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Ausgabe:

1932 Nr. 20

Spalte:

470-471

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich.“ 1932

Rezensent:

Schmidt, Fr. W.

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 20.

470

die bisher geleistete Arbeit. Es bedarf doch noch mehr
der Aufhellung, als ihm nötig erschienen ist. Es sei
nur eine, auch von ihm behandelte äußere Frage aufgegriffen
. Die „Krämerklugheit" der Nürnberger, die
f-uther den vom Kurfürsten erbetenen Schutz und Aufenthalt
in ihrer Stadt während des Reichstages versagten,
ist nach Schanze kein Ruhmesblatt in der üeschichte der
stolzen Reichsstadt gewesen. Schanze hat sich anscheinend
, ohne daß es dem Leser deutlich wird, von Koldes
Darstellung und Würdigung der Vorgänge bestimmen
lassen. Hans von Schubert, dem Schanzes Darstellung
Unbekannt geblieben ist, hat überzeugend nachgewiesen
(Lutherjahrbuch 1930, S. 112 ff.), daß das seiner Zeit
von Kolde schwer gerügte Verhalten der Nürnberger
gute, vom Kurfürsten sowohl wie von Luther zustimmend
gewürdigte Gründe hatte. Dem Kurfürsten ist es ohnehin
von Anfang an zweifelhaft erschienen, ob Luther
während des Reichstages statt auf der Coburg in Nürnberg
weilen solle. Das Verhalten der Nürnberger als
Krämerklugheit zu charakterisieren, ist in der Tat nicht
angebracht.

Reizvoll und in sorgfältiger Prüfung der Quellen
wurzelnd ist die Schilderung der Veste Coburg zu der
Zeit, da Luther dort sich aufhielt. Das Ergebnis ist, daß
man im allgemeinen wohl ein Bild gewinnen kann, daß
man aber über die Einzelheiten nicht sonderlich gut
unterrichtet werde. Das erschwere die Bestimmung von
Luthers Wohnung 1530. Schanze macht aber wahrscheinlich
, daß Luther im Fürstenbau oder der „Hohen
Kemenate" gewohnt habe, aber nicht dort, wo jetzt die
Lutherstube gezeigt werde, sondern einen Stock höher,
'm „Hornzimmer" des 2. Stocks. Als der von Luther
hochgeschätzte, aber nicht mit Namen genannte Festungspfarrer
wird Johann Grosch nachgewiesen. Ma-
thesius folgend, hatte man Johann Karg angegeben. Freilich
hatte schon Frau Lis Jacobsen-Kopenhagen in der
Zeitschrift für Kirchengeschichte 1914, S. 403 ff. den
von Mathesius als Johann Karg eingeführten, von Köst-
lin, Martin Luther, 5. Aufl., Bd. 2, 202 Koch genannten
Pfarrer mit Johann Grosch identifiziert und auf seine
von Veit Dietrich herausgegebenen Trostsprüche aufmerksam
gemacht. Dieser Nachweis scheint lange vergessen
worden zu sein. Hoffentlich schwindet er nun nicht mehr
aus dem Bewußtsein der Forscher. H. v. Schubert
spricht, auf Volz sich berufend, nur noch von Grosch.

Doch auf weitere Einzelheiten der ganz aus den
Quellen schöpfenden, jede Übertreibung und novellistische
Ausmalung vermeidenden Darstellung Schanzes hier
aufmerksam zu machen, ist nicht möglich. Es darf
die Feststellung genügen, daß Schanzes Beitrag zur
Coburger Heimatgeschichte zu den guten heimatgeschichtlichen
Untersuchungen gehört, die ihren Platz in
der Forschung behaupten und auf die grade der weiteren
Zusammenhänge nachgehende Historiker angewiesen
bleibt. Schanzes Buch enthält freilich mehr als Heimatgeschichte
im strengen Sinn. Denn nachdem er Luthers
Beziehungen zu Coburg vor 1530, die Vorgeschichte I
von Luthers Aufenthalt auf der Veste 1530, die Veste
und Luthers Wohnung, Luthers Gesellschaft auf der
Veste, seine äußere Erscheinung und sein körperliches
Befinden geschildert hat, behandelt er Luthers Beziehungen
zum Augsburger Reichstag, die Schriften, Predigten
und Briefe Luthers aus der Coburger Zeit, um mit einer
Skizze des inneren Lebens Luthers während der Coburger
Monate zu schließen. Ein rund 20 Seiten füllendes
„Coburger Lutherbrevier" beschließt den Band. Daß
dieser Inhalt den heimatgeschichtlichen Rahmen sprengt,
ist wohl fraglos; ebenfalls, daß eine auf die Coburger
Zeit begrenzte Skizze des inneren Lebens Luthers fragmentarisch
bleiben muß, so reich auch diese an die Wartburgzeit
erinnernden Monate waren. Für diese allgemeineren
Abschnitte der Darstellung Schanzes möchte
ich zur Ergänzung auf den bereits erwähnten Aufsatz
H. v. Schuberts hinweisen. Die an den Schluß gestellten J
Anmerkungen sind leider in fortlaufendem, die Augen

