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Ausgabe:

1933 Nr. 1

Spalte:

292-293

Autor/Hrsg.:

Steffes, Johann Peter

Titel/Untertitel:

Religion und Religiosität als Problem im Zeitalter des Hochkapitalismus 1933

Rezensent:

Wendland, Johannes

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291

Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 15/16.

292

Urteile ergänzt und berichtigt, wo er sich dazu berufen
fühlt. Das Recht, mitzureden, wird dem Gründer und
seit über 40 Jahren Leiter der Revue biblique, dessen
Name in der Gelehrtenwelt internationalen Klang hat,
Niemand bestreiten wollen. Wirklich ist er in der Lage,
aus dem Schatz seiner persönlichen Erfahrungen vor
und hinter den Kulissen Wertvolles beizusteuern. Er
tut das, auch wo es sich um scharfe Gegnerschaft handelt
, durchweg in vornehmem Ton, den er auch dann
beibehält, wenn er sich oder Andere (etwa seinen Freund
und Kampfgenossen Batiffol) durch Loisy verletzt fühlt
und fühlen darf. Auch sein Gegner wird das zugeben
müssen, wenn er, woran man nicht zweifeln möchte,
seine rasche Feder zu einer Antwort ansetzen wird.
Für die Einzelheiten der Fehde die Aufmerksamkeit
unserer Leser in Anspruch zu nehmen, scheint mir nicht
am Platze. Mit schmerzlichem Bedauern wird man lesen,
daß L. da, wo er von dem Eindruck spricht, den auch
auf ihn Harnacks „Wesen des Christentums" gemacht
hat (S. 105), anmerken zu sollen glaubt: „D'ailleurs
ä cette epoque on ne savait pas la servilite et la versati-
lite du savant berlinois, telles que M. de Bülow lies a fait
connaitre." So hat das infame Geschwätz des ehemaligen
„Freundes" auch jenseits unserer Grenzen seine vergiftende
Wirkung getan.

Noch auf etwas Anderes möchte ich hinweisen. Der
zweite Teil des Buches, der eine gewissermaßen systematische
Auseinandersetzung mit Loisys Gedankenwelt
bringt, enthält einen längeren Abschnitt über die Ent-
wickelung der neueren Evangelienkritik, die Lagrange,
wie wir aus den Referaten in der Revue biblique wissen,
stets aufmerksam verfolgt hat. Dieser Abschnitt gipfelt
in einer Darlegung der form- oder traditionsgeschichtlichen
Methode: le culte de Jesus source de la tradition
evangelique. Mit überraschender Deutlichkeit tritt einem
hier entgegen, wie gut (ich sage nicht geschickt, um jeden
Nebensinn zu vermeiden) der katholische Exeget
die Ergebnisse dieser Methode für seine Grundvoraussetzungen
fruchtbar zu machen weiß (S. 239f.): „Les
ecrits du Nouveau Testament sont l'expression d'une
foi, c'est incontestable, mais d'une foi reposant our une
realite, qui atteste qu'elle ne serait pas nee sans cette
realite. Cette foi est bien celle de la oommunaute,
c'est-ä-dire de l'Eglise... Reduite ä sa juste mesure, la
part que l'ecole de l'histoire des formes reconnait ä la
communaute est simplement la negation du principe
lutherien... On peut donc oondure du travail de la
critique que l'exegese lutherienne n'existe plus scienti-
fiquement." Ich habe hier nicht die Aufgabe, die formgeschichtliche
Methode gegen Mißverständnisse zu schützen
, würde mich auch nicht belastet fühlen, wenn L.,
so oder so, Recht behalten sollte. Kategorien wie katholisch
, lutherisch, kirchlich haben nun einmal in der
Wissenschaft kein Bürgerrecht. Bei der Beschäftigung
mit dem Urchristentum haben wir lediglich zu fragen
und, so weit möglich, festzustellen, wie die Dinge „eigentlich
gewesen sind". Mit unserer religiösen, näher
unserer christlichen Überzeugung und den Folgerungen,
die wir aus der geschichtlichen Betrachtung für unser
Innenleben ziehen möchten, hat diese Betrachtung selbst
nichts zu tun. Darüber werden wir uns freilich nicht
nur mit dem Katholiken Lagrange, sondern auch mit
manchem „protestantischen" Kritiker schlecht einigen
können. L. befremdet es (S. 245), daß Walter Bauer
gelegentlich einer Besprechung des Bonner Bibelwerks
in dieser Zeitung 1931 Sp. 417 geschrieben hat: „Eine
wissenschaftliche Auseinandersetzung scheint mir freilich
da unmöglich, wo die Grundauffassungen schlechterdings
unvereinbar auseinanderstreben." Aber der Satz ist richtig
, und zutreffend sind' auch die Beispiele, an denen
Bauer ihn erläutert. Daß man die Dinge ohne irgend
welche Kategorien oder Spezialmethoden, sondern einfach
historisch, im Fluß der Entwicklung, erfolgreich
darstellen kann, hat uns erst jüngst Lietzmann im ersten,
das Urchristentum behandelnden Bande seiner „Geschichte
der alten Kirche" gezeigt. Wer an dieses Buch mit
einer „Ephapax-Theorie", sie gründe sich nun auf das
„Wort" oder auf die „Kirche", herantritt, der wird es
enttäuscht, vielleicht sogar entrüstet bei Seite legen. Wer
aber Geschichte wirklich zu lesen versteht, dem wird
die Lektüre ein Stahlbad bedeuten, das ihn im Kampf
mit dem Kategoriennebel zu stärken geeignet ist.
Gießen. Q. Krüger.

