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Ausgabe:

1932 Nr. 9

Spalte:

209

Autor/Hrsg.:

Brunner, Robert

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Lehre vom Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit mit besonderer Berücksichtigung seiner theologischen Methode 1932

Rezensent:

Wobbermin, Georg

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209

Theologische Literaturzeitung 1932 Nr. 9.

210

Brun ner, Robert: SchleiermachersLehrevom Gefühlschlechthi-
niger Abhängigkeit mit besonderer Berücksichtigung seiner
theologischen Methode. Bern : P. Haupt 1931 (110S.) 8°. RM2.40.
Es trifft sich eigenartig, daß nunmehr ein Schweizer
Pfarrer eine scharfe Kritik der Schleiermacher-Interpretation
seines Namensvetters Emil Brunner in Zürich vorlegt
. Denn in der Polemik gegen des letzteren Verdikt
über Schleiermachers Religionsauffassung als Mystik,
Mystizismus, Erlebnisexpressionismus, Panästhetizismus
und dergl. darf im Sinne des Verfassers selbst das
Hauptanliegen seiner Schrift gesehen werden. Psychologismus
lasse sich bei Schleiermacher nicht finden, ohne
ihm Gewalt anzutun. Andererseits sei es ein verhängnisvoller
Fehler der „Dialektiker", zu meinen, daß die
Theologie ohne religiöse Erfahrung auskommen könne.

Indes die Kritik des Verfassers richtet sich nicht
bloß gegen Emil Brunner und die anderen Dialektiker.
Sie richtet sich auch gegen die übrigen heute an der
Schleiermacher-Forschung beteiligten Theologen, zumal
gegen diejenigen, die in Schleiermachers Behandlung
des Religionsproblems in der Glaubenslehre (§ 3—5 der
2. Auflage) eine Kreuzung verschiedener Methoden finden
. In dieser Hinsicht lehnt er ebensowohl die Stellungnahme
Georg Wehrungs wie diejenige des Unterzeichneten
ab. Auffallender Weise fragt und untersucht er aber
nicht, worauf es denn beruht, daß Wehrung und ich von
verschiedenen Ausgangspunkten aus an dem genannten
Punkt so völlig zusammentreffen.

Und speziell in Bezug auf meine eigene Position
steigert sich die Seltsamkeit des Urteils des Verfassers
nochmals. Er billigt nämlich den Ansatz meiner Problemstellung
aufs nachdrücklichste (S. 63); und er billigt
ebenso nachdrücklich wieder die Hauptthese meiner abschließenden
Stellungnahme, d. h. die Umkehrung der
Reihenfolge der beiden Grundbegriffe des Leitsatzes zu
§ 4 (S. 95). Die dazwischen liegende religionspsychologisch
orientierte Argumentation aber, die von jenem
Ansatz zu diesem Ergebnis führt, mißbilligt er als unklar
und verworren. Was stiftet hier die Verwirrung?
Erstlich gebraucht der Verfasser das Wort „empirisch"
in irreführender Weise. Die Grundintention Schleiermachers
geht nicht, wie der Verfasser behauptet, auf
eine empirische Betrachtung im wissenschaftstheoretischen
Sinne des heutigen Sprachgebrauchs. Sie geht
vielmehr — in der heutigen philosophischen Schulsprache
geredet — auf phänomenologische Wesensschau
, aber freilich nicht im Sinne einer bestimmten
philosophischen Phänomenologie, sondern unter Berücksichtigung
der Eigenart der religiösen Überzeugung nach
ihrer logischen und psychologischen Struktur. Im Hinblick
auf diesen letztgenannten Sachverhalt ist eine solche
Betrachtungsweise sachgemäß als religionspsychologisch
zu bezeichnen. Daß sie als solche zugleich
existentiellen Charakter trägt, liegt wieder in der Natur
der Sache, nämlich der religiösen Glaubensüberzeugung.
Sie führt gewiß nicht direkt und ohne weiteres zur Beantwortung
der Wahrheitsfrage, aber sie liefert die nötige
Grundlage für ihre Bearbeitung. — Was schließlich
das Verhältnis des § 3 zu den §§ 4 und 5 betrifft,
so ist die gemeinsame Linie eben die der religionspsychologischen
Intention. Der Unterschied beruht darauf,
daß § 3 als Vorbereitung formal-psychologischen Charakter
trägt, während die §§4 und 5 auf die Sache
selbst, d. h. auf den Sinngehalt der religiösen Überzeugung
gehen. Beide Male aber wird diese Linie durch
einen starken Einschlag erkenntnistheoretisch-spekulativer
Art durchkreuzt.

Der Verfasser hat ganz recht, wenn er Schleiermacher
gegen den Vorwurf des Psychologismus in
Schutz nimmt. Aber er verkennt die Kompliziertheit der
Problemlage sowohl in historischer als in sachlicher
Hinsicht, und sucht ihre Lösung in beiden Richtungen
auf zu einfachem Wege, wenn er Schleiermachers Gesamtposition
als Skeptizismus, als Indifferenz gegenüber der
Wahrheitsfrage beurteilt.'
Göttingen. G. Wobbermin.

