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Ausgabe:

1932 Nr. 14

Spalte:

334-335

Autor/Hrsg.:

Heiberg, A.

Titel/Untertitel:

Søren Kierkegaards Papirer. 10. Bd., 5. Abt 1932

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 14.

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Nur auf die besonderen Schwierigkeiten der Aufgabe
und auf das allgemeine Schema ihrer Lösung soll noch
hingewiesen werden. Weit weniger scharf als in früheren
Epochen heben sich in der Gegenwart (gerade bei
einem gleichzeitig so konservativen und so fortschrittlichen
Volke wie den Franzosen) die Epochen, die
Schulen, Generationen gegeneinander ab. „Nach-, neben-
und ineinander" spielen sie eine buchstäbliche und greifbare
, nicht etwa bloß metaphorische Rolle im Literatur-
Ablauf der Epoche. Der Verf. kann darum unmöglich
streng chronologisch vorgehen und muß immer wieder
das Gleichartige oder das gegensätzlich Zueinander-
Gehörige aus verschiedenen Zeiten mit kräftiger Hand
zusammenfassen. Im ganzen zeigt sich doch ein Nacheinander
(mindestens im logischen, wenn auch nicht
immer im zeitlichen Sinne) von einer alles auflösenden
Anarchie und einem Streben nach neuer Festigung, nach
neuer Ordnung anstelle des Chaos innerhalb der letzten
vierzig Jahre. Tatsächlich wirken aber diese Strömungen
meist nebeneinander, nicht selten in der gleichen Persönlichkeit
(wie schon das Beispiel Bergsons zeigen
kann). Am konservativsten ist i. a. das Theater; die
Neuromantik entfaltet sich am stärksten in der Lyrik,
während die Erzählung im wesentlichen Form und Gesinnung
von Zola und A. France weiterführt und vielfach
(in der nicht recht geachteten Form des Romans)
das Tiefste gibt, was das zeitgenössische Frankreich
überhaupt zu bieten hat. Daher zeigt sich im Roman
auch am deutlichsten das Ineinander: die Vermischung
und der Ausgleich der Richtungen, besonders zwischen
klassischer Ruhe und romantischer Unruhe. Das Sehnen
nach diesem Ausgleich geht aber durch die ganze Epoche
hin und so kann der Verf. seinem Werk eine triadisch-
synthetische Form geben, wie sie durch die Überschriften
der Hauptkapitel (in der Titelangabe der Bände) angedeutet
ist. Die Erzählung gipfelt in der Darstellung
der Führer dieser Ausgleichsbewegung: V a 1 e r y und
Proust auf der einen, Gide und Romains auf
der andern Seite. Auch hier wird immer wieder der
Einfluß Bergsons fühlbar, nur in ganz eigentümlich einseitigen
Übersteigerungen. So äußert er sich bei M.
Proust als dekadenter Determinismus, die erhabene Bewegung
des Lebens wird zum sinnlosen Spiel; aus Gide
spricht ein (freilich durchaus französischer) Protestantismus
zu uns, der die ordnende und gestaltende Kraft
des klassischen Dichterwillens noch stärker betont als
der philosophische Meister. Noch stärker spricht diese
Kraft der Organisation aus dem „Unanimismus" von
Romains zu uns, dessen „Dictateur" für Kl. so ziemlich
den Gipfel der jüngsten Literaturentwicklung Frankreichs
, besonders nach der dramatischen Seite hin bedeutet
, eigentlich wohl die Überwindung (die „Aufbebung
") des jenseits der Grenze nie so ganz ausgestorbenen
großen Theaterstücks.

Alles in allem zeigt die ganze Darstellung auch gerade
da, wo sie die starken Berührungen der Dichtung
mit der Weltanschauung (besonders mit der Religion
und Metaphysik) herausarbeitet, Seite für Seite die überwältigend
französisch-nationale, dazu noch zeitgebundene
Eigenart dieser ganzen Literatur. Darin liegt ihre
Grenze, darin ihre unzweifelhafte Stärke (im Sinne einer
nationalen Funktion), gegenüber der weltoffenen, äber
auch leicht sich in sich selbst auflösenden Art der deutschen
Dichtung der letzten vierzig Jahre. So spiegeln
sich nationale Schicksale in einem freilich höchst bedeutsamen
Ausschnitt aus dem geistigen Gesamtleben
der Völker. Für den Deutschen bleibt zudem das peinliche
Gefühl zurück, wie wenig wirkliches Verständnis
für deutsche Art sich in der ganzen Literaturentwicklung
Frankreichs zeigt: sei es, daß sie geistige Strömungen
vom andern Rheinufer her in irgend welcher Weise
verarbeitet, sei es, daß sie sich um die Erfassung und
Darstellung unseres Wesens bemüht. Nur zu gern stellt
s|e (in der Art R. Rollands) die „beiden Deutschland"
einander gegenüber, wobei denn das „Wilhelminische

