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Ausgabe:

1932 Nr. 20

Spalte:

463-466

Autor/Hrsg.:

Schniewind, Julius

Titel/Untertitel:

Euangelion. Ursprung und erste Gestalt des Begriffs Evangelium. Untersuchungen. 1. u. 2. Liefg 1932

Rezensent:

Stählin, Gustav

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 20.

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entscheidend bestimmt hat, durch dessen Entwicklung
zum selbständigen Denker immer mehr zurückgedrängt,
typisiert, ehrenvoll eliminiert wird.
Göttingen. J. Behm.

Schniewind, Julius: Euangelion. Ursprung und erste Gestalt
des Begriffs Evangelium. Untersuchungen. 1. u. 2. Liefg. Gütersloh
: C. Bertelsmann 1927 u. 1931. (VIII, S. 1 — 112; X, S. 113—258)
gr. 8°. = Beiträge z. Förderung christl. Theologie. Hrsg. v. A. Schlatter
u. W. Lütgert. 2. Reihe. Sammlung wiss. Monographien. [13. u.] 25. Bd.

1. Liefg. RM 4.05; 2. Liefg. RM 6—.

I. Die Untersuchungen dieses bedeutenden Werkes
nehmen ihren Ausgangspunkt bei der viel verhandelten
Frage: Woher stammt der Ausdruck eüuyYeLiov ? Hat
Jesus ihn gebraucht oder nicht? — Während Joh. Müller
in seiner Untersuchung über „Das persönliche Christentum
der paulinischen Gemeinden" festgestellt hatte, daß
Jesus den Ausdruck süaYYe^iov von Deuterojesaja übernommen
habe, bestritt Dalman im selben Jahr (1898),
daß Jesus den Ausdruck überhaupt angewendet habe,
und zwar wegen des aramäischen Sprachgebrauchs und'
des synoptischen Befunds; ihm folgten H. J. Hoitzmann
und J. Weiß, M. Kähler und Th. Zahn. Auf anderem
Wege kam Wellhausen (1905) zum selben Ergebnis:
der Ausdruck ist aus dem Sprachgebrauch des Hellenismus
in den der Urgemeinde eingedrungen; so urteilen
seitdem die meisten Forscher, Bousset, E. Klostermann,
W. Bauer usw. Dagegen halten Schlatter und Harnack
den Gebrauch des Ausdrucks eöciyyeAiov durch Jesus für
wahrscheinlich, Schi, auf Grund des rabbinischen Sprachgebrauchs
, H. auf Grund des synoptischen Befunds.
Aber gerade die Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauchs
bei den einzelnen Synoptikern — das Substantiv evaYYe^iov
gehört der Markusüberlieferung, das Verbum der Darstellung
des Lukas an; dagegen vermeidet Lukas (und
Johannes) das Substantiv — lassen noch wichtige Fragen
offen. Hieran anknüpfend kommt die formgeschichtliche
Untersuchung zu dem Ergebnis, daß Jesus wohl
das Verbum (besonders in dem Wort Matth. 11, 5), aber
nicht das Substantiv gebraucht habe (M. Dibelius, Al-
bertz, Bultmann); auch Dalman äußerte sich später
(Jesus — Jeschua 1922) positiv zum Gebrauch des Verbums
. Aber auch in Bezug auf das Substantiv kommt
Burrows (Journ. Bibl. Lit. 44, 1925) auf dem Weg
eingehender Analyse der einzelnen Logien zu einer zuversichtlicheren
Stellungnahme. An diesem Punkt der Erörterung
setzt Schniewind ein, indem er zum ersten Mal
das ganze Problem in einen weiten Rahmen einordnet
und in gründlicher Einzeluntersuchung auf dem Hintergrund
der hellenistischen und rabbinischen Begriffswelt
entfaltet.

II. Was Sch. von seinem Buch bisher vorgelegt hat,
ist vorläufig, z. T. wenigstens, ein großes — ein doppeltes
— Versprechen: von den 15 Kapiteln, welche das
Werk umfassen soll, werden zwar bereits 8, aber der Bedeutung
und wohl auch dem Umfang nach sicher noch
nicht die Hälfte des Ganzen geboten. Und zweitens:
Auch wenn dieses Buch vollendet sein wird, will es doch
gewissermaßen nur der Vorsaal sein zu einem zweiten
umfassenderen Werk, einem Buch über die Anschauung
vom Worte Gottes im N. T., auf das bereits mehrfach
verwiesen wird. Aber mehr als das; es ist wohl nicht
zuviel gesagt: das Buch verspricht die bedeutendste Erscheinung
unter den mancherlei Arbeiten der letzten
Jahre aus dem Gebiet der Begriffsgeschichte zu werden,
sodaß man nur mit Freude und Spannung auf die angekündigten
Teile warten kann. Es ist in vieler Hinsicht
eine vorbildliche Leistung, die vor allem eine Gefahr
vermeidet, der namentlich Anfänger leicht erliegen: das
Lexikographische erdrückt nicht die Gedankenführung
und doch trägt sicher die Lexikographie wesentlichen
Gewinn davon (wohl bes. durch Beil. I). Die Darstellung
klebt nicht an der Vokabel, sie dringt immer
in die Weite des ganzen Anschauungsgebietes; große
Gedanken walten über dem ganzen Buch und durchdringen
jede Einzeluntersuchung. Das Buch ist eine von den
zwar langsam reifenden, aber gehaltvollen Früchten aus
, Kählers Schule.

