schwärmen von Einheit,
sondern das Ablegen der trennenden Sünde. Das positiv Gesagte ist
paulinisch, das Negative ist mehr Eintragung in Paulus aus modernem
Empfinden heraus. Das Wort ist vielleicht das einzige in Kol., das
R. nicht voll auszuschöpfen vermag. (Auch W. Beyer ist zu dem
Parallelspruch Gal. 3, 28 zu stark bemüht, die Tragweite für Paulus einzuschränken
, so wenn er bemerkt: innerhalb der Kirche, soweit sie Gemeinschaft
mit Jesus Christus ist (d. h. wohl: aber nicht in der
organisierten Kirche) . . ist auch der Gegensatz von Beschnittenen und
Unbeschnittenen aufgehoben.)

Zum Schluß: kann das neue Göttinger Bibelwerk das
alte ersetzen und hat dieses neben jenem nun als ein
veraltetes zu gelten? Keins von Beidem. Das neue kann
sich, was wissenschaftlichen Gehalt angeht, neben dem
alten sehen lassen; es hat den Vorzug vor dem alten,
daß es zu unserer heutigen Gegenwart in größerer Nähe
steht und das Theologische stärker herausarbeitet als
das in mehreren Teilen des alten der Fall ist. Aber in
seiner Eigenart behält das alte durchaus seinen Wert,
an wissenschaftlichem Gehalt bleibt es in manchen Teilen
sogar dem neuen überlegen. Jülicher's Auslegung ist
auch durch Althaus' tiefgrabende Exegese nicht ersetzt.
Bousset's Beiträge (Kor. und Gal.) müssen um ihrer
religionsgeschichtlichen Gesichtspunkte willen von einem
gewissenhaften Theologen auch heute noch studiert werden
, u.s.w.

Wir wünschen dem schönen Werke guten Fortgang.
Die nächste Besprechung wird es mit dem ersten Band
zu tun haben, der die vier Evangelien enthalten wird.
Kiel. H. Windisch.

Stelzenberger, Dr. theol. Johannes: Die Beziehungen der
frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa. Eine
moralgeschichtl. Studie. München: M. Hueber 1933. (XX, 523 S.)
gr. 8°. RM 20.80.

Diese sehr sorgfältige und gelehrte Arbeit des Würzburger
Privatdozenten für Moraltheologie St., der zu
ihr von seinem dortigen Lehrer Geh.-Rat Ruland angeregt
worden ist, setzt sich die Aufgabe, den Einfluß zu
untersuchen, den die stoische Ethik auf die Ausbildung
der altkirchlichen Sittenlehre gewonnen hat. Der altkirchlichen
! Denn die Untersuchung zieht planmäßig

die Entwicklung bis zur Zeit Gregors des Gr., im Ein-
! zelnen oft noch weiter herab, in Betracht, während das
N. Testament fast nur nebenher in einigen Abschnitten
gestreift wird. Der Verf. verfährt so, daß er nach einem
Überblick über die Entwicklung der Stoa und das allgemeine
Verhältnis der Kirchenschriftsteller zur antiken
Philosophie und besonders zur Stoa, die beiderseitige
Stellung zu den einzelnen ethischen Fragegebieten untersucht
und jeweils das Verhältnis bestimmt. In dieser
Weise werden nacheinander die Lehre vom Naturrecht,
vom naturgemäßen Leben, vom Gewissen, von der
j Pflicht, vom Ideal des Weisen behandelt. Die nächsten
Kapitel sind der Güter- und Tugendlehre und der Lehre
von den 7 (8) Hauptsünden, der Sexualethik und der
Diatribe als einer Form, alle möglichen ethischen Einzelfragen
zu behandeln, gewidmet. „Christliche Paraphrasen
stoischer Schriften" bilden den Schluß. Das Ergebnis
ist, daß von der Zeit der Apologeten an jedesmal
ein fortschreitend sich verstärkendes Eindringen
stoischen Ideengutes und stoischer Formulierungen festzustellen
ist. Klemens AI. im Osten, Ambrosius im
Westen sind für diese Entwickelung besonders bezeichnend
. Philo von Alex, dort, Cicero (de off.), Seneka
im Westen waren besonders wirksame Vermittler. Das
I Mönchtum, wenn auch nicht in seinen Anfängen so doch
in seiner weiteren Entwicklung nimmt in reichem Maße
stoische Motive auf (Euagrius Pontikus). Der stoische
Rigorismus färbt die sexualethischen Anschauungen der
kirchlichen Vertreter. Das Schema der 7, ursprüngl. 8
Hauptsünden hat durchaus stoische Wurzeln und daß
man Epiktets Enchiridion und Schriften Ciceros und
Senekas in christliche Schriften umfrisierte zeigt besonders
deutlich die Stärke des stoischen Einflusses auf
die kirchliche Ethik.

Nun ist dies alles gewiß nicht neu. Die Arbeit
faßt zusammen, was zuvor in vielen Einzelbeobachtungen
niedergelegt war. Aber diese Zusammenfassung ist doch
sehr verdienstlich und eindrucksvoll. Sie ist leicht lesbar
, wenn auch etwas breit, geschrieben. Die Literatur-
j angaben aus alter und neuer Zeit sind peinlich genau.
Eine Schranke liegt in einem Doppelten. Der Verf.
will einen Beitrag zur „Geschichte der Moraltheologie"
geben, die darzustellen habe, „wie aus den in der Offenbarung
grundgelegten (?) Wahrheiten durch Hinzunah-
! me von Vernunfterkenntnissen eine wissenschaftliche, sy-
| stematische Sittenlehre des Christentums geworden ist".
■ Was aus der Stoa hinzugekommen ist, fällt also unter
die hinzugekommenen Vernunfterkenntnisse. Die Offenbarung
der Bibel ist also grundsätzlich von solchen Einwirkungen
unberührt. Von einer Einwirkung in dem
Sinne, „als ob die antike Philosophie auf die Lehrsätze
eingewirkt hätte, die in der Offenbarung der hl. Schriften
enthalten sind" „kann keine Rede sein". Das N. T. wird
j daher fast übergangen, jedenfalls nicht ernstlich in die
| Untersuchung einbezogen. Aber dann wird doch festge-
| stellt, daß dem Paulus der Ausdruck Gewissen doch
wohl aus der stoischen Popularphilosophie zugekommen
sei. Und auch an Rom. 2,15 kann Verf. natürlich nicht
I vorübergehen. Die Gebiete lassen sich eben in dieser
! Weise doch nicht gegeneinander isolieren.

Ein zweites Bedenken bezieht sich darauf, daß bei
dem vom Verf. gewählten Feststellungsverfahren das
I Gewichts- und Funktionsverhältnis der ursprünglich
christlichen und der stoischen Elemente in der Gesamt-
| haltung der in den Kreis der Beobachtung gezogenen
j Männer und Zeiten nur schwer deutlich zu machen ist.
Der Verf. hat diese Schwierigkeit selbst empfunden und
z. B. darauf hingewiesen, daß viele Männer besonders
der östlichen Kirche dem Einfluß der Stoa nicht unterlagen
. Aber das Verdienst des Verfassers, weit zerstreute
Materialien zu dem Bilde eines übersichtlichen
Entwicklungsvorgangs von großer Bedeutung zusammengefaßt
zu haben, wird dadurch nicht geschmälert.
Erlangen. H. Strathmann.