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Ausgabe:

1932 Nr. 14

Spalte:

331-334

Autor/Hrsg.:

Klemperer, Victor

Titel/Untertitel:

Geschichte der französischen Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart. Bd. V, Teil 3 1932

Rezensent:

Petsch, Robert

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 14.

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wertvollen Beitrag zur Kirchengeschichte Böhmens in
der Reformationszeit geschrieben, weil er die Geschichte
der Unität vielfach im Zusammenhang mit der kirchlichen
und1 politischen Geschichte Böhmens darstellt.

Es ist in einer Anzeige unmöglich, im einzelnen anzuführen
, was in diesem 2. Band zur Geschichte der
Lehre, des Gottesdienstes, der Erbauungsschriften, der
Brüdergesangbücher, der Kirchenordnung im weitesten
Sinn und einzelner Gemeinen und Personen enthalten
ist. Nur auf zwei Punkte sei noch hingewiesen. M.
arbeitet heraus, daß zwei Auffassungen der brüderischen
Bischofsweihe in der alten Unität nebeneinander gestanden
haben. Augusta hält ihren „evangelischen" Charakter
für das Entscheidende, d. h. die Wahl durch die
Gemeinde und die Bestätigung der Gewählten durch den
von der Gemeinde damit beauftragten „Ältesten". Die
andere Anschauung, vertreten durch Bruder Lukas und
Cervenka, sucht einen Zusammenhang des Bischoftums
der Unität mit der apostolischen Sukzession der römischen
Kirche nachzuweisen. Tatsächlich wurde nun durch
die Wahl neuer Bischöfe zur Zeit der Gefangenschaft
Augustas die mit dem ersten Brüderbischof begonnene
Sukzession unterbrochen. Aber Cervenka nahm daran
keinen Anstoß, weil er die Priester- und Bischofsweihe
für wesentlich gleichbedeutend hielt und deshalb auch
für den Ursprung des brüderischen Bischoftums den
Zusammenhang mit der apostolischen Sukzession behaupten
konnte. Daß der Zusammenhang mit der römischen
Bischofsweihe sich nicht feststellen läßt, hat
M. schon früher nachgewiesen. — Endlich ist noch zu
erwähnen, daß M. (s. Vorwort) nach Bartos eine neue
Erklärung für den Namen „Pikarten" gibt, mit dem die
Brüder gewöhnlich von ihren Gegnern bezeichnet wurden
. Danach ist er nicht aus Beghardi entstanden, sondern
geht auf antikirchliche Laienkreise zurück, die 1418
aus der ehemaligen Pikardie nach Böhmen ausgewandert
sind. Da sie aber in ihrer Lehre den Brüdern und
Schwestern vom freien Geist nahe gestanden haben,
scheint doch eine sachliche Verwandtschaft zwischen
den Begharden und Pikarden zu bestehen. Über die
Hauptfrage, warum die Brüder mit diesem Ketzernamen
und dem der Waldenser belegt wurden, werden verschiedene
Meinungen bestehen können. Denn es wird darauf
ankommen, wie hoch man den waldensischen Einfluß bei
der Entstehung der Unität einschätzt.

Herrnhut. Heinz Renkewitz.

Kletnperer, V.: Geschichte der französischen Literatur von
Napoleon bis zur Gegenwart. Bd. V, 3. Teil. Der Ausgleich
(Die Gegenwart). 1. Hälfte: Bergson. Die gewahrte Form. 2. Hälfte :
Die Entgrenzung. Der Ausgleich. Leipzig: B. G. Teubner 1931.
(X, 190 u. VI, 192 S.) gr. 8°. je RM 8—; geb. 10—.

Mit diesen beiden Bänden ist die Darstellung der
französischen Dichtung der neuesten Zeit abgeschlossen
und wir sehen der Erzählung der älteren Geschichte dieser
Literatur durch den Verf. mit gesteigerter Erwartung
entgegen. Denn er hat gleich auf dem nach jeder Richtung
schwierigsten Teilgebiete seiner Arbeit eine so erstaunliche
Beherrschung des fast unübersehbaren Materials
, eine so glückliche Verbindung von bohrendem
wissenschaftlichem Ernst und lebendig-anschaulicher Darstellung
, einen so sicheren Blick für das Wesentliche erwiesen
, daß wir von ihm gerade eine gute, von stichhaltigen
Gedanken geleitete Auswahl und Übersicht und
ein selbständiges, geschichtlich und zugleich ästhetisch
begründetes Urteil über die klassische Dichtung der
Franzosen, aber auch über die verschlungenen Wege der
Renaissance oder der Aufklärung erhoffen dürfen. Was
für die Leser dieser Zeitschrift vor allem in Betracht
kommt, ist die eindringliche und überzeugende Kennzeichnung
einzelner Literaturgruppen und Führer und
die sichere und selbständige Analyse der weltanschaulichen
Grundlagen, Einschläge und Tendenzen ihrer
Dichtung. Der Literaturwissenschaftler i. e. S. begrüßt
dann die mit modernen Mitteln durchgeführte Stilbeschreibung
und -kritik und möchte nur noch mehr bei-
spielhafte Interpretationen in die Darstellung mit ver-
: woben sehen. Gewiß mußte der Verf. sich dem unge-
j heuren Stoff gegenüber stärkste Beschränkung auferlegen
und i. g. ist es nur gut zu heißen, daß er sich
I immer wieder auf „eminente Fälle" im Goethischen
Sinne beschränkt. Nur hätte in eben diesen Fällen die
eigentliche Analyse und die zu ihr gehörigen Synthesen
i des literarischen Kunstwerks als solche gelegentlich noch
j weiter geführt werden sollen. Wir werden einigermaßen
! dafür entschädigt durch eine Reihe förderlicher Erwägungen
über die einzelnen Dichtungsgattungen, deren
j allgemeine Grundzüge um so klarer hervortreten, je ge-
j nauer der Verf. den nationalen Gehalt und die zeitliche
i Begrenztheit ihrer französischen Ausprägungen heraus-
l arbeitet.

