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Ausgabe:

1932 Nr. 2

Spalte:

44-45

Autor/Hrsg.:

Eger, Hans

Titel/Untertitel:

Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Ein Beitrag zu seiner Geschichte und Problemstellung 1932

Rezensent:

Herz, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 2.

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gewonnene Begriffsbestimmung ist zugleich Kritik an sich selbst" (50 f.)

— „Die Imputationstheorie ergab die metaphysische Relation des pec-
cator sum. Fällt diese weg, dann ergibt sich ein Sündenbegriff, der
aus empirischen und psychologischen Daten gewonnen ist" (7).

droht einerseits im Allgemeinen und Formalen stecken
zu bleiben: d. h. jede Theologie kann dieses Anliegen
als das ihrige unterschreiben. Das Nicht-sich-selbst-
sagen-können (114 R. Hermann, F. Gogarten) charakterisiert
jeden metaphysischen Anspruch, und jede religiöse
Gewißheit „entzieht" dem Gläubigen „sein Wissen
um sich und von sich allem Wissen aus sich und durch
sich" (62). Andererseits scheint diese selbe Alternative
doch wieder auf eine Form der Eigengerechtigkeit nämlich
auf die der systematischen Selbstbestätigung hinauszuführen
. D. h. die Erkenntnis, daß „die Frage, ob man
propter Deum oder propter se fromm, gerecht, weise
usw. lebt, eine Frage ohne Antwort bleiben muß", wird
hinterher aufgehoben, indem man die eigene Systematik

— mit oder ohne Vorbehalt — über alles liebt und
andere mit anderen Systematiken nicht wie sich selbst.

Vgl. die Formulierungen: „Die Frage, ob man propter Deum
oder propter se . . . lebt, muß eine Frage ohne Antwort bleiben. Denn
wer sie beantworten und lösen wollte, müßte die Vergleichbarkeit beider
Motive voraussetzen. Die Basis des Vergleichs könnte aber nur das
Wissen um die Motive des eigenen Handelns, das Gewissen sein. Damit
würde der Mensch wieder Gott das Urteil über sich abnehmen . . ."
(44 f.) — „Weil dies Werden aber vor Gott ein Sein ist, denn vor
ihm sind wir bereits, was wir vor uns nicht sind, darum ist dieses auf
Verheißung gegründete Leben kein Anders-Werden im ewigen Sinne;
von da aus gesehen bedeutet der Imperativ: glaube! gerade: werde,
was du bist" (54) — Wer über peccatum und iustitia ein simul auszusprechen
vermag, der ist fromm. Denn wo Sünde und Gnade in ein
und derselben Zeit stehen, da ist Heilzeit" (60). — Die relative Unstimmigkeit
der Aussagen über die „unaufhörliche Kritik über sich selbst"
(53) und das „Ende aller Selbstbeobachtung" (70) hängt damit offenbar
zusammen; auch auf das Verhältnis von Gesetz und Evangelium (37,
93, 121, 127) und die christologischen Gesichtspunkte (74) wäre von
hier aus zurückzukommen.

Ich wiederhole, daß die skizzierte Aporie in der
Sache selbst liegt. Daß sie an Hand übersichtlicher
Lutherstellen zur Aussprache kommt, macht die Untersuchung
außerordentlich anregend für die Überlegung,
was wir für die Klärung unserer systematisch-praktischen
Schwierigkeiten heute direkt von der Reformationstheologie
erwarten dürfen.
Jena. H. M. Müller.

He n sei, Paul: Kleine Schriften und Vorträge. Zum 70. Geburtstag
des Verfassers hrsg. v. E. Hoffmann u. H. Rickert.
Tübingen: J. C. B. Mohr 1930. (VIII, 412 S. m. 1 Bildn. d. Verf.)
gr. 8°. RM 19-; geb. 22-.

Dreißig Arbeiten von sehr verschiedenem Inhalt
und Umfang aus einem Zeitraum von etwa 40 Jahren
haben die Herausgeber, chronologisch geordnet, dem inzwischen
verstorbenen Verfasser als Geburtstagsgabe
auf den Tisch gelegt, nachdem eine frühere, weniger umfangreiche
und in anderem Verlag erschienene Sammlung
der Ungunst der Kriegsjahre zum Opfer gefallen war.
Man ist erstaunt, aus welch einheitlichem Guß und Geist
all diese, auch räumlich so weit zerstreuten Arbeiten
trotzdem sind und wie frisch sie auch heute noch anmuten
. Etwas von dem, durch Goethe rehabilitierten
Zauber des wahren Gelegenheitsgedichts haftet ihnen
allen an, trotz der überall dahinter stehenden Arbeit und
umfassenden Kenntnis des Gegenstandes; und überhaupt
jener mitreißende Reiz freudigen Geistesspieles, wie er,
bei allem Ernst, diesem Nachfahrer unserer geistigen
Glanzperiode, nach leiblicher wie geistiger Abstammung
eigen war. Nicht nur, wenn Hensel mehr als Kulturhistoriker
die Zeiten des sozialen England vor 200 Jahren
oder heutige Kulturbilder, wie den amerikanischen
und deutschen Studenten, zeichnet oder — wenigstens
dem Titel nach — nur das Bild einzelner Männer (wie
Lagarde, Spencer, Ludwig Feuerbach, Swift, Schiller,
Riehl, Max Weber, E. Th. A. Hoffmann, Montaigne
Leibniz, W. v. Humboldt, Novalis, Falckenberg, AI.
oder Fr. Schlegel (die bunte chronologische Reihenfolge

