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Ausgabe:

1933 Nr. 18

Spalte:

332

Autor/Hrsg.:

Jaspers, Karl

Titel/Untertitel:

Die geistige Situation der Zeit 1933

Rezensent:

Winkler, Robert

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331

Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 18.

332

Luther habe unserer Kirche das Wahrheitsproblem neu
gestellt, Schleiermacher habe es entscheidend weitergeführt
. Luther habe den Nachdruck auf den Gegensatz
zwischen der Wahrheit Gottes und der Wahrheit der
Menschen gelegt, um die falsche Sicherheit des kirchlichen
Wahrheitsbewußtseins zu erschüttern; Schleiermacher
habe die Problematik der kirchlichen Wahrheit
als der gleichwohl einzigen für uns greifbaren Wahrheit
entwickelt.

Im II. Hauptteil liegt das Schwergewicht der Argumentation
Pipers auf den Darlegungen über das Lehramt
der Kirche (3. Kap.) und über das Bekenntnis
(5. Kap.). Hier wird die Linie Luther-Schleiermacher in
ihrer entscheidenden Grundintention streng
durchgeführt, indem in doppelter Frontstellung ebenso
sehr alle rationalistische Verflachung wie die katholi-
sierende Verengung traditionalistischer Orthodoxie abgelehnt
wird. Wir müßten an der Bibel wie an der Kirche
ihre menschliche Natur und den durch sie wirksamen
Heiligen Geist unterscheiden. Die Kirche sei nur insofern
der Leib Christi als sie durch den Heiligen Geist
mit Christus als dem Haupt geeint sei. Aber andererseits
sei auch ganz Ernst damit zu machen, daß die Kirche
der Leib Christi ist. Die reine Lehre der Kirche sei demnach
diejenige Form der ülaubenserkenntnis, die durch
das Glaubensleben der Kirche im Zusammenleben ihrer
Glieder erzeugt wird und die eben deshalb stets erneuter
Aktualisierung bedarf. Lehrautorität habe also die Kirche
als die Gemeinschaft der Glaubenden, (nicht der
Einzelne und auch nicht die organisierte Kirche). Die
kirchliche Wahrheit trete aber im Protestantismus in der
Form von Bekenntnissen auf, im Katholizismus in der
Gestalt von Dogmen. Während im Katholizismus die
Dogmen als Gegenstand des Glaubens gelten, seien
im Protestantismus die Bekenntnisse Ausdruck des
Glaubens, der durch sie Zeugnis ablegt.

Diese Gedanken werden in der Auseinandersetzung
mit den neuesten Äußerungen Erik Petersons („Briefwechsel
mit Harnack" Hochland 1932/33, Heft 2) in
konkretester Weise belegt. Dabei ergibt sich auch die
enge Zusammengehörigkeit der Gesamtposition Petersons
mit der „neueren Entwicklung" Karl Barths (S. 99).

Im Rückblick auf das Ganze muß ich allerdings als
Vorbehalt die Frage hinzufügen, ob der Verfasser das
Verständnis seiner tiefschürfenden Darlegungen nicht
teilweis durch die Eigenart seiner Terminologie mehr erschwert
als erleichtert hat. Das gilt schon für die übergreifende
, seine ganze Gedankenführung beherrschende
Unterscheidung zwischen „ungeschaffener" und „geschaffener
" Wahrheit. Erstere meint Gott selbst als die
allein absolute Wirklichkeit und die Lebensgemeinschaft
mit ihm als Geschenk seiner freien Gnade. Die „geschaffene
Wahrheit" aber bedeutet die endlich-menschliche
Erfassung jener allein absoluten Wirklichkeit, die
für den Menschen in seinem Erdenleben stets relativer
Art ist und bleibt (1. Kor. 13,12). Mit dieser Unterscheidung
hängt dann aufs engste die andere zwischen
Heilserkenntnis und Glaubenserkenntnis zusammen, indem
die Heilserkenntnis der ungeschaffenen, die Glaubenserkenntnis
der geschaffenen Wahrheit zugeteilt wird.
Empfiehlt es sich nicht vielmehr, Heilserkenntnis
und Glaubenserkenntnis als Korrelatbegriffe zu nehmen,
die denselben Sachverhalt unter verschiedenen Gesichtspunkten
bezeichnen — und dann diesem Begriffspaar
das andere gegenüberzustellen: Heilserfahrung und Glaubenserfahrung
? Heilserfahrung ist nur als Glaubenserfahrung
möglich; andererseits ist Glaubenserfahrung
•ihrem Inhalt nach immer Heilserfahrung — d.h. Erfahrung
des Heilswirkens Gottes gegenüber „Sünde, Tod
und Teufel". Entsprechend sind Heilserkenntnis und
Glaubenserkenntnis Korrelatsbegriffe, die eben jenen
Sachverhalt vom Standpunkt menschlichen (auch kirchlichen
!) Glaubensdenkens aus soweit wie möglich zu
klären suchen.

