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Ausgabe:

1933 Nr. 10

Spalte:

185-186

Autor/Hrsg.:

Schlitter, Adolf

Titel/Untertitel:

Eduard Riggenbach. Das Lebensbild eines blinden Gelehrten 1933

Rezensent:

Hauck, Friedrich

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Seite 1

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185

Theologische Literaturzeitung 1933 Nr. 10.

186

nommen Sonderuntersuchungen, schon bisher als ein
Stück der Geschichte des kirchlichen Lebens dargestellt
worden, so liegt bei N. sichtlicher Nachdruck auf dem
Verhältnis der Gemeinde zu den ihr vor andern „geseg-
ten" Liedern. Die Literaturgeschichte, welche die Kirchenlieder
auf die verschiedenen Epochen verteilen muß,
kann diesen kirchlichen Gesichtspunkten nicht Genüge
tun, vollends wenn dem Literarhistoriker nicht etwa wie
Vilmar innere Wahlverwandtschaft mit seinem geistlichen
Stoffe eignet. Unlöslichen Zusammenhang zwischen literaturgeschichtlicher
und religiöser Betrachtung könnte
nur eine Geschichte der deutschen religiösen Dichtung
überhaupt erreichen, wenn sie sich zu einer Geschichte
der Frömmigkeit im Spiegel des Liedes ausweitet und
innerhalb dieser Linie das gemeindemäßige Lied von der
religiösen Lyrik abhebt. Auf diesem Boden würde dann
auch sichtbar werden, einen wie erheblichen Teil geistlicher
Standesdichtung das evg. Gesangbuch noch beherbergt
. — N.s Buch bleibt auch mit den neuen Zusätzen
einheitlich. Diese wirken sich ohnedem am meisten
für die neue Zeit aus; doch wird z. B. der Widerspruch
N.'s gegen die These Friedrich Spittas über die
Lutherlieder, dem er in der Würdigung der Konstanzer
Dichter von Anfang an gefolgt ist, in der neuen Auflage
verstärkt. Die pietistische Liederdichtung müßte heute
auf dem Hintergrund der Barockdichtung geschildert
werden. Das Buch schließt mit einem neuen Kapitel:
„Unsere Aufgabe am Kirchenliede für Gegenwart und
Zukunft" in dem über „Heimatbuch" und „Einheitsgesangbuch
" gehandelt und des Gesangbuchschmucks gedacht
wird. Da das Kirchenlied seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts nahezu versiegt ist, wird die hier
nur gestreifte Frage, wie die Kirche sich zur Heranziehung
neuer religiöser Lyrik verhalten soll, bald unausweichlich
werden. Sie, die Jahrhunderte lang aus
frisch fließenden Quellen schöpfen konnte, sieht "sich
seit ihrer Abgrenzung gegen das allgemeine Geistesleben
auf alten wenngleich unvergänglichen Liederbestand
beschränkt.

Marburg. Rudolf Günther.

Sehl Itter, Adolf: Eduard Riggenbach. Das Lebensbild eines
blinden Gelehrten. Stuttgart: J. F. Steinkopf 1932. (324 S. m.
9 Abb.) 8°. RM 4.80.

Die Gestalt des blinden Forschers Ed. Riggenbach
hat durch die Arbeit seines einstigen Mitarbeiters Ad.
Schiitter eine würdige, umfassende und vielfach ergreifende
Darstellung gefunden. Der Leser staunt über das
reiche Leben dieses seit dem 15. Lebensjahr Erblindeten
. Mit größter Energie hat R. trotz der Beschränkung,
die ihm sein Leiden auflegte, sein Leben fruchtbar gestaltet
. Als Kern seines Wesens tritt die gläubige Persönlichkeit
heraus. Die Linie seiner inneren Entwicklung
führt vom frommen Elternhaus zu persönlicher Christusverbundenheit
. Er findet eine Heimat zunächst in
der Gemeinschaftsfrömmigkeit mit vorübergehendem Anschluß
an den Baptismus. Dann wird ihm Tob. Beck
wichtig, über den ihn wieder M. Kähler hinausführt.
Zunächst findet R. ein Arbeitsfeld in der Baseler Predigerschule
. Aber seine hohe Begabung drängt weiter
zur Universität. Fortwährend bleibt der Blinde im Lernen
. Schlatter wird ihm ein Führer ins Spätjudentum.
Seit 1892 treibt er eingehend und erfolgreich Textkritik.
Godet, Zahn, Cremer, auch v. Hofmann werden ihm
wichtig. Daß ihm die pietistischen Kreise im Land das
Vertrauen wahren und daß er ihnen aufrichtig zugetan
bleibt, kennzeichnet sein ganzes Leben. Aber ebenso
energisch sucht er die Fühlung mit der reinen Forschung
. Auf einer Reise durch Deutschland hört er
119 Vorlesungen, um einen eigenen Eindruck von den
Persönlichkeiten zu gewinnen. In seiner reichen literarischen
Tätigkeit, deren Glanzpunkt ja die Auslegung
des Hebräerbriefes darstellt, ist ihm immer wieder Anliegen
, nicht nur für die reine Wissenschaft zu schreiben
, sondern die Fühlung mit der Gemeinde zu halten.