III. Schon der Aufbau des Werkes, der S. 20ff.
dargelegt wird, offenbart die souveräne Meisterung des
weitschichtigen Stoffes und die daraus folgende straffe
innere Anlage des Ganzen. Vom A. T. als der nächst-

; liegenden Voraussetzung des ntl. Sprachgebrauchs geht
Sch. aus und zeigt zunächst, wie aus dem Profangebrauch
| der Wörter bissar und besorah — besonders von Sieges-
! botschaften — der religiöse Gebrauch entsteht, einerseits
bei Deuterojesaja, dessen "r_a» in lebendiger Bildhaftig-
keit vor uns tritt, andererseits im Kult, wobei Sch. namentlich
in eine Auseinandersetzung mit Mowinckel ein-
| tritt. Die LXX ergibt darüber hinaus nur sehr geringen
Ertrag; die Euangelionanschauung ist bei ihr sogar offen-
I kundig weniger klar und lebendig als im Urtext. — Ein
: ganz anderes Bild als alles Bisherige zeigen Philo und
I Josephus, bei denen die völlige Abkehr vom A. T. und
— statt dessen — die restlose Abhängigkeit von der
hellenistischen Anschauungswelt sehr eindrücklich nachgewiesen
wird. Damit ist zunächst der Übergang zum
Hellenismus gegeben, sein Euangeliongedanke wird wieder
in einem großangelegten Gemälde dargestellt. Der
profane Sprachgebrauch zeigt zunächst manche Verwandtschaft
mit dem alttestamentlichen: es handelt sich
um politische Nachrichten; insbesondere Sieg ist der In-
| halt des Euangelion; vgl. das reichlich mit Stellen belegte
Bild auf S. 139 ff. In nahem Zusammenhang damit
steht das Euangelienopfer, dessen Problem in ei-
i nem besonderen Kapitel (168 ff.) sehr hübsch entfaltet
und seiner Lösung nahe gebracht wird (wenn auch die
Durchführung manchmal etwas klarer sein könnte). In
dem allen liegt aber noch kein religiöser Begriff von
Euangelion vor. Dieser wird erst im letzten und gehaltvollsten
Kapitel (VIII) der 2. Lieferung vorgeführt:
e>ayyel- wird im kleinasiatischen Gebiet von Orakelspendern
gebraucht, ferner von Göttern, insbesondere von
! Hermes. Von da aus wird der Blick erweitert auf eine
ganze Gruppe verschiedener Gottheiten — himmlischer
wie chthonischer —, die als «yyü.oi bezeichnet werden.

Im letzten Abschnitt ist die Anschauung von der
Heiligkeit des (menschlichen) Boten das charakteristische
: Merkmal des Gebrauchs von Euangelion.

Hier bricht die Darstellung bei Sch. vorläufig ab:
! auch zur Abrundung der hellenistischen Euangelion-
I Vorstellung fehlen noch wichtige Abschnitte: die über
! die Sakralsprache des Neupythagoreismus und über den
Kaiserkult, ganz zu schweigen von der am gespanntesten
erwarteten Behandlung der Probleme, die sich an den
| neutestamentlichen Euangeliongedanken knüpfen.

IV. Die Bedeutung dieser ganzen Untersuchungen
liegt in einem vierfachen: 1. in der paradigmahaften
Durchführung einer ebenso komplizierten wie wichtigen
begriffsgeschichtlichen Untersuchung; 2. in dem bewundernswerten
Reichtum der Materialsammlung zur Begriffsgeschichte
von ei'>aYYEä-ww; 3. in der klaren Führung

i des Gedankens, der das Gewirre der scheinbaren und
wirklichen Anmarschwege zum ntl. Euangeliongedanken
entwirrt und darum zielbewußt die historischen Linien
auszieht, die einerseits ins N. T. hinein, andererseits am
N. T. vorbeiführen, das heißt aber in dem Nachweis des
jüdischen, bzw. atl. Ursprungs des ntl. Euangelionge-
dankens.

Der Euangeliongedanke stellt nämlich in der Tat ein Musterbeispiel
dar für die seit der Entwicklung der religionsgeschichtlich-hellenistischen
Forschung auf der einen Seite, der rabbinischen auf der anderen bei
vielen Begriffen aufgeworfene Grundfrage: liegen die Wurzeln im Griechentum
oder im Judentum? Das Besondere der Sch.schen Darstellung liegt
dabei darin: so klar er die Abkunft des ntl. Euangelionsgedankens aus
dem Judentum nachzuweisen unternimmt, so richtet er doch immer das
Augenmerk auf die auffallende Parallele zwischen Judentum bezw. A. T.
und Griechentum, die sich in zahlreichen Einzelheiten darbietet. Hier
liegt ein weitreichendes Problem, zu dessen Erkenntnis gerade die Geschichte
des Begriffs Euangelion wertvolle Beiträge liefert. Methodisch
und sachlich ist dabei wegweisend, wie Sch. über den auffälligen Parallelen