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Ausgabe:

1931 Nr. 6

Spalte:

141-143

Autor/Hrsg.:

Scheller, Walther

Titel/Untertitel:

Die Wahrheitsfrage der Religion 1931

Rezensent:

Kesseler, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 6.

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vor sich, so ist sogleich festzustellen, daß dieses ein
irntner neues Jetzt ohne Vergangenheit ist und daß es
„nicht einen Augenblick beharren kann; es schlägt um
in das anschauliche Betrachten seiner selbst". Dauernd
verwandelt sich das „Erlebnis-Ich" in das „Vorstellungs-
Ich". Dieses stellt vor, d. h. es ist anschaulich betrachtendes
Selbstbewußtsein im Gegensatz zu jener Art von
Selbstbewußtsein, das sich erfaßt im „ganz unmittelbaren
Sich-selbst-erleben". Indem „Erleben" bei R.
nichts weiter bedeute als „sich seiend fühlen, ganz
dumpf und unklar, ehe es uns deutlich wird, wie wir
uns fühlen", bezeichne, so meint die Verf., das Wort
Erleben „etwas ungleich Tieferes und Ursprünglicheres
" als was man sonst darunter verstehe. Ebenso er- I
weitere sich die Bedeutung von „Vorstellen" über die j
übliche hinaus. Alles Bewußte im Sinne von Objektsein
für ein Subjekt sei eine Vorstellung. So seien
„unsere Empfindungen, Wahrnehmungen, Phantasievorstellungen
, Gedanken, Entschlüsse, mit einem Wort, alle
anschaulichen Bewußtseinstatsachen Vorstellungen".
„Leib" entspricht so dem anschaulichen Vorstellen,
„Seele" dem unanschaulichen Erleben. Beides aber sind
nur wissenschaftliche Abstraktionen, denn alle uns ge- I
gebene Wirklichkeit ist immer seelisch-leiblich zugleich,
wobei nur eines von beiden überwiegt. „Seelisches und |
Leibliches durchdringen einander beständig, indem sich
jeden Augenblick ein Erlebnis in die Vorstellung seiner
selbst verwandelt, diese Vorstellung aber selbst wieder
vom Erlebnisbewußtsein begleitet ist". Zwischen beiden
„Naturen in uns" — schon i n uns scheiden sich „Außenwelt
" und „Innenwelt" — findet ein fortwährendes In-
einanderübergehen statt. Es liegt keine schroffe Grenze
zwischen ihnen. Das wahre Verhältnis zwischen Leib
und Seele besteht „in diesem Übergehen des unbestimmten
, undeutlichen Lebensgefühls in ein ganz bestimmtes,
deutlich gesondertes und benennbares Gefühl".

Aus dieser Auffassung soll nun Licht auf etliche
Probleme fallen. So sind wir selbst das Metaphysische,
die wahre Realität. Freilich werden wir ihrer „einzig
durch das für Verstand und Sinn unfaßbare Erlebnis"
gewiß. So zeigt sich das Problem der Willensfreiheit
als die Spannung der beiden Iche, von Theorie und
Leben. Schließlich ergeben sich aus R.s ganz neuer
Auffassung des Ich „überraschende ethische Anschauungen
, die sich noch garnicht in ihrer Tragweite für
die Lebensgestaltung überblicken lassen".
Wien. Johannes Möldner.

Scheller, Dr. Walther: Die Wahrheitsfrage der Religion. Berlin-
Reuther & Reichard 1930. (VIII, 190 S.) gr. 8°. RM 6—; geb. 8—!