sehr ermüdendem Satz gedruckt. Das ist ebenso lästig
wie die Trennung des Lutherbreviers vom Nachweis der
Fundorte. Die technische Anordnung ist m. E. recht
unbefriedigend. Nötig war diese Erschwerung der Benutzung
des Buches ganz gewiß nicht. Und was man

j S. 120 Anm. 37 mit dem Fragment einer schallanalytischen
Untersuchung anfangen soll, ist mir nicht ersichtlich
geworden. Von einem „Reiche" (S. 10) des sächsi-

, sehen Kurfürsten würde ich nicht sprechen. Land oder
Territorium wäre richtiger. Der Schreibfehler 3. Oktober
statt 3. April (S. 10) hätte nicht stehen bleiben
dürfen, mag er auch den aufmerksamen Leser nicht
stören.

Kiel. O. Scheel.

Hermann, Prof. D. Rudolf: Luthers These „Gerecht und Sünder
zugleich". Eine systematische Untersuchung. Gütersloh: C.
Bertelsmann 1930. (III, 301 S.) gr. 8°. RM 12- J geb. 14-.

Der Verf., der uns u. a. bereits eine wertvolle Studie
über „Rechtfertigung und Gebet nach Luthers Auslegung
von Römer 3 in der Römerbriefvorlesung" geschenkt hat,
bietet jetzt eine umfangreiche, der Rostocker Fakultät gewidmete
Untersuchung über Luthers ,simul peccator,
simul iustus'. Das Buch nennt sich schon im Titel ein
systematisches, d.h. das Ziel der Untersuchung soll
nicht eine historisch-genetische Erhellung des Tatbestandes
sein, vielmehr ein Aufweis der zentralen systematischen
Bedeutung jener Paradoxie, die, wie Verf. mit Recht behauptet
, „das Ganze der Lutherschen Theologie
" in nuce enthält. Eine allseitige Entwickelung
und Begründung dieser These ist darum ohne Zweifel
von Interesse, fruchtbar nämlich nicht nur für ein theologisches
Verständnis Luthers selbst, sondern zugleich
aktuell im Blick auf die heutige systematische
Debatte, soweit es in ihr um ein vertieftes Verständnis
des reformatorischen Rechtfertigungsgedankens in der
Breite seiner Auswirkungen geht.

Es ist hier nicht der Raum, den Aufriß des Buches,
den ein detailliertes Inhaltsverzeichnis verdeutlicht, in
extenso wiederzugeben. Ausgangspunkt ist die Erhebung
des mit jener Formel gemeinten „Tatbestandes der
christlichen Glaubenserfahrung"; ihr folgt eine genauere
Untersuchung des Begriffspaares „'Sünder-Gerechter",
durch die dann das „Zugleich" in schärferes Licht tritt
und endlich die Frage des „Ich" als abschließendes
theologisches Problem sich ergibt. In diesem letzten
Abschnitt finden sich besonders wertvolle Erwägungen.

Methodisch verfährt der Verf. so, daß er besonders
instruktive Texte Luthers soweit nötig genau
exegesiert und dessen Anschauung gegen Augustin und
Thomas abhebt. Die gediegene Belesenheit des Verf. in
Luther selbst brauche ich nicht erst hervorzuheben. Auch
in der Lutherliteratur kennt er sich aus, doch vermisse
ich da manches Wichtige.

Ein grundsätzliches Bedenken diesem (und nicht
nur diesem) Buch gegenüber vermag ich zum Schluß
freilich nicht ganz zu unterdrücken. Wer selbst an Luther
theologisch aufs stärkste orientiert ist wie der Rezensent
, wird dem Verf. darin beipflichten, wenn er in
seinem Vorwort schreibt: „Wir meinen, daß Luther in
diesen Zusammenhängen der Frage sowohl wie der Antwort
, die unser Problem erheischt, besonders nahe o-e-
wesen ist, und wollen dem Problem diese gleichsam
glückliche Stunde erhalten wissen". Und doch, wenn es
nachgerade immer mehr zur Sitte (um nicht gleich zu
sagen Unsitte) wird, theologische Untersuchungen über
Luther als systematische zu bezeichnen, so&sehe ich
darin nicht nur einen Ausdruck unserer eigenen theologischen
Armut, sondern eine grundsätzliche Gefahr
: nämlich die des Aufkommens einer Lutherscholastik
, die mit der Darlegung der Anschauung
Luthers ein systematisches Problem „erledigt" zu haben
wähnt; einer Lutherscholastik, die auf die Dauer weder
den Historiker zu befriedigen vermag, dem es wirklich
um Luther, noch den Systematiker, dem es um
unsre gegenwärtigen Anliegen geht (mögen sie substan-