Um so dankbarer begrüßen wir die reiche und inner-
| lieh wertvolle Auswahl stilistischer Charakterstücke, die
der Verf. unter dem Titel: „Die moderne französische
i Prosa. Studien. Erläuterte Texte" (in 2., stark vermehrter
Auflage bei Teubner 1926) veröffentlicht hat-
Sie kann auch als willkommenste Ergänzung und Be-
i legsammlung für die Literaturgeschichte dienen, weil
| sich die Interpretation vor allem auf die darstellerische
! und sprachliche Form richtet, insofern der Gehalt (und
j besonders wieder der weltanschauliche und religiöse Ge-
! halt) sich in ihr spiegelt.

Für den Religionsforscher von ganz besonderem
Werte ist die große Einleitung über H. Bergson,
; dessen Geist der ganzen zeitgenössischen Dichtung
! Frankreichs den Stempel aufgedrückt hat und dessen
j Einfluß sie nie verleugnen kann — auch da nicht, wo sie
ihn im katholisch-gläubigen oder im positivistisch-skep-
tischen Sinne auf das stärkste verneint. Kl. dürfte der
Erste sein, der den ästhetisch-dichterischen Einschlag
in Bergsons Gedankenwelt und seine daraus entspringende
enge Verbindung mit dem literarischen Leben des
Landes so scharf erfaßt und so eindringlich herausgeh
arbeitet hat. Er zeigt, wie viele Widersprüche, wie viel
Unselbständiges und selbst Willkürliches B.'s Schriften
enthalten, wenn sie rein vom philosophisch-theoretischen
oder vom naturwissenschaftlich-biologischen Standpunkt
aus betrachtet werden; während sie geschlossen wirken,
trotz oder kraft ihrer polaren Gegensätzlichkeit in der
Bewertung von Instinkt und Intellekt, sobald man
sie in ihrer eigentümlichen halb-dichterischen, nach
Rhythmus und Bildlichkeit hinstrebenden Form und mit
ihren metaphysischen Hintergründen erfaßt. Hier offenbart
sich denn auch Bergsons Verhältnis zur Religion,
die freilich keinen „lebendigen Glauben" und am wenigsten
so etwas wie Erlösungsbedürfnis oder auch nur
grundsätzliche Jenseitigkeit einschließt. Eher zeigt seine
Auffassung der „schöpferischen Entwicklung", wie sie
Kl. (I 16 ff.) umschreibt, stark antik-heidnische Züge
und sein Buch selbst hat die Art eines großen Mythos in
j wissenschaftlicher Formgebung, aber nicht ganz in jenem
| „dauernden schöpferischen Rausch", den der Philosoph
; dem schöpferischen „Leben" nachsagt. So weit die
„Göttin Leben von aller christlichen Gottesgüte" entfernt
i sein mag, so stark und eng ist doch B.'s Zusammenhang
mit der neueren, metaphysischen und selbst christgläubi-
j gen Strömung in der französischen Jugend nach 1871.
I Die energische Trennung zwischen Religion und Dichtung
, die auf der klerikalen Seite notwendig wurde,
knüpft deutlich an den Philosophen des göttlichen Lebens
an und wird bei aller Schärfe selbst von einem
Maritain „mit dankbarer Rückerinnerung, mit einer mitleidigen
und respektvollen Befehdung" geführt (I 47).
j In den Nachwirkungen von Bergsons Philosophie tritt
ihr Grundgegensatz gegen deutsches Denken vom Leben
i und von der Kunst deutlich hervor, den auch Kl. ver-
] schiedentüch unterstreicht.

Auf den Inhalt der beiden Bände im einzelnen kann
i hier nicht eingegangen werden; aus dem Vorstehenden
ergibt sich, wie viel sie unsern Lesern zu sagen haben.