Die Gemeinde durch Mitteilung des wissenschaftlich Erarbeiteten
geistig zu heben, ist ihm ein bleibendes Ziel.
Das führt ihn zu vielen Vorträgen. Aber auch sonst ist
J staunenswert, mit welcher Lebensnähe und Treffsicher-
! heit der blinde Forscher ins allgemeine Leben eingreift
| (Innere Mission, Äußere Mission, wertvolle Gutachten,
j Organisationspläne). Innerlich erlebt er die Zeit mit,
so besonders auch die Sorge um Deutschland (vor, in
und nach dem Krieg). So bietet Schiitters Buch eine
wertvolle abgerundete Darstellung der Persönlichkeit
R.s und gibt reiche Einblicke in viele Beziehungen derselben
zum Zeitgeschehen. Ein Verzeichnis der Vorlesungen
und der Schriften R.s schließt das Buch.
Erlangen. Fr. Fi a u c k.

Sartori, Paul: Das Buch von den deutschen Glocken. Im

Auftrage d. Verbandes deutscher Vereine f. Volkskunde geschrieben.
Berlin: W".deGruyter8cCo. 1932. (XII, 258 S.) gr.8°. RM 10-; geb.12-.

Schillers großes Gedicht bringt die Beziehungen der
Glocke zum Menschenleben von der Wiege bis zum
Grabe zum ergreifenden Ausdruck. Früher wußte jeder
Ort, sobald das Läuten begann, ob Trauer oder Freude
den Anlaß bot, ob ein neuer Erdenbürger geboren war,
ein junges Paar zum Altar schritt, ein Mann, eine Frau
oder ein Kind zur Erde bestattet wurde. Daraus erklärt
sich die große Bedeutung der Glocke im Volksglauben,
die trotz der Verknüpfung mit dem christlichen Kult im
wesentlichen in der Dämonenabwehr gründet. Ausgehend
von Sagen über betrügerische Gießer und das
Glockengut, sowie vom vorwitzigen Lehrjungen, der auf
eigene Hand gießt, kommt der Verfasser zu der Auffassung
der Glocke als vernunftbegabtes Wesen. Zu
ihrer Weigerung, einem Entführer zu folgen oder der
selbständigen Auswahl ihres Standortes wäre allerdings
ein Hinweis auf das gleiche Motiv in E. Schmidts Untersuchung
über Kultübertragungen am Platze gewesen.
Indem man der Glocke wunderbare Kräfte zuschreibt,
wächst sie über die apotropäisch-prophylaktische Wirksamkeit
hinaus und wird selbst deifiziert, worauf ihre
Verwendung in Volksmedizin und Zauberei beruht. Ihrer
Verwendung zur Mehrung der Fruchtbarkeit entspricht
ihre Rolle zur Erleichterung der Entbindung. Sartori
hebt hervor, daß die Sagen von der Irrglocke, nach denen
jemand durch das Geläut Rettung findet und zum Dank
ein ständiges Geläut stiftet, auf die Dämonen scheuchende
Kraft zurückgehen. Damit kontrastiert merkwürdig
die Vorstellung, daß gerade während des Läutens den
Geistern Freizeit gegeben ist, wofür der Mündener
Brauch nachzutragen ist: während des sog. Katharinenläutens
unbeliebten Personen die Fenster mit Besen einzuschlagen
unter dem Geschrei: „Hier hebbet se ne,
hier schrubbet se ne!" (Vergl. Die Spinnstube 1924:
Vorwahl, die Kehrwiederglocke.) Auch die Wetterglocke
ist ursprünglich Abwehrmittel der dämonischen Ursache,
woran sich der mannigfache Aberglaube bei Hochzeiten
und Begräbnissen reiht. Neben der Glockensprache des
Vollgeläuts finden auch die Abarten des Anschlagens
(Beiern, Kleppen) eine ausführliche Darstellung.

Es ist eine gewaltige Arbeitsleistung, die bei der
Durchsicht des ungeheuren Materials über Glocken nötig
war, das die volkskundlichen Vereine gesammelt haben,
als das Heer der deutschen Glocken 1917 mobilisiert wurde.
Darüber hinaus hat der Verfasser, dessen volkskundliche
Forschungen stets durch peinliche Akribie und Umsicht
ausgezeichnet waren, auf 50 Seiten Anmerkungen seine

| Ergebnisse bibliographisch unterbaut und durch ausführliche
Stichwort- und Ortsnamenverzeichnisse dem Be-

j nutzer die Verwendung erleichtert. Nicht nur für den

| Volkskundler selbst ist die verdienstvolle Untersuchung
eine wertvolle Handreichung, sondern auch für den

I Geistlichen und Lehrer, die wissen müssen, an welche
Faktoren naturhafte Religiosität und Geistigkeit sich
bindet.

Harburt:. H. Vorwahl.