Bartelheimer, Wilhelm: Schleiermacher und die gegenwärtige
Schleiermacherkrilik. Eine Untersuchung über d. Subjektivismus
. Mit einem Vorwort v. Friedrich Gogarten. Leipzig:
J. C. Hinrichs 1931. (IV, 140 S.) 8°. RM 9-.

Wieder eine in sich selbst zwiespältige Schrift, in
dieser Hinsicht den kürzlich hier angezeigten Schriften
von Bauhofer (vgl. Nr. 8, Sp. 184) und Robert
Brunner (vgl. Nr. 9, Sp. 209) zu vergleichen. Zu beiden
steht denn Bartelheimers Schrift auch in enger inhaltlicher
Beziehung. Mit Bauhofer teilt sie den Ausgang
von der dialektischen Theologie, mit Robert Brunner
die Beschäftigung mit Schleiermacher.

Der theologisch-wissenschaftliche Wert des Buches
beruht auf dem ersten um fangreichen Teil, der sich mit
den Fragen nach „Gegenstand und Zustand in Schleiermachers
Religionsbegriff" beschäftigt. Diese Ausführungen
des Verfassers zeigen eine gründliche Vertrautheit
mit den Gedanken Schleiermachers und — in erfreulichem
Unterschied zu der bei den Dialektikern beliebten
Art der Schleiermacher-Kritik — das Bestreben nach
unbefangener und vorurteilsfreier, rein an der Sache
selbst orientierter Stellungnahme.

Ein Vorbehalt ist diesem Urteil allerdings sogleich
hinzuzufügen. Es gilt nämlich nicht für den ersten Ansatz
der Untersuchung. Hier zeigt sich auch B. noch
in der üblichen Problemstellung befangen, die sich unter
der Einwirkung der Hegeischen Spekulation ausgebildet
hat und sich von daher bis heute gleichmäßig bei Gegnern
und Verteidigern Schleiermachers zu finden pflegt.

Schleiermachers gesamte wissenschaftliche Arbeit,
gerade auch die theologische, wird von vornherein unter
den Gesichtspunkt spekulativer Philosophie gestellt und
demgemäß von diesem Gesichtspunkt aus verstanden.
Das bedeutet aber gegenüber dem Reichtum Schleiermachers
eine einseitige Verkürzung seiner Arbeit und
am allermeisten seiner theologischen Bestrebungen. Die
bleibende Bedeutung der Glaubenslehre beruht letztlich
gerade darauf, daß in ihr philosophische Spekulation
und das Streben, die Gedankenführung streng aus dem
Glauben heraus zu gestalten, im Kampf mit einander
liegen. Gerade hierauf beruht der große Wert der
Glaubenslehre Schleiermachers für die Schulung des
theologischen Denkens. Denn dieses muß ja immer
wieder von neuem durch solchen Kampf hindurch, wenn
es seine evangelische Eigenart bewahren und nicht dem
Schicksal Petersons verfallen will.

Diesen Sachverhalt hat auch B. in seinem Ansatz
nicht hinreichend beachtet. Das bekundet sich schon darin
, daß er die Bedeutung, welche die Probleme der
Hermeneutik für Schleiermachers theologisches
Denken besitzen, im Ansatz ganz unberücksichtigt läßt. In
dem Interesse für die Fragen der Hermeneutik wurzelt
recht eigentlich die religionspsychologische Linie des
Schle'iermacherschen Denkens, sofern es ihm auf die
Herausarbeitung des Sinngehaltes der Glaubensüberzeugung
ankommt. Von hier aus ist daher
auch Bartelheimers Ansatz zu begrenzen und zu berichtigen
. Er liegt in der These vor, „die eigenartige
Erfassung des prineipium individuationis sei schlechterdings
der Faden des ganzen Schleiermacherschen Denkens
". B. bezeichnet diese These als „unwiderlegliche
Tatsache" (S. 9). In Wirklichkeit ist die These nicht eindeutig
; sie kann daher irreführend wirken, indem sie die
Bedeutung jener anderen Linie unterschätzen läßt. So
versteigt sich denn auch B. selbst zu der Behauptung, die
Einsicht in Schleiermachers Fassung des prineipium individuationis
(daß nämlich das Sein des Individuellen,
die Mannigfaltigkeit, auf keine andere Weise „ist" als
in und auf Grund der Einheit, und daß andererseits die
Einheit nicht als Wesen für sich vor oder hinter den
Erscheinungen, sondern auf keine andere Weise vorhanden
ist als in der Mannigfaltigkeit der besonderen
Dinge) lasse sogleich „den ganzen Schleiermacher" erkennen
. Das ist eine grotesk-einseitige Verschiebung des
Sachverhalts!

Aber trotz dieses schiefen und irreführenden An-