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Ausgabe:

1932 Nr. 23

Spalte:

540-542

Autor/Hrsg.:

Leisegang, Hans

Titel/Untertitel:

Lessings Weltanschauung 1932

Rezensent:

Kohlschmidt, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 23.

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zu betonen. Ebenso stark ist freilich der Unterschied
zwischen den Gefühlsäußerungen und der Herzensfrömmigkeit
neologischer Theologen und der Gefühlstiefe in
der Sturm- und Drangbewegung, in der die „Gefühlsreaktion
" oder das, was man heutzutage den „Durchbruch
der Seele" nennt, doch in einem ganz anderen
Ausmaß und mit ungehemmterem Enthusiasmus als in
der Neologie erfolgt ist. Wie hier erst der rationalistischen
Poetik und Kunsttheorie der Garaus gemacht ist
und hier erst die Leibniz-Wolffsche Psychologie und
Erkenntnistheorie mit ihrer Überwertung der „oberen"
und ihrer Entwertung der sogenannten „niederen" Seelenkräfte
folgerichtig aufgehoben ist zugunsten einer
Neuwertung von Gefühl, Phantasie, Unmittelbarkeit, ursprünglicher
Anschauung und dgl., so setzen auch hier
erst bei Hamann, Herder u. a. die entscheidenden Auswirkungen
dieser neuen Stimmungen und Erkenntnisse
ins Theologische hinein ein. Wenn Aner S. 134 ff, wo er
Herder der „Galerie der Neologen" eingliedert, auch
selber sagt, daß man Herder in ein Prokrustesbert pressen
würde, wenn man sein theologisches Schaffen nur
als das Schaffen eines Neologen fassen wollte, so ist
m. E. selbst mit dieser Einschränkung die Tatsache
nicht genügend beachtet, daß Herder eine völlig anders
konstruierte Persönlichkeit war, wenn auch, wie dies
vom ganzen deutschen Idealismus gilt, die aufklärerische
Arbeit in dieser andersgearteten geistesgeschichtlichen
Periode nachwirkt. Wenn Herder so wenig wie
ein Neologe die Schöpfungsgeschichte als eine Offenbarung
Gottes über den Hergang der Schöpfung aufgefaßt
hat, so ist doch diese von Aner beispielsweise
betonte und tatsächlich nicht zu leugnende Übereinstimmung
mit der neologischen Kritik unwichtig gegenüber
der Tatsache, daß Herders Analyse und Deutung der
„Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts", die nur
von der neuen idealistischen Kosmosreligion aus verständlich
wird, so von keinem der Neologen hat geschrieben
werden können.

Während hier also die Grenzen m. E. verwischt und
die grundlegenden Unterschiede nicht genug betont sind,
wird man Aners Abgrenzung zwischen Neologie und
Rationalismus im Wesentlichen zustimmen müssen.
Hier handelt es sich vor allem um die Stellung beider zur
Offenbarung (S. 4ff., 180ff., 343ff), wobei Aner
zu dem Ergebnis kommt, daß die Neologie noch am
Begriff der Offenbarung festhält, aber ihren Inhalt preisgab
und ihre Wahrheiten mit den Vernunftwahrheiten
gleichsetzte, während der Rationalismus den Offenbarungsbegriff
völlig auflöste, wenngleich er aus mancher
Offenbarungswahrheit einen Vernunftkern herausschälte
. Bei der Analyse der einzelnen Theologen ergibt
sich freilich, daß Übergänge von der einen zu der anderen
Stellung vorhanden sind. Wenn die übernatürliche
Einführung der christlichen Vernunftwahrheiten anerkannt
wird, aber zugleich jede Übersteigerung der natürlich
-vernünftig möglichen Erkenntnis durch diese Einführungsart
wegfällt, wie dies z. B. bei Steinbart, den
Aner S. 85 f. bedenkenlos der Neologie eingliedert, im
Gegensatz zu seinen Lehrern Baumgarten und Locke
der Fall ist, so ist der Schritt zum radikalen Rationalismus
nicht mehr weit und der Unterschied zwischen solchen
Theologen und einem Lessing, den Aner S. 343 ff.
als „ersten Rationalisten" charakterisiert, weil bei ihm
der Begriff Offenbarung nur exoterisch verwendet werde,
gering. _ Wenn der Unterzeichnete hier darauf verzichtet,
seine vielfach positivere Deutung Lessings gegen Aners
Lessingbild zu verteidigen, und mit Dank anerkennt, daß
die detaillierte Eingliederung der theologischen Arbeit
Lessings in das theologische Zeitmilieu durch Aner die
Lessingforschung vielfach gefördert hat, so muß er doch
wenigstens dagegen noch Bedenken erheben, daß Lessings
spekulative Dogmendeutung als ein Kennzeichen
des Rationalismus überhaupt gewertet wird, während1 sie
doch den typisch rationalistischen Systemen eines Henke
oder Wegscheider durchaus fehlt. Hier scheint mir die

von Hans Leisegang in dem neuesten Buch über „Lessings
Weltanschauung" (1931) gebotene Herausarbeitung
der Linie, die von der christlichen Mystik schon der
Antike her durch das Mittelalter hindurch zu Hegel
führt, und seine These der Vorwegnahme der späteren
Entwicklung der deutschen idealistischen Philosophie
durch Lessing den Tatbestand richtiger zu treffen als die
Eingliederung Lessings in den Rationalismus, wie Aner
sie vornimmt.

