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Ausgabe:

1932 Nr. 25

Spalte:

578

Autor/Hrsg.:

Stadelmann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Der historische Sinn bei Herder 1932

Rezensent:

Stephan, Horst

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Seite 1

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577

Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 25.

578

S. 21) unmittelbare Ansätze zur Bibelkritik in der CA.
nicht nachweisen lassen, betont aber, daß die ecclesiae,
In, deren Namen die CA. redet, Luthers Bibel mit der
Absonderung deuterokanonischer Schriften besaßen.
Wenn Ritsehl und andre nach ihm den Bekenntnissen
nn Grunde Gleichgültigkeit gegen die Trinitäts- und'
Zweinaturenlehre zuschrieben, und wenn Wobbermin in
der vielerörterten „Zuhaufe-Formel" des Großen Kat.
e'ne Art Vorwegnähme seines religionspsychologischen
Zirkels erblickt, so wehrt überall Thieme den Versuchen,
etwas in die Schriften hineinzudeuten, was ihren Verfassern
fern lag. Und das ist jedenfalls wertvoll. Man
mag freilich fragen, ob Thieme nicht eine etwas schwankende
Haltung einnimmt, wo hinter den Aussagen der
CA. eine reformatorische Überzeugung ihres Verfassers
liegt, die dieser doch aus diplomatischen Gründen verschweigt
. Thieme sagt: „Daß die Augustana den Spezialglauben
. . . nicht ausdrückt, vermindert den Wert
ihres Glaubensbegriffes" (S. 62). „Nach alledem ist der
Wert und Gegenwartswert des Glaubensbegriffes der
Augustana nicht leicht zu messen" (S. 63). Hier sieht
Thieme Gegenwartswerte in dem ausdrücklich Angeführten
, nicht in dem dahinter liegenden Unausgesprochenen
. Anders, wo er die Eingangsworte von
Art. 1 „Ecclesiae apud nos docent" im Sinne des allgemeinen
Priestertums der Laiengemeinden interpretiert
und darin einen „antihierarchischen" (S. 9) „Gegenwartswert
" (S. 6) erblickt. „Die Theorie, das Prinzip der
Selbständigkeit, der Urteilsgewalt, das Aufsichtsrecht der
Laiengemeinde gegenüber dem amtlichen Lehrer dürfte
auch in ,Ecclesiae docent' fortwirken" (S. 5). Hier wird
also ein Gegenwartswert erblickt in einem Gedanken, der
nur „fortwirken dürfte", aber gerade nicht ausgesprochen
ist. In Wirklichkeit wird Melanchthon in der Situation,
in der er die C. A. abfaßte, die Geltendmachung des
Laienpriestertums mindestens ebenso vermieden haben
wie die evangelische Definition des Glaubens.

Den eigentlichen Wert des Thiemeschen Buches sehe
ich in den historischen Untersuchungen zum Sinn der
Bekenntnisse. Zu den Ergebnissen, denen ich vollauf
beipflichte, rechne ich vor allem seine Darlegung zu
Art. 7 (S. 191—249), daß die Lehre des Evangeliums
und die Darreichung der Sakramente Kennzeichen der
Gemeinde der Heiligen sind, nicht sofern sie hierdurch
erzeugt wird, sondern sofern sie sich hierin wesensnotwendig
betätigt. Thiemes Verweis auf Melanchthons
3 Disputationsthesen von 1530 (CR. 12, 481 f.) ist
hier gewichtig, und es wird so eine Geschlossenheit des
Kirchenbegriffs erreicht, die verloren ginge, wollte man
die Lehre des Evangeliums und die Darbietung der Sakramente
von der Gemeinde der Heiligen als dem handelnden
Subjekt lösen und statt dessen die sichtbare Gemeinde
zum Subjekt machen. — Weiter halte ich für
gelungen Thiemes Nachweis gegen Loofs, daß Glaube
und Rechtfertigung nicht identisch sind, sondern jener
das Mittel für den Empfang dieser ist, und ebenso,
daß der Glaube nicht um seiner Qualität willen, sondern
als Ergreifen der Gerechtigkeit Christi zur Rechtfertigung
führt. Befremden muß es dann freilich, daß
Thieme der These Hermelinks zustimmt, wonach für
die Reformatoren der Glaube das Ziel der Erlösung ist.
Meinen Widerspruch gegen Hermelink lehnt Thieme
ab; aber ich frage: wie kann das Ziel der Erlösung sein,
was doch nur Mittel der Rechtfertigung ist? — In dem
Satze des Gr. Kat. „Ein Gott und Glaube, aber drei
Personen, darum auch drei Artikel" folgt Thieme der
falschen Auslegung von „Glaube" bei dem übrigens von
ihm befehdeten Wobbermin. Er sagt (S. 166): „Das
Glaubensbekenntnis ist nach den drei Personen
dreigeteilt, . . . aber der Glaube bei diesen drei ,Bekenntnissen
' ist ungeteilt". In Wirklichkeit meint Luther in
beiden Satzhälften das Credo; dies ist eins, weil es sich
um einen Gott handelt, gliedert sich aber in 3 Artikel,
wie sich Gott in drei Personen gliedert.

