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Ausgabe:

1933 Nr. 10

Spalte:

190-191

Autor/Hrsg.:

Lüttgert, G.

Titel/Untertitel:

Verfassungsurkunde für die Evangelische Kirche der altpreußischen Union vom 29. September 1922. 2., neu bearb. u. erg. Aufl 1933

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 10.

190

Philosophie und Ontologie. Denn der Glaube ist „inbe-
zug auf" Sein (Gemeinde) und dieses Sein „ist" nur
im Glauben. Dieses Sein ist gegenständlich und zugleich
nichtgegenständlich, sodaß in dem sozialen Bezug transzendentaler
und ontologischer Ansatz zusammenkommen
(S. 114).

Zum Schluß wird von diesem Ergebnis aus das Akt-
Sein-Problem für das Sein „in der Unwahrheit" und
„in der Wahrheit" konkret entfaltet, was in „biblisch
ontologischer Begründung" mit dem Sein „in Adam"
und „in Christus" gleichgesetzt wird (S. 131). Weil der
Mensch nicht Einzelner ist, sondern je schon in der
Menschheit steht, ist die Sünde zugleich Erbsünde und
das „Sein in" Akt und Sein. Denn er ist um seines Zusammenhangs
willen für die Menschheitsschuld mitverantwortlich
. Zwar ist auch der Glaubende noch „in
Adam" und wird deshalb durch die Vergangenheit, das
Gewissen, bestimmt. Sofern er aber nicht mehr auf sich
sieht, sondern auf das von außen kommende Heil
(S. 145), steht er unter der Bestimmung der Zukunft,
die B. als die eschatologische Möglichkeit des Kindes
bezeichnet. Hier wiederholt sich in neuer Weise auch
für das Sein „in Christus" die Dialektik von Akt und
Sein. „Im Glauben ist Zukunft Gegenwart; indem sich
aber vor der Zukunft der Glaube selbst aufhebt (sich
als Seinsart ihrer, nicht aber als produktiv wissend)
„ist" der Mensch in der Zukunft Christi, d. h. nie in
Sein ohne Akt, nie in Akt ohne Sein" (S. 156).

Das Wichtigste dieser gründlichen Untersuchung liegt
darin, daß B. die entscheidende Bedeutung der Kirche
für die Gesamtdogmatik erkannt und durchgeführt hat
(Schöpfung S. 144 ff., Sünde, Erlösung und Eschato-
logie). Offenbarung und Glauben werden nicht als Po-
tenzialiatäten eines Existenzbegriffs behandelt, sondern
als Wirklichkeiten, deren Faktizität nicht begründet werden
kann (S. 119). Durch die Sphäre des sozialen Bezugs
wird die individualistische Erkenntnishaltung gegenüber
Gott und der Offenbarung sowie die damit zusammenhängende
Verdinglichung der dogmatischen Begriffe
zugunsten des aktuellen Geschehens in der Gemeinde
beseitigt. Denn das individuelle Person-Sein
kommt überhaupt erst durch das Offenbarungs-Sein zustande
(S. 120). „Gott ,ist' im Personbezug, und das
Sein ist sein Personsein" (S. 107). „Wie das Sein Gottes
kein ,es gibt' ist, so auch nicht das der gläubigen oder
sündigen menschlichen Existenz. ,Es gibt' keinen Glaubenden
und keinen Sünder, ,es gibt' keine menschliche
Existenz (als getroffene) im Sinne eines ,Gegebenen',
sondern sie ,ist' durch das Wort Gottes im Aktvollzug
in der Kirche, in dem die Einheit mitgesetzt ist" (S.
114 f.). Es ist B. gegenüber Barth und Grisebach zuzugeben
, daß von dem „Sein in der Wahrheit" aus ein
echtes System theologischer Wissenschaft begründet werden
kann. Aber diese Wissenschaft darf nicht in der
Isolierung verbleiben, wie es bei B. der Fall ist.

Hier erhebt sich trotz unserer Zustimmung, und gerade
durch sie begründet ein ernstliches Bedenken. Läßt
es sich philosophisch und theologisch rechtfertigen, wenn
ein schwieriges Problem des Denkens vom Glauben
lediglich dazu benutzt wird, nach einer bedeutsamen Umwandlung
die eigenen Vorgegebenheiten — nach B. die
gottgegebene Wirklichkeit des Glaubens — zur Darstellung
zu bringen? B. hat selbst gesagt, daß das Akt-
Sein-Problem durch die Theologie neu geformt werde
(S. 62). In der Tat besteht kein Zusammenhang mehr
zwischen dem transzendenten Sein bei Kant und dem
von außen kommenden Nächsten in der Gemeinde. Auch
die reine Intentionalität des Glaubens ist aktmäßig eine
andere als die des Denkens, da jeweilen ein verschiedenes
Existenzsubjekt zugrundeliegt: Christus (S. 121),
das Ich (S. 60). Wenn es sich aber nicht mehr um dasselbe
Problem handelt, dann kann die Behauptung des
Glaubens, die Philosophie stehe in der Unwahrheit, gar
nicht zutreffend sein. Eine solche Beurteilung ist nur
möglich, wenn zu demselben Problem eine wahre Lö-

j sung beigebracht werden kann, so wie etwa Heidegger
den Gegensatz zwischen Idealismus und1 Realismus dadurch
gelöst hat, daß er die Unangemessenheit der