zeigt den Reichtum am deutlichsten) —: er ist immer
gleich lebendig und gleich immer er selbst, auch wenn
er scheinbar abstraktere Themen behandelt, wie die des
Humanitätsbegriffs oder des Neuhumanismus oder von
Theodizee und Religion, von Naturwissenschaft und Naturphilosophie
oder vom Verhältnis der Philosophie zu
den Spezialwissenschaften. Man läßt all diese Gestalten
und Probleme mit demselben Genuß an sich vorüberziehen
, mit dem sie offenbar nachempfunden, durchdacht
und geschrieben sind; und wundert sich höchstens nachher
gelegentlich, wie selbstverständlich dieser Geist uns
auf diese seine Weise auch Dinge, Vorgänge und Gedanken
zu machen vermag, die uns (— man lese den
Hoffmann-Aufsatz! —) im Alltag wohl bizarr oder doch
fremd erscheinen könnten. Und empfindet, wie not gerade
unserer beschwerten Zeit auch solche innerlich
weite und leichte, niemals einseitige und von irgendwelchem
weltlichen oder geistlichen Dogma gebundene Geister
sind, die uns bekräftigen, daß Ernst nicht schwer
und Leichtigkeit nicht ohne Gewicht zu sein braucht,
wie so viele heute zum Schaden des Geistes meinen.

Tübingen. Theodor H a e r i n g.

Eger, Dr. Hans: Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Ein Beitrag
zu seiner Geschichte und Problemstellung. Leipzig: M. Heinsius
Nachf. Eger & Sievers 1931. (VII, 108 S.) 8°. RM 3.50.

Bei der Bedeutung, die der Evangelisch-Soziale Kongreß
in den mehr als 40 Jahren seines Bestehens für die
Sozialgeschichte des deutschen Protestantismus und
darüber hinaus für die Entwicklung der Sozialethik und
die Gestaltung der Sozialpolitik anerkanntermaßen gehabt
hat, ist es mit Dank zu begrüßen, daß die Geschichte
und Problemstellung des Kongresses in der
vorliegenden Schrift eines jungen Leipziger National-
ökonoinen zum ersten Mal eine zusammenhängende Darstellung
findet. Allerdings erfüllt dieser erste Versuch
nicht alle Erwartungen. Das archivalische Material, das
über die Anfänge des Kongresses und seine weitere Entwicklung
— leider zum Teil nur lückenhaft — vorhanden
ist, scheint von dem Verfasser nicht in vollem Umfang
benutzt worden zu sein. Auch die reiche und vielseitige
Gedankenwelt, die in den 37 gedruckten Verhandlungsberichten
des Kongresses und in den 35 Folgen seiner
Mitteilungen niedergelegt ist, konnte im Rahmen einer
solchen Arbeit naturgemäß nur zum Teil dargestellt und
in ihren Auswirkungen auf Sozialethik und Sozialpolitik
erfaßt werden. Aber zu einer raschen Orientierung über
die Geschichte des Kongresses und über die von ihm
behandelten Probleme bietet die Schrift ein willkommenes
und brauchbares Hilfsmittel. Sie erschließt dem
Leser in übersichtlicher Zusammenstellung manches
schwer zugängliche Material. Sie bietet, über allem theologischen
und kirchenpolitischen Richtungsstreit stehend,
eine streng sachliche Beurteilung, und sie zeigt eine
Reihe neuer, bisher nicht beachteter Gesichtspunkte. So
ist z. B. von Interesse, daß auf Grund der Teilnehmerlisten
, die den gedruckten Verhandlungsberichten beigegeben
sind, versucht wird zu zeigen, welche Berufskreise
von der Kongreßarbeit erfaßt worden sind, und zu beweisen
, daß sich dabei deutlich eine Säkularisierung „von
der Pfarrkonferenz zu einer allgemeinen Versammlung
j des gebildeten Bürgertums" verfolgen läßt. Während in
i den ersten Jahren die Theologen mehr als die Hälfte der
I Kongreßbesucher stellten, ist ihr Anteil in den letzten
I Jahrzehnten auf weniger als ein Drittel gesunken.

Das Eingangskapitel behandelt, freilich nur sehr
knapp, aber mit Recht auf Wichern zurückgehend und
! die meist noch nicht genügend erkannte verschiedene
j Sozialorientierung Wichern's und Stöcker's klar hervor-
I hebend, die Wurzeln der evangelisch-sozialen Bewegung,
i Zwei weitere Abschnitte stellen die Gründung des Kongresses
, sein Arbeitsgebiet und seine Arbeitsweise, sowie
die weitere Geschichte des Kongresses und den Austritt
Stöcker's dar. Hier wäre es wohl richtiger gewesen, un-
! mittelbar an die Entstehungsgeschichte des Kongresses