Hingewiesen sei endlich noch auf die die neologische
Dogmenkritik in ihren wichtigsten Punkten behandelnde
Darstellung der dogmatischen Kämpfe im Zeitalter der
Neologie (S. 234—295: Teufelsglaube; Seligkeit der
Heiden; Ewigkeit der Höllenstrafen; Genugtuung Christi;
Rechtfertigung; vgl. S. 158ff.: Erbsündenlehre; S. 220ff.:
Inspirationslehre) und auf das nach den einzelnen Disziplinen
gegliederte Kapitel über die wissenschaftlichen

! Ergebnisse der Theologie von 1760—1790 (S. 311—342).

| Auch in diesen in das Detail eindringenden Kapiteln
hat Aner wie durch sein ganzes Buch wertvolle Vorarbeiten
für eine endlich einmal zu schreibende neue
Darstellung der Geschichte der protestantischen Theologie
geliefert.

S. 12. Von Selbstdarstellungen der deutschen theologischen Aufklärung
verdient neben Schlegels Kirchengeschichte 1784 -88 auch der
„Versuch einer vollständigen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts
vom Pfarrer Joh. Aug. Chrph. von Einem (2 Bde. 2. Aufl. 1782—83)
genannt zu werden, der sich gleichfalls als eine Fortsetzung der Mosheimischen
Kirchengeschichte gibt. — S. 28, Anm. 1. Der Nachfolger
Romanus Tellers als Herausgeber der deutschen Bearbeitung des sogenannten
Englischen Bibelwerks 1749 ff. hieß Joh. Aug. Dietelmaier (nicht
Diestelmeyer). — S. 86. Daß Lavater Steinbarts Glückseligkeitslehre
„völlig ablehnend" rezensiert habe, entspricht doch nicht ganz der Tatsache,
daß er sie eines der besten philosophischen Bücher genannt hat.
Königsberg i. Pr. L. Zscharnack.

Leisegang, Hans: Lessings Weltanschauung Leipzig: F.
Meiner 1931. (XI, 205 S ) 8°. RM 7.50; geb. 9.50.

Bei klarer Sicht für die gerade in Lessings Wesen
gegebenen Schwierigkeiten, die einer eindeutigen Fest-
i Stellung seiner Denkhintergründe entgegenstehen, verneint
Lgg. die Möglichkeit einer Resignation vor diesem
Tatbestand. Durch alle Masken, Frontwechsel, Spurverwischungen
des Denkers hindurch, ja geradezu in
ihnen glaubt er die ihm eigentümliche Art der Weltanschauung
mit Hilfe neuer Methoden aufspüren zu kön-
| nen. Im genaueren meint er damit einmal das heute
: fortgeschrittene Verständnis der von Lessing und seiner
Zeit diskutierten Sachverhalte, von dem aus sachliche
und persönliche Schichten in Lessings Denkarbeit leich-
| ter voneinander zu scheiden scheinen; sodann das für
i den heutigen Forscher bereitliegende typologische Be-
j griffshandwerkzeug, vor allem der geisteswissenschaft-
| liehen Strukturpsychologie.

Die Frage der Struktur von Lessings Denkarbeit ist
j es denn auch, die in der genauen Beobachtung seines
Sichentscheidens in den Diskussionen seiner Zeit zu
lösen gesucht wird.

Demnach versucht Lgg. zunächst eine Systematik der
■ orthodoxen Haltung und der in Frage stehenden Welt-
i anschauungen, die er typologisch nach ihrer materialisti-
; sehen oder mystischen oder idealistischen Denkrichtung
ordnet. Von da an werden bestimmte Werke als für die
Epochen der Lessingschen Entwicklung besonders kennzeichnend
genau interpretiert.

Über der Frühzeit steht als solch bezeichnendes
Werk das Fragment „Die Religion". Die Analyse ergibt
negativ eine Ablehnung sowohl orthodoxer wie auch
neologischer und materialistischer Haltung durch Les-
'■ sing, positiv die Vereinigung einer Reihe von Einzelüber-
| Zeugungen, die in Einheit nur der Weltanschauungstyp
i des Mystikers aufzuweisen scheint. So geht es fort. Die
I Epoche des „Christentums der Vernunft" und der dieser
j Schrift zuzuordnenden Werke zeigt monistischen Ansatz:
1 Die Anschauung von der Identität des göttlichen Den-
I kens, Wollens und Schaffens. Der Zusammenhang dieser