Steff es, Prof. D. J. P.: Religion und Religiosität als Problem
im Zeitalter des Hochkapitalismus. Eine geistesgeschichtliche
u. religionswissenschaftliche Untersuchung. Düsseldorf: Pädagog.
Verlag 1932. (IX, 84 S.) gr. 8°. kart. RM 3.50.

Steffes zeigt in Cap. I, daß das geistige Leben eines
Zeitalters günstige oder ungünstigere Züge aufweisen
kann, die es erleichtern oder erschweren, den gottbezogenen
, metaphysischen Sinn von Welt und Geschichte
durchscheinen zu lassen. Cap. II gibt in präziser knapper
Darstellung ein reiches Bild der „hemmenden Bedingtheiten
des religiösen Lebens im hochkapitalistischen
Zeitalter", d. h. der Epoche vom 2. Drittel des 19. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart. Der Mensch dieser Epoche
„ist metaphysisch entwurzelt, isoliert und mechanisiert,
als Kraftatom anderen Kraftatomen ... beigesellt, verstoßen
in ein maßloses Mühen um den Mammon — ein
Geschehen, dessen Sinn nicht mehr faßbar ist... Damit
sind ihm die Zugänge zu religiösen Kraftquellen von
innen und außen weithin verbaut" (S. 32f.). Cap. III
will zeigen, daß die Religion „einen entscheidenden Einfluß
auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens auszuüben
nicht in der Lage war" (S. 34). St. zieht in den
Kreis seiner Betrachtung 1. das Judentum sowohl in
seiner orthodoxen wie liberalen Form, ferner Zionismus
und Chassidismus. 2. den Protestantismus, der nach
ihm in seiner staatskirchlichen Form zu sehr „durch
Kultur und Umwelt gebunden" war (S. 39). Der Satz,
„daß der lutherische Grundsatz weiterlebte, das Gottesreich
habe seinen Wohnraum im Innern des Menschen,
und die Welt gehöre nicht zu seinem notwendigen Entfaltungsbereiche
" (S. 37), dürfte richtiger als Umbildung
lutherischer Sätze in das Gegenteil dessen, was
Luther wollte, zu betrachten sein. 3. Außer den orthodoxen
, liberalen, vermittelnden und mystisch-pietistischen
Gruppen werden die christlich-sozialen und die religiössozialistischen
Gruppen besprochen, ebenso die Anthroposophie
und Christengemeinschaft, schließlich die unkirchliche
Humanität. Es wird wohl zugegeben, daß Ansätze
zur Überwindung des kapitalistischen Geistes vorhanden
sind, aber ihre durchschlagende Kraft wird bezweifelt
. 4. Die Ostkirchen versuchen am wenigsten
die Welt zu durchdringen. St. als Katholik erklärt, daß
der römische Katholizismus „eine gewisse Sonderstellung
" einnimmt. Aber was er als seinen Vorzug hinstellt,
ist vielmehr die gemeinchristliche Wahrheit, die es verbietet
, den Menschen „restlos dem Mammon auszuliefern,
ihn zu versklaven" (S. 47), ihn als Mittel auszunutzen.
„Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Zeitverhältnisse
es dem deutschen Katholizismus nicht verstattet
haben, den Geschichtsablauf dieser Epoche seinem
Geist entsprechend zu gestalten" (S. 53).

Für wertvoll halte ich besonders Cap. IV, das von
der „Neuorientierung und Überwindung des Kapitalismus
" handelt. 1. Im Anschluß an Scheler, Sombart,
Jostock wird gezeigt, daß der Hochkapitalismus sein
Ende erreicht, wenn das Kapital nicht mehr neue, noch
nicht kapitalistische Länder im Osten und Westen durchdringen
kann; wenn immer mehr früher selbständige
Unternehmer zu Beamten von Betrieben und Trusten
werden und der weiteren Ausdehnung des Unternehmertums
Schranken entgegentreten. 2. Das Kulturleben
gewinnt mehr Sinn für Geheimnis, für die seelischen
Tiefen, für die naturgemäße organische Verbundenheit
der Menschen. 3. Die Ansätze einer oft noch verschwommenen
Religion im Sozialismus, die Empfindung
für Weltentragik, die zur Sehnsucht nach Erlösung füh-