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Ausgabe:

1932 Nr. 2

Spalte:

471-474

Autor/Hrsg.:

Köberle, Adolf

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung und Heiligung. 2. verb. u. 3. erneut. Aufl 1932

Rezensent:

Piper, Otto A.

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471

Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 20.

tiell sich vielleicht von denen Luthers gar nicht wesentlich
unterscheiden). Auch ein so biblisch eingestellter
Theolog wie Schlatter würde nicht entfernt daran denken,
neutestamentliche Theologie und Dogmatik miteinander
zu verwechseln. Es muß einmal in aller Schärfe gesagt
werden, daß es nicht angeht, den Biblizismus früherer
Generationen heute abzulösen durch eine Lutherorthodoxie
, die vergißt, daß Kriterium der Gültigkeit von
Glaubenserkenntnissen allein die Offenbarung (Christus),
also das „Wort Gottes" sein kann — wenigstens im
Protestantismus. Und daß das Wort Gottes an jedes
Geschlecht je in seiner konkreten Lage oder überhaupt
nicht ergeht.

Münster i. W. Fr. W. S c h m i d t.

Köberle, Dr. theol. Adolf: Rechtfertigung und Heiligung. Eine
biblische theologiegeschichtliche u. syslemat. Untersuchung. 2. verb.
U. 3. erneut revidierte Aufl. Leipzig: DörfflingRc Franke 1929 u. 1930.
(XVII, 322 u. XXIV, 326 S.) 8°. 3. Aufl. RM 10.80; geb. 12.15.

Wenn ein Werk, wie das vorliegende innerhalb von
18 Monaten drei Auflagen erlebt, so zeugt das nicht nur
von dem starken Interesse der Gegenwart an dogmatischen
Problemen, sondern auch von der Fähigkeit des
Verfassers, ein zentrales Problem in zeitgemäßer Weise
anzupacken. In anschaulicher, warmer und eindrücklicher
Weise gibt K. eine Darstellung des ganzen Ordo
salutis unter modernen Gesichtspunkten. Ja, im Grunde
will er nicht weniger geben als „eine Gesamtüberschau
über die Theologie der Gegenwart unter systematischen
Gesichtspunkten" (S. VI). Dies Ziel hat der Verfasser
im wesentlichen auch erreicht; sein Buch beweist einen
bewundernswerten Fleiß und eine erstaunliche Belesenheit
, der nicht nur auf dem Gebiete der systematischen
Theologie kaum eine Veröffentlichung der letzten 30
Jahre unbemerkt geblieben ist, sondern die auch auf exegetischem
Gebiete, in der Lutherforschung und in der
Predigtliteratur eifrig gesammelt hat. Die dritte Auflage
unterscheidet sich von der zweiten nur durch einige
Nachträge im Anhang, in denen sich der Verfasser mit
Neuerscheinungen kurz auseinandersetzt, und durch das
Vorwort, das auf einige Besprechungen der zweiten Auflage
eingeht.

Eine Analyse des K.schen Buches kann nur seine
Hauptgedanken andeuten und muß es sich versagen, eine
Vorstellung von seiner Vielseitigkeit und seinem Gedankenreichtum
zu geben. Der moderne Mensch geht
nach K. auch im Christentum vielfach den Irrweg der
Selbstheiligung (Kap. I). Vor dem Kreuze Christi führten
aber alle Versuche der Selbstheiligung nur zur Erkenntnis
der menschlichen Ohnmacht und Sündhaftigkeit
(Kap. II). Allein das Wort der Vergebung könne eine
Rechtfertigung des Menschen vor Gott bewirken (Kap.
III). Jesus Christus verkündige durch Leben und Tod
die Rechtfertigung des Sünders, aber eben nicht nur als
Ende der stolzen Selbstheiligung, sondern zugleich auch
als die dem Sünder zuteil werdende Gnade unabhängig
von menschlichen Vorausleistungen (S. 77). „Wo aber
der Glaube das Wort von der Versöhnung gehört, erkannt
und anerkannt hat, da kann es gar nicht anders
sein als daß eine solche geistgeschenkte, unmittelbar persönlich
angeeignete Gewißheit auch den Menschen in der
Totalität seines psychologischen Bewußtseins bestimmt
und bewegt" (S. 106). Gegenüber katholischer
Gnadenlehre und Darbysmus wird freilich bestimmt:
„Der Glaube selbst bleibt, weil gottgewirkt, eine völlig
unanschauliche, psychisch unfaßbare, unbegreifliche Realität
. . . Allein die transzendente Kraft des Glaubens
berührt unsere Vorstellungen und Empfindungen, deren
erlebnismäßiger Inhalt zwar nie die Sache selbst ist, der
aber hinweist auf ein transsubjektiv vorhandenes Geschehen
in uns" (S. 106). Wo (aber) der Mensch über
dem Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit
alles Eigene vergessen und verlassen hat, da
ist für Gott dann die Möglichkeit gekommen und gegeben
, Wirker eines Neuen zu werden (S. 111 f.).

