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Ausgabe:

1932 Nr. 10

Spalte:

238-240

Autor/Hrsg.:

Quervain, Alfred de

Titel/Untertitel:

Die theologischen Voraussetzungen der Politik 1932

Rezensent:

Dibelius, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 10.

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legten Anschauung über die Gegebenheitsabkunft aller
Begriffsbildung eine legitime Unterlage für den Begriff
des Irrationalen. So lassen sich die Ausführungen, mit
denen E. den Begriff des Irrationalen zu beseitigen
sucht, nicht halten. Damit schweben aber auch seine umfangreichen
kritischen Darlegungen gegen das Irrationale
bei Theologen der Gegenwart wie R. Otto, K. Barth
und K. Heim wenigstens in ihrer prinzipiellen Tendenz
in der Luft, unbeschadet mancher richtigen Bemerkungen
im einzelnen.

Einen weiteren Vorstoß gegen den Begriff des
Irrationalen unternimmt E. sodann, gestützt auf Martin
Heidegger (S. 186, 194, 212). Dessen onto-
logische Existenzanalyse lasse keinen Raum für grundsätzlich
Unverstehbares. Welt und innerweltlich Zuhan-
denes und Vorhandenes ebenso wie das Dasein der Anderen
seien schon im Vorverständnis ursprünglich erschlossen
. Andererseits leiste Heidegger dem berechtigten
Motiv des Irrationalismus genüge, indem er die
Vorrangstellung des Denkens zu Gunsten der „Sorgestruktur
des Daseins" beseitige. Es bleibe zwar die unerbittliche
Rätselhaftigkeit der „Geworfenheit" des Daseins
. Sein „Woher" und „Wohin" seien verborgen;
nur daß es ist und zu sein hat, werde offenbar. Aber
hier handele es sich nicht um „Irrationalität", sondern
um einen phänomenalen Seinscharakter der Existenz,
dem gegenüber Warumfragen unangemessen seien (S.
179, 216). Eine Auseinandersetzung mit diesen Ausführungen
wäre nur im Rahmen einer eingehenden Kritik
Heideggers möglich.

Der positive Teil der Broschüre, der Versuch der
Begründung einer neuen Religionsauffassung, die „wissenschaftliche
Geltung beanspruchen darf, weil ihre Begriffe
sich phänomenal ausweisen lassen" (S. 140),
steht ebenfalls auf dem Boden der Heideggerschen
Existenzphilosophie. Diese gibt dem Verfasser zunächst
die anthropologischen Voraussetzungen. Er identifiziert
sich mit Heideggers ontologisch-phänomenologischer
Existenzbestimmung, die, von der Analyse des alltäglichen
Daseins ausgehend, zwei Weisen des Daseins unterscheidet
, eine uneigentliche des bloßen „Man-selbst-
seins" und eine eigentliche des echten „Selbstseins". Das
ontologisch und geschichtlich bestimmte Ich finde seinen
Sinn („ist" sein Sinn S. 182) in der Eigentlichkeit seiner
Existenz. Es bedürfe für die Sinnerfüllung keiner Flucht
ins Metaphysische oder dogmatisch-Religiöse. Das Religiöse
will E. nur soweit gelten lassen, als es sich
als ein „E x i s t e n z i a 1" im Sinne Heideggers aufweisen
lasse, d. h. als ein apriorisches, die ganze Existenz
umfassendes, phänomenal aufweisbares Strukturmoment
des Daseins. Nur ein „e x isten zi a 1 e s Denken
", d. h. ein solches, das den apriorischen Aufbau der
Existenz untersucht, dürfe für die Besinnung auf das
Religiöse maßgebend sein. (Kierkegaard, der zuerst
das methodische Prinzip der Existenzbezogenheit
des Denkens, der Hereinnahme der eigenen Existenz in
den Denkansatz zur Geltung brachte, habe den Schritt
vom existenzbezogenen — „existenziellen" — zum „exi-
stenzialen" Denken nicht vollzogen und komme daher
„nicht über seine christliche Gebundenheit hinaus", S.
230.) In Heideggers Lehre findet sich nun freilich kein
Existenzial, das als das Religiöse angesprochen werden I
könnte. Aber E. findet im System Heideggers die Möglichkeit
einer kritischen Richtigstellung. Heidegger habe j
bei der Analyse des Gegebenseins der Anderen nicht i
scharf unterschieden zwischen dem Anderen in der Seinsweise
des „Man-selbst" und dem Anderen, sofern er
durch eigentliches Verstehen in seinem eigentlichen
Selbst erfaßt werde (S. 193, 248). Erst so werde er
zum „Du". So entgehe es Heidegger, daß die Be- I
gegnung mit einem echten Du entschei- |
dende Bedeutung für die eigene Selbst-
Werdung gewinnen könne (S. 250ff.). Die
„Selbstwerdung durch die Gemeinschaft" befreie das
Subjekt aus der Vereinzelung, der es bei Heideggers I