Vielleicht findet Thieme noch Zeit, die hier begonnene
Arbeit zu dem Ziele eines vollständigen wissenschaftlichen
Kommentars zur CA. fortzuführen. Dafür
würden ihm gewiß viele dankbar sein. Denn er hat,
trotz aller Jubiläumsliteratur von 1930 Recht, daß der
C. A. ein solcher Kommentar noch zu wünschen ist.

Göttingen.___J. Meyer.

Stadelmann, Rudolf: Der historische Sinn bei Herder.

Hailea. S.: M. Niemeyer 1928. (IV, 150 S.) gr. 8°. RM 7-.

St. meint mit „historischem Sinn" „eine bestimmt
umrissene Einstellung zur Welt, eine inhaltliche Bezeichnung
des Weltgefühls, das für Geschichte ein spezifisches
Verständnis hat" (S. 1), und sieht dafür mit
Recht in Herder als dem Zwischenglied zwischen Aufklärung
und Romantik einen besonders wichtigen Bahnbrecher
. Er untersucht erst ausführlich Herders Geschichtsbegriffe
, dann sein geschichtliches Denken, um
zuletzt den Ertrag festzustellen, den seine Anschauungen
und Werke für das Werden des geschichtlichen Sinnes
ergeben. Unter den „Geschichtsbegriffen" stehen voran
die „methodologischen" (z. B. Objektivität); es folgen
die „Maßstabbegriffe" (z. B. Humanität, Nemesis, Gesetz
, Singularität) und die Auffassungskategorien (vor
allem der bei Herder so vielseitige Entwicklungsbegriff;
dazu die historischen Faktoren: Klima, Volksgeist, die
irrationale Zeit, die Umstände, das große Individuum).
Der Abschnitt über das geschichtliche Denken behandelt
erst das Verhältnis von Individuum und Geschichte
(Schicksal, Gemeinschaft, geschichtlicher Verlauf
), dann das von Norm und Geschichte. Im abschließenden
3. Teil wird einerseits Herder selbst als
Schöpfer einer „Historiosophie" (S. 122), als „Virtuoso
des historischen Sinnes" (S. 124), anderseits vor allem
die Spannung des „singularistischen" und des „universalistischen
" Zuges als das wichtigste unter den Momenten
aufgewiesen, die ihn so vorzüglich befähigten, dem
irrationalen Wesen der Geschichte gerecht zu werden
und ihren dramatischen Charakter zu erfassen (S. 137 ff.).

Die Hauptbedeutung des umsichtigen, von sicherer
Beherrschung des Stoffes getragenen Buches scheint mir
darin zu bestehen, daß hier ein — zugleich geschichts-
philosophisch denkender — Fachhistoriker an Herder
herantritt und ebenso dem wirklichen Verfahren wie den
Prinzipien der Herderschen Geschichtsdarstellung nachgeht
. Dabei ergibt sich ein konkreteres, stärker mit geschichtlicher
Farbe gesättigtes Bild als in der Regel
sonst, und so manche sachliche Korrektur. Das Buch
bleibt wertvoll, auch nachdem Litts wichtiges Werk über
„Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt" erschienen
ist. — An Einzelheiten sei nur weniges beispielhaft
herausgegriffen. So die erfreuliche Tatsache,
daß St. zwar als Historiker die Unbestimmtheit, Widerspruchsfülle
und schillernde Unfaßbarkeit von Herders
Denken scharf herausstellt (H. „saugt nur den Geruch
der Dinge ein" und dringt nicht „bis zu ihrem Gerüst"
vor, S. 101), aber anderseits sie gerade als Wege in das
Innere seiner Werkstatt erkennt (z. B. S. 29. 138).
Ferner, daß St. auch unter dem Gesichtspunkt seines
Themas die Jugendwerke Herders als den inneren Höhepunkt
seines Schaffens erweist (z. B. S. 57 f. 93. 111;
nach der religiösen Seite hin wurde dasselbe schon in
meinem „Herder in Bückeburg" 1905 und in Doernes
— St. nur in der maschinenschriftlichen Form von 1924
bekannten —Sclirift „Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie
" 1927 festgestellt. Endlich zur Kritik:
Wenn St. (mit Doerne) „den großen historischen Atemzug
" des geschichtsphilosophischen Aufsatzes von 1774
auf einen hochgespannten religiösen Irrationalismus zurückführt
(S. 58), anderseits aber dabei den Einfluß
Shakespeares für wesentlich hält (S. 141), so müßte er
beides auszugleichen oder gegenseitig abzustufen versuchen
; überhaupt zeigt er gegenüber den religiösen
Quellgründen von Herders Denken eine gewisse Unsicherheit
und ist eben dadurch an wichtigen Punkten in
seinem Verständnis Herders gehemmt.

Leipzig.___H. Stephan.