' Fragestellung durch eine phänomenal gesicherte Problematik
aufweisen konnte. Es ist daher B. entgegenzu-

| halten, daß die glaubensmäßige Beurteilung dem philosophischen
Akt-Sein-Problem nicht gerecht geworden ist.
Daß der Idealismus sich in sich selbst verfangen habe
(S. 25) und daß bei Kant ebenso wie bei der Ontologie

| das autonome Ich seine Herrschaft ausübe, wird gegen-

j wärtig vielfach, und zwar nicht nur von theologischer

i Seite, behauptet. Auf Folgendes sei jedoch kurz hingewiesen
. Bei Hegel manifestiert sich der absolute Geist

I in der Gemeinde (Begriff d. Rlg., Ausgabe Lasson
S. 52). Bei Sendling ist das Symbol Gottes nicht die

! Geschichte, weil diese unendlich ist, sondern die K i r -
che als lebendiges Kunstwerk (Ges. W. I Bd. V S. 293).

; Bei Kant ist die Herrschaft des Ichs prinzipiell dadurch

j gebrochen, daß die Zeit die Vermittlung zwischen der
transzendentalen Apperzeption und den Erscheinungen
des Dinges an sich herstellen muß (Schematismuskapitel).
In der Fundamentalontologie bedeutet das Seins verstehen
durchaus nicht eine Mächtigkeit über das Seiende,
was Heidegger in seinem Buche über „Kant und das
Problem der Metaphysik" ausgesprochen hat (S. 218).
Die Beherrschung des Seins durch das Ich läßt sich also
nicht generell für die beiden Richtungen der Philosophie
behaupten. Der Gemeinde-, Zeit- und damit der Geschichtsbegriff
müssen deshalb auch für die Lösung des
Akt-Sein-Problems in Betracht gezogen weiden, weil in
ihnen auf philosophische Weise die Egoität überwunden
ist. Es besteht daher für die Theologie die Aufgabe, ein
philosophisches Problem nicht nur zu beurteilen, sondern
auch zu fördern. Gerade weil die Theologie, wie B. mit
großem Recht hervorgehoben hat, eine Wissenschaft von
dem Geschehen der Kirche ist, kann sie sich solcher
Aufgabe unterziehen. Das ontisch evangelische Existenzverstehen
des Glaubenden muß sich um des Wahrseins
Christi willen ontologisch erarbeiten lassen, sodaß eine
Zentrierung um dasselbe philosophische Problem möglich
ist. Im Sinne von B. können wir sagen: es gibt
nicht einen wahren Glauben, sondern der Glaube „i s t"
wahr. Die Durchführungen B.'s am Ende des zweiten
Teils, denen wir grundsätzlich zustimmen mußten, tragen
in sich die Möglichkeit, von der Kirche als dem Geschehen
des Wahrseins aus diese aufbauende Mitarbeit
an den philosophischen Fragen zu leisten.

Leipzig._Heinz Erich Eisenhuth.

Schoen, Paul: Das neue Verfassungsrecht der evangel.
Landeskirchen in Preußen. Berlin: C. Heymann 1929. (XI,
342 S) et. 8°. RM 18-; geb. 20-.

Lüttgert, G.: Verfassungsurkunde für die Evangelische
Kirche der altpreußischen Union vom 29. September 1922.
Für d. Handgebrauch erläutert u. m. d. dazugehörigen Gesetzen hrsg.
2. Aufl., neu bearb. u. ergänzt v. Dr. Friedrich Koch. Berlin:
Trov/itzsch & Sohn 1932. (X, 356 S.) kl. 8°. = Handbuch d. ev.
Kirchenrechts f. d Ev. Kirche d. altpreuß. Union. Hrsg. v. F. Koch
u. G. Thümmel. 2. Bd. geb. RM 8.60.

Nachdem einige Jahre vergangen sind seit der Neugestaltung
der deutschen evangelischen Kirchenverfassungen
, mehren sich die zusammenfassenden und erläuternden
Darstellungen der neuen Gestaltung der Dinge.

Paul Schoen hatte das erste Recht, gehört zu
werden, nachdem er uns in den Jahren 1903—10 sein
umfassendes Werk über das evangelische Kirchenrecht
in Preußen geschenkt hatte. Er bietet in dem vorliegenden
Bande keine neue Auflage seines gesamten Werkes,
sondern nur eine neue Darstellung des Staatskirchenrechts
und Verfassungsrechts der evangelischen Kirchen
in Preußen, einschließlich Danzig und Memelland. Zu
bedauern ist natürlich für den heutigen Gebrauch, daß
damals, als das Buch erschien, der Staatsvertrag mit
den evangelischen Kirchen noch nicht vorlag. Auch
G. Holstein's Buch über die Grundlagen des deutschevangelischen
Kirchenrechts konnte nur eben im Vorwort
noch erwähnt werden.