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Ausgabe:

1932 Nr. 25

Spalte:

581-584

Autor/Hrsg.:

Hirsch, Emanuel

Titel/Untertitel:

Schöpfung und Sünde in der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit des einzelnen Menschen 1932

Rezensent:

Delekat, Friedrich

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681

Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 25.

582

Hirsch, Emanuel: Schöpfung und Sünde in der natürlichgeschichtlichen
Wirklichkeit des einzelnen Menschen. Versuch
einer GrundlegTing christl. Lebensweisung. Tübingen: J. C. B.
Mohr 1931. (VII, 130 S.) gr. 8°. = Beitr. z. systemat. Theologie, 1.

RM 6.60; geb. 8.60; in Subskr. RM 6-; geb. 8—.
Verf. stellt in der „Hinführung" fest, daß es den
neuen Strömungen der „uns heute in Deutschland gegebenen
natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit des
menschlichen Lebens" an einem klaren Führungsgedan-
Len fehle. Es sei nötig, den Menschen klarzumachen,
inwiefern „das Oottesverhältnis" ihr natürlich-geschichtliches
Dasein begründe. Da sich aber im Gottesverhältnis
beides ausspreche, sowohl, daß Gott der Schöpfer
des Menschen sei, wie, daß der Mensch ein radikaler
Sünder sei, so müsse „durchgrübelt" werden, wie es
sich mit dem unaufhebbaren Nebeneinander von Schöpfung
und Sünde im Dasein des einzelnen Menschen verhalte
. Voraussetzung dazu sei die Erkenntnis von der
Existenz einer sog. „allgemeinen Gnade" (laut Anmerkung
69 eine Erweiterung des Begriffs der gratia prae-
veniens), d. i. die Erkenntnis, „daß Gottes Gnade . . .
allenthalben und allerorten sei, wo immer menschliches
Leben sei" (S. 14). Die „allgemeine Gnade" wird also
nicht erst in Christus offenbar, sondern ist ein konstituierendes
Merkmal der Menschheit als solcher.

Im „Gottesverhältnis" erfahre sich der Mensch einerseits
als Gottes Schöpfung, d. i. „als einer, der von Gott
jeden Augenblick neu gewirkt und geschaffen wird,
• . . dessen Freiheit . . . nichts denn ein Erleiden Gottes
und dennoch im Konkreten echte Freiheit ist" (S. 24).
Da aber „die menschliche Freiheit vermöge ihrer Angst
und Gier sich selber nicht meistert" (S. 28), so sei
andererseits ebendasselbe, das dem Menschen das Bewußtsein
gebe, Gottes Geschöpf zu sein, auf der anderen
Seite der Grund „der Feinschaft und des Mißtrauens
gegen Gott", dem die „Verzweiflung" auf dem
Fuße folge (S. 31). In diesem Sinne sei das Dasein des
Menschen gleich ursprünglich Schöpfung und Sünde
oder: „Schöpfung und Sünde sind eines und das gleiche,
unter zwei einander fordernden und zugleich widereinander
sich kehrenden Urteilen aus dem Gottesverhältnis
gestellt" (S. 33). „Die Einheit von Schöpfung und
Sünde ist der uns im Wirbel umtreibende Existenzwiderspruch
, in dem wir uns mit unserer Lebendigkeit an Gott
verzehren" (S. 35). Aber die Erkenntnis dieses Existenzwiderspruchs
ist nun, so meint H., „das erste Aufbrechendes
himmlischen Werdestandes im irdischen", der
»Übersprang" in die „allgemeine Gnade", der ein Ahnen
über den Widersprach hinaus auf ein uns verhülltes
Jenseits des Daseins zu vermittelt (S. 38). „Etwas derartiges
wird in jeder Religion dunkel gefühlt", es gehört
also nach H. dem Erfahrungsbereich der sog. natürlichen
Religion an.

Die „versöhnende Gnade" (also das Christentum)
umfängt uns durch eine geschichtliche Wirklichkeit (Christus
) hindurch in unserer natürlich-geschichtlichen Lebendigkeit
, die in der allgemeinen Dialektik von Schöpfung
und Sünde steht" (S. 41), aber so, daß dadurch der
eben geschilderte Existenzwidersprach nicht aufgehoben
wird. Er ist nach H. auch in Christus nicht aufgehoben.
Denn „es wäre . . . keine richtige Lösung der Aufgabe,
das neue Verhältnis von Schöpfung und Sünde in der
versöhnenden Gnade einfach dadurch sichtbar zu machen,
daß man ... die Sohnschaft Jesu Christi als diejenige
menschliche Lebendigkeit beschreibt, die mit Gott . . .
einig ist" (S. 42). H.s christologische Definition lautet
vielmehr so: Christus ist „die konkrete Gestalt, als die
. . . der göttliche Geist und die diesen Geist erleidende
süi.dendurchwobene Freiheit zusammengeschlossen sind
in einer Einheit göttlichen Gründens und Zielens und
Führens unserer lebendigen Menschlichkeit mitten durch
das Rätsel von Schöpfung und Sünde hindurch" (S. 43).