Die Heiligung ist also das Werk Gottes im gerechtfertigten
Sünder (Kap. IV). Es gehe nicht an, die Heiligung
als ein selbständiges Moment im Leben der Glaubenden
anzusehen, sie sei vielmehr eine der vielen Seiten
des Glaubens, die die altprotestantische Lehre vom ordo
salutis aufzählt (S. 121 ff.). Dabei wird gegenüber dem
Darbysmus betont: nur die Rechtfertigung ist stets das
Vollkommene; die Heiligung dagegen stets das Unvollkommene
, weil zwar „die uns verdammende Sünde
endgültig ausgelöscht ist, während die damit einsetzende
Lebendmachung die uns kettende Sünde erst noch zu
überwinden hat" (S. 125). Die auf Gottes Herablassung
beruhende persönliche Gemeinschaft mit Christus ist deshalb
verlierbare Gemeinschaft. Damit ist die Vergegen-
ständlichkeit des Geistbesitzes ausgeschlossen (S. 144).
Dieser Geist aber reinige und erziehe die Affekte (S.
149). Von hier aus ergebe sich die Pflicht zu einer inhaltlichen
Ethik, die die Wirksamkeit des Geistes, wie
auch die Arten menschlicher Widerstrebung eingehend
beschreibe (S. 152 ff.). Das wird in Kap. V und VI
näher entwickelt. „Die bona opera sind Gottes Werk,
die mala opera unser Werk" (S. 177). Die Gnade
vernichte das Böse nicht mit einem Schlage, sie solle
aber dienen zur steigenden Überwindung des Bösen (S.
185). In ausführlicher Darstellung wird nun gezeigt, wie
die Möglichkeit neuen Lebens vor allem im Gebet deutlich
werde (S. 202 ff.) und wie von hier auch sich die
Möglichkeit und Notwendigkeit der Zucht gegen sich
selbst (Askese) (S. 215 ff.) und des Dienstes am
Nächsten (S. 226 ff.) ergäben. Das Kap. VI weist darauf
hin, wie zwar die Schuld aller Sünden gleich schwer
sei, wie aber ihre verheerenden Wirkungen im Leben
ganz verschiedenartig und verschieden groß seien, so
daß neben der Lehre von der Sünde auch eine Lehre von
den Sünden getrieben werden müsse (S. 237 ff.). So sei
die fortschreitende Heiligung nicht im Sinne des moralischen
Entwicklungsglaubens verstanden, sie diene auch
nicht nur der Begründung oder auch nur der Bestätigung
der Rechtfertigung, sondern sie sei der Ausdruck des
göttlichen Heilswillens, der den Sünder zum Zwecke
einer völligen Durchheiligung mit sich versöhne (S.
272 ff.). Das abschließende Kap. VII behandelt schließlich
die Beziehung zwischen Rechtfertigung und Heiligung
. Die Heiligung sei für den Glauben unentbehrlich
(S. 272 ff.), aber ohne die beständige Rückkehr zur
Rechtfertigung verfalle die Heiligung in Pharisäismus
und Überschwang (S. 279 ff.).

Man sieht, es handelt sich bei K. im Wesentlichen
um eine systematische Entwicklung des Problems
der Neuschöpfung des Glaubenden; der biblische und
dogmengeschichtliche Stoff ist nicbt selbständig entwickelt
, wie in A. Ritschis Hauptwerk, sondern dient nur
zur Illustrierung und Unterstreichung seiner These. K.
hat mit sicherem Griffe eines der zentralen Probleme
des Protestantismus herausgegriffen. Es handelt sich
ja im Glauben nicht nur um irgendwelche theoretischen
j Einsichten im Gottes Wesen, die beim Hörer numinose
Schauer erwecken, sondern um die ganz konkrete Frage:
wie kann ich leben vor Gott? Die Antwort auf diese
Frage hängt aber ab von dem rechten Verständnis der
Neuschöpfung des Glaubenden durch den Heiligen Geist.
K. versucht die Heiügungsbewegung und die Anthroposophie
auf der einen Seite und die gegen Heiligung
und religiöse Erfahrung so mißtrauische dialektische
Theologie auf der anderen Seite in einer höheren Synthese
zusammenzufassen, für die er die Vorlagen vor
allem bei Luther und der lutherischen Orthodoxie findet.
: Sein Verständnis des Luthertums ist freilich stark mitbe-
I stimmt durch den Realismus Hamanns und des schwäbischen
Pietismus, vor allem J. T. Becks und Schlatters.

Ich halte diesen Realismus für besonders fruchtbar,
weil er allein zum vollen Verständnis des N. T. und der
j reformatorischen Theologie (vgl. z. B. die Auseinander-
i setzung mit Holl S. 81 ff.) befähigt. Aber eben deshalb
glaube ich, daß man ihn noch konsequenter anwenden