Schließlich drängt sich geradezu die Frage auf, ob

nicht die ganze vom Verfasser durchgeführte Untersuchungsart
und Betrachtungsweise, die immer vom
Peripherischen ausgehend doch in die letzte Tiefe durchzudringen
sucht, sachgemäß als religionspsychologisch
zu bezeichnen ist. Natürlich ist dann dieser Begriff nicht
im Sinne irgend einer Art positivistischer Psychologie
der Vorkriegszeit gemeint, sondern im Sinne existentieller
Psychologie. Aber so allein entspricht es ja der
Linie Luther-Schleiermacher. Und wie sehr heute auch
die philosophische Arbeit sich zu solch existentieller
Psychologie gedrängt sieht, kann man sich z. B. an dem
Buch Fritz Heinemaon's „Neue Wege der Philosophie"
(Leipzig, Quelle u. Meyer) aufs deutlichste veranschaulichen
.

Diese Vorbehalte formal-terminologischer Art ändern
aber nichts an dem vorher ausgesprochenen Urteil, daß
hier ein für die heutige theologische Systematik außerordentlich
fruchtbares und förderliches Buch vorliegt.

Göttingen.___O. Wobbermin.

Jaspers, Prof. Dr. Karl: Die geistige Situation der Zeit.
Berlin: W. de Gruyter&Co. 1931 (191 S.) kl. 8" = Sammlung Göschen
Bd. 1000. geb. KM 1.80.

J. zeichnet in diesem 1000. Göschenband in eindrucksvollster
Schilderung die Zerstörung des Menschen
durch den „Apparat", mit Hilfe dessen er sein „Dasein"
sichern und mit Sinn erfüllen will. In einer Fülle von
Bildern, an den verschiedensten Phänomenen unserer
Zeit, der Technik, dem Sport, der Presse, der Nivellierung
, der Bildung, der Ausbildung eines Spezialistentums
, an Marxismus, Psychoanalyse und Rassentheorie,
an der Glaubenslosigkeit des modernen Menschen u. a.
wird anschaulich gemacht, wie der Mensch unter „der
Herrschaft des Apparats" seines „Selbst-Seins" verlustig
geht. „Während die Möglichkeiten extensiver Daseinserweiterung
ins Unermeßliche gestiegen sind, ist eine
Enge fühlbar geworden, welche der existentiellen
Möglichkeit den Atem zu rauben scheint" (S. 180). Die
Aufgabe der Philosophie ist es, aus dieser Verlorenheit
an die Massenordnung des Daseins den Menschen an sich
selbst zu erinnern (S. 191). Der Mensch muß wieder
er selbst werden und das kann er nach J. nur als einzelner
(nicht in der Kirche) und nur durch einen
philosophischen Glauben (nicht als religiöse Existenz
). „Heute ist Philosophie den bewußt Ungeborgenen
die einzige Möglichkeit" (S. 128). Dabei kommt
freilich nicht zu letzter Klarheit, ob dieses „Selbstwerden
" Geschenk der „Transzendenz" ist — J. lehnt das
Mit-Gewalt-Glauben-wollen ab (S. 128), und seine das
„Selbst-sein" erweckende Existenzphilosophie will „die
Philosophie des Menschseins sein, welche wieder über
den Menschen hinauskommt" (S. 134) oder sich durch
die Initiative des menschlichen Willens dazu aus dem
eigenen Grunde verwirklicht. Man muß das letztere
annehmen, wenn J. den philosophierenden Menschen
in seiner dreibändigen „Philosophie" mit dem Münchhausen
vergleicht, der sich an seinem eigenen Schopf aus
dem Sumpf herauszieht (I. S. 327). Freilich würde J.,
auch wenn die erstere Deutung die richtige sein sollte,
seinen „Glauben" nicht als religiös erkennen können,
da er Religion und Kirche nur unter römisch-katholischem
Aspekt sieht. Dies hindert ihn auch, die Parallelen
zu erkennen, die zwischen seinen philosophischen und
den evangelisch-protestantischen Perspektiven ohne Zweifel
bestehen (Vergl. meinen Aufsatz: Philosophische
oder theologische Anthropologie? in Z. Th. K. 1933, 2.
Heft). Das Faszinierende an dem Buch ist die Diagnose
unserer Zeit. Die weitere Entfaltung der jungen Kräfte
des neuen Deutschlands wird zeigen, ob sie doch nicht
zu grau in grau gegeben ist. Die Existenzphilosophie
selbst bescheidet sich ja damit, daß das Erdenken der
geistigen Situation der Zeit „am Ende nicht weiß, was
ist" (S. 24). „Was geschehen wird, sagt keine
1 zwingende Antwort, sondern das wird der Mensch, der
lebt, durch sein Sein sagen" (S. 191).
Heidelberg. _ Robert Winkle r.