Demzufolge ist der Glaube an Christus, „unser
Glaube, auch eine Gestalt menschlicher Lebendigkeit und
als solcher immer in der Schwebe zwischen seinem

Grunde und seinem Ziele" (S. 44), also keine Gewißheit
um die in Christus geschehene Erlösung des Menschen
von der Sünde, die den Charakter der Endgültigkeit
und Einmaligkeit hat. „Die christliche Frömmigkeit
. . . geht vielmehr in die ... Form des allgemeinen
Gottes Verhältnisses als ihren schöpfungsmäßigen Auffang
ein", bestimmt dieses Verhältnis aber gleichzeitig
so, daß es „nicht mehr von der Feindschaft gegen Gott
zur Verzweiflung führt" (S. 46).

Im Einzelnen ergibt sich daraus Folgendes. Erstens,
daß der Christ „seine Freiheit als bejahtes Gotterleiden
auf dem Grande des vergebenden göttlichen Ja" (S. 49),
nicht als „Bannung seines Lebens ... in den Wirbel der
Zweideutigkeit" (S. 49) empfindet. Es vertieft sich
also bei ihm einerseits das Wissen darum, daß der
, Mensch von Gott geschaffen ist. Aber andererseits vertieft
sich in demselben Maße unter der „versöhnenden
Gnade" auch das Wissen um die Gegensätze des menschlichen
Daseins, sodaß „alle christliche Frömmigkeit Erfüllung
und Vertiefung des allgemeinen Gottesverhältnisses
nur durch die immer neu anhebende, am Zielen
bleibende Überwindung der in ihm liegenden Sündhaftigkeit
ist und damit zu einer paradoxen Durchspannung
des allgemeinen Gottesverhältnisses wird" (S. 53).
Schließlich besteht die Wirkung der erlösenden Gnade
darin, daß für den Christen „Schöpfung und Sünde aufhören
, Urteile über Eines und das Gleiche zu sein" (S.
57). Beide scheiden sich für ihn oder vielmehr: „Wir
selbst erleiden dies Scheiden beider in einem göttlichen
Führen, das unser Vollbringen und Gestalten in die
Unruhe unserer Kreatürlichkeit hineinreißt und darin
als die allein uns haltende und zielende Macht sich zu
erkennen gibt" (S. 58). Davon, daß die „verssöhnende
Gnade" den Menschen von der Unruhe befreit, daß und
inwiefern sie ihm ein klares Gewissen zum Handeln
gibt, ist nicht die Rede.

„Ein von Sünde freies Gutes ist uns freilich gezeigt
mit . . . dem Christusleben, aber . . . das ist keine von
uns gehorsam zu verwirklichende Lebensgestalt". Will
man nun doch sagen, was recht und gut ist und was der
Mensch tun soll (was man als Seelsorger und Ethiker
ja tun muß), so bleibt nur folgende Auskunft: „Das
Gute ... ist der . . . von Gott im Bestätigen und Zerbrechen
und Tragen unseres Ahnens und Tuns geheiligte
Weg mitten in Schöpfung und Sünde hin auf das
ewige Telos (nämlich die Vollendung der Scheidung von
Schöpfung und Sünde), das dem Glauben im Christusleben
gegenwärtig ist" (S. 69). „Böse ist . . . der von
uns im Unglauben erahnte und gegangene, von Gott im
Zerbrechen oder Gewähren gerichtete Weg mitten in
Schöpfung und Sünde auf die verzweifelte Selbstbehauptung
der kreatürlichen Freiheit in ihrer widerspruchsvollen
Einheit von Schöpfung und Sünde" (S.
49). So umständlich und mißverständlich formuliert H.
den Satz Luthers, daß allein der Glaube das Handeln
des Menschen gut oder böse macht.

Das allein „Eindeutige in unserer menschlichen Zweideutigkeit
" ist die „Christusliebe". Sie enthüllt das Geheimnis
, daß Gott „nicht ohne den sündigen Menschen
sein will" und treibt zu der Erkenntnis, daß „herrlich
und frei sein wie Gott heißt zur Liebe und Hingabe
in die Gemeinschaft überwunden werden von Gott"
(S. 80). Doch auch die Liebe befreit nach H. den
Menschen nicht von seinem Existenzwidersprach. Da
sie sich nur innerhalb „der todgeweihten, sündedurchwachsenen
(NB!) irdischen Gemeinschaften" verwirklichen
kann, ist sie letztlich nur „ein Mittel des überschwenglich
herrlichen göttlichen Führens durch Sünde
und Tod zur Freiheit von Sünde und Tod". Ihr Wirksamwerden
ist aber doch das gewisse Zeichen dafür, daß
Sünde, Tod und Teufel ihre Macht verloren haben und
daß die Unruhe des Problematikers, der nicht weiß, was
denn in dieser wunderlichen Welt „das Gute" ist, aus
dem Leben eines Menschen durch Gottes Gnade fortgenommen
wurde.