Zeitalter" möglichst schwarz gezeichnet wird. Aber das
Pharisäertum macht vor dem eigenen Volke nicht Halt.
Immer wieder finden wir die gegenseitige Befehdung
des älteren, materialistisch-skeptischen una des neueren,
katholisch-gläubigen Frankreich; was die ganze Darstellung
Kl.s so fesselnd macht, ist die Tatsache, daß oft

i in der Entwicklung, ja in einzelnen Werken oder in der
Kunstform der einzelnen Dichter diese beiden Einstellun-

i gen hart aufeinandertreffen.

j Hamburg. r. Petsch.

i -i-

[Kierkegaard, Sören:) Sören Kierkegaards Papirer. Udgivne
af P. A. H ei b erg , V. Kuh r og E. Tors ting. 10. Bd., 5. Abt.
| Kopenhagen: Oyldendal 1932. (XXXI, 517 S.) gr. 8°.

Dieser neue Band der Tagebücher Sören Kierke-
j gaards bringt auf S. 1—156 die Tagebücher vom 30.
j August 1852 bis 2. November 1853; in diesen Teilen
I haben wir wohl eine Bereicherung der seinerzeit von
| Gottsched in den Efterladte Papirer getroffenen Aus-
! wähl, aber — angesichts der Trefflichkeit dieser Auswahl
— keine eigentlich neuen Erkenntnisse. Für das Spät-
1 Verhältnis Kierkegaards zu Regine ergeben sich ein paar
; Detailzüge. S. 157—175 haben wir die Zusammenstel-
', lung „Mein Verhältnis zu ihr", welche schon aus Raphael
Meyers Veröffentlichung der Verlobungsbriefe bekannt
j gewesen ist; S. 177—197 lose Papiere von 1851—53.
Das eigentliche Interesse des Forschers an diesem
neuen Bande geht angesichts des schon bisher Bekannten
auf die Abteilung B (S. 199—452). Es ist nunmehr
, wenn man die in früheren Bänden zum Teil
schon vorausgenommene Konzeptveröffentlichung zu-
hilfe nimmt, möglich, die Entstehung sowohl der Krankheit
zum Tode wie der Einübung im Christentum von
, den ersten Entwürfen bis zur Druckgestalt mit der un-
i echten Anticlimacuspseudonymität genau zu verfolgen.
! Es ist — worauf etwas ankommt — also vor allem auch
möglich, sich genaue Rechenschaft bis ins Kleinste zu
geben, welche Veränderungen mit den Schriften durch
die Zwischenschaltung von Anticlimacus vorgegangen
sind.

Bei der Krankheit zum Tode ist der Tatbe-
! stand besonders einfach und durchsichtig. Aus VIII
| B 171 wußten wir schon, daß Kierkegaard in dem unter
i eignem Namen mit Vorwort und allem fertig geschrieb-
i nen Druckmanuskript einfach mit Bleistift den Titel unter
' Einfügung von Anticlimacus geändert hat, sonst aber an
[ dem Manuskript nur belanglose Kleinigkeiten geändert
i hat. Die wichtigste ist die Weglassung einer scharf pole-
| mischen Stelle S. V. XI, 213. Der Grund ist wahr-
I scheinlich, daß an dieser Stelle Kierkegaard sich von
i einem Spötter, den er redend einführte, unterschied und
j diese Unterscheidung der Gestalt des Anticlimacus nicht
i ganz angemessen fand. Das beweist aber nur Über-
! empfindlichkeit des Autors für Folgerichtigkeit des Stils,
j und ist sachlich belanglos. Aus dem neuen Bande X 5
! B 15—24 erfahren wir nun, daß der Entstehung des
Namens Anticlimacus vorhergegangen ist der Versuch,
durch eine Schlußbemerkung die eigne Person von der
in dem Buche dargestellten Idealität zu unterscheiden
und klar zu machen, daß er niemanden denn allein sich
I selber richte (B 15—18). In diesem versuchten Schlußworte
steckt der geistige Werdeprozeß des Namens
Anticlimacus fast deutlicher als in den Tagebuchauf-
| Zeichnungen. Dieses an sich schöne und tiefe Schlußwort
i hat er nun nicht gleich opfern wollen, als der Name
Anticlimacus geboren war. Er hat versucht es zu einem
| Nachwort des „Herausgebers", der er, Kierkegaard ja
i nun geworden war, umzugestalten (B 19—23). Aber,
; keine der nacheinander probierten Fassungen hat es
1 dazu gebracht, dem Buche wirklich angefügt zu werden.
■ So ist tatsächlich an der Krankheit zum Tode durch die
Zwischenschaltung von Anticlimacus nichts geändert
i worden.

Nicht ganz so einfach liegen die Dinge bei der E in-
' Übung im Christentum. Hier waren die vorzu-