Weg zur Selbstwerdung, dem Vorlaufen zum eigenen
Tode, mindestens zunächst verhaftet bleibe. Zugleich erhalte
erst so das eigentliche Selbst einen konkreten Inhalt
. In der Selbstwerdung durch die Gemeinschaft
will nun Eisenhuth das gesuchte
Existenzial des Religiösen finden
(S. 257 ff.). Religion bedeutet ihm das Ringen um die
Eigentlichwerdung durch Vermittlung eines in Ehrfurcht
ergriffenen eigentlichen Du. „Die Gottesvorstellungen
stehen auf den verschiedenen Existenzstufen in diesem
Dienste der Eigentlichwerdung und damit der Religion.
So auch das Christentum" (S. 258). In Christus ist
die „Intensität" der Selbstwerdung eine ausgezeichnete
(S. 259). „Echte Offenbarung ist an die Eigentlichkeit
des eigenen und fremden Daseins gebunden. Christus ist
echte Offenbarung nur für das Dasein, das seine Eigentlichkeit
dadurch ergreift, daß es in diesem Du-sein ein
eigentliches Dasein sich erschließt" (S. 266).

Religion wird also von Eisenhuth sozusagen auf
einen einzigen Punkt reduziert, der ihm vom existen-
zialen Denken aus faßbar zu sein scheint. Abgelehnt
wird von ihm mit dem Begriff des Irrationalen der
„nicht verstehbare Gottesbegriff" (S. 83), der Begriff
des Glaubens, „wenn er mehr sein will, als künstlerisches
Deuten ohne Wahrheitsanspruch (S, 84, 239),
der dogmatische Offenbarungsbegriff (S. 85, 265), die
Begriffe der Schöpfung (S. 179), der Ewigkeit und des
absoluten telos (als „phänomenal nicht erweisbar" S.
230). Folgerichtig gibt E. daher den Begriff der Theologie
überhaupt preis und ersetzt ihn im Anschluß an
einen Natorpschen Terminus durch den der existenzialen
Grenzlogik (S. 81, 240).

Eisenhuths Versuch, die Heideggersche Existenzphilosophie
zu einer „Religionsbegründung" zu verwenden
, muß, schon wegen der Ausschaltung des Gottesbegriffs
, als mißlungen bezeichnet werden. Wertvoll aber
ist seine positive und weiterführende Kritik an Heidegger.
— Die theologische Auswertung der Heideggerschen
Philosophie bleibt als Aufgabe bestehen. Eine fruchtbare
Inangriffnahme dürfte aber erst möglich sein, wenn
es gelungen ist, die Heideggersche Position so weiterzubilden
, daß der Blick für die religiöse Transzendenz
offen werden kann. Dann erst würde auch Eisenhuths
positiver Grundgedanke, die Bedeutung der Begegnung
mit eigentlicher Existenz für die Selbstwerdung, theolr>
gisch ins rechte Licht gerückt werden können.

Berlin. A. v. Sy bei.

Quervain, Lic. Alfred de: Die theologischen Voraussetzungen
der Politik. Grundlinien einer politischen Theologie- Berlin: Furche-
Verlag 1931. (192 S.) gr. 8°. RM 6—; geb. 7.80.

Das Buch erörtert zunächst die großen theologischen
Gesichtspunkte, unter denen das politische Leben
zu betrachten ist. Es folgt eine Auseinandersetzung mit
den wichtigsten Typen evangelisch bestimmter politischer
Anschauungen, mit dem Liberalismus, dem Sozialismus
und dem Konservatismus. Zum Schluß werden die gewonnenen
Erkenntnisse zusammengefaßt und den Auffassungen
einzelner politischer Persönlichkeiten der
neuesten Zeit gegenüber gestellt.

Das Buch ist vom Standort der dialektischen Theologie
aus geschrieben und redet die Sprache dieser
Schule. Das Neue Testament spielt eine merkwürdig
geringe Rolle. Reichlicher werden die Reformatoren
herangezogen. Die Zitate, die neutestamentlichen wie
die reformatorischen, werden mit bemerkenswerter Selbstherrlichkeit
interpretiert und verwandt.

Das Buch will die Voraussetzungen der Politik von
den Grundsätzen der Reformation her bestimmen. Es
will die politischen Begriffe klären und den „Ort" der
Politik — wie es in der Schulsprache heißt — sehen lehren
. Den Ausgangspunkt bildet die Rechtfertigung des
Sünders durch den gnädigen Gott. Das ist das Prinzip
alles evangelischen Denkens. Es muß auch das Prinzip
des politischen Denkens sein. Der evangelische Christ