Das Problem der religiösen Wahrheitsfrage philosophisch
zu erörtern, scheint mir in unserer Zeit besonders
verdienstvoll, die oft allzu leicht und allzu schnell
diese Wahrheitsfrage durch bloße Berufung auf die
Offenbarung abschneidet. So hat der Verfasser denn
auch die Religionsbegründung der dialektischen Theologie
abgelehnt. Ebenso bedeutsam ist solche vorurteilsfreie
philosophische Untersuchung gegenüber allen verengenden
Vorbehalten, die nicht die ganze Fülle des
religiösen Tatbestandes überschauen. Deshalb weist der
Verfasser auch die Versuche zurück, ohne einen allgemeinen
Religionsbegriff bloß vom Christentum oder von
der „ponderablen" Religion auszugehen. Zu Unrecht
aber wird Wobbermins religionspsychologische Methode
als eine unerlaubte Verschmelzung von zwei ganz
heterogenen Betrachtungsweisen abgewiesen, was umso
unverständlicher ist, als der Verfasser selber weitgehend
mit dieser Methode arbeitet.

Denn wenn er zunächst den „Kollektivbegriff" oder
das „Kollektivbild" der Religion bestimmt, dann arbeitet
er nur vermeintlich und scheinbar bloß empirisch. An
einer Stelle bekennt er das selber, wenn er sagt, daß
diese Art des Feststellens „nicht ein äußeres, mechanisches
Konstatieren, sondern eine Erfassung sinnvoller
Zusammenhänge ist, wobei ein verstehendes Einfühlungsvermögen
die Vorbedingung ist". Das ist letztlich

das Anliegen und das Ergebnis der religions-psycholo-
gischen Methode. Den „allgemeinen Rahmen", in dem
alles Platz hat, was als Religion gelten möchte, bestimmt
der Verfasser als seelisches Verhalten, welches
auf der Erfahrung gründet, daß das Leid der Welt durch
eine erlösende überweltliche Macht aufgehoben wird.
Dabei ist sich der Verfasser durchaus klar darüber, daß
dieses Kollektivbild immer von einer Reihe begrifflich
unfaßbarer, ganz persönlicher Momente umspielt bleibt.

Vor dem philosophischen, näher gesagt, erkenntnistheoretischen
Forum erscheinen dem Verfasser zwei Irrwege
, nämlich die Auffassung der Religion als eines
adaequaten Wissens vom absoluten Sein und die Auffassung
der Religion als eines bloß menschlichen, vom
Bewußtsein erschaffenen Vernunftproduktes. Auf einer
weit ausholenden, stellenweise im Verhältnis zum Gesamtumfang
der Schrift vielleicht etwas zu breiten erkenntnistheoretischen
Darlegung zeigt der Verfasser, daß
echte Religion beides umfaßt, die Begründung auf eine
bewußtseinstranszendente Realität und ihre Einordnung
in die Struktur des menschlichen Bewußtseins. Dabei ist
er sich aber mit Recht darüber klar, daß jene Begründung
immer nur in gleichnishaften Symbolen reden
kann und daß diese Einordnung niemals ihres transzendenten
Hintergrundes vergessen darf, in der Sprache der
Religion ausgedrückt: Religion gründet immer auf
Offenbarung und Religion ist immer auch menschliches
Bewußtseinsphänomen. „Der Anfang aller Religion ist
die Entthronung des menschlichen Ich, mag es auftreten,
unter welcher Maske es will." „Nur da ist echte Religion
, wo wirkliche Offenbarung vorhanden ist, wo also
ein von allem Erkennbaren und Gewünschten wesensmäßig
verschiedenes Seiendes in der Sprache des Subjektes
zu dessen eigentlichem Lebenssinn wird." „Offenbarung
kann nur in gleichnishafter Repräsentation erfolgen
, nur so kann es auch wirkliche Offenbarung
geben, nämlich die Offenbarung von einem wirklich
Transzendenten und Übergleichnishaften." Die Herausarbeitung
dieser Einsichten ist in der heutigen theologischen
Lage von ganz besonderem Wert.

Scheller ist aber weit davon entfernt, durch diese
Erörterung der Wahrheit der Religion vernunftgemäße
Beweise geben zu wollen, was das Wesen der Religion
aufheben würde, denn „das bewiesene Übererfahrbare
ist nicht mehr als Gegenstand des Glaubens denkbar,
nicht mehr religiöses Objekt". Deshalb wird ausdrücklich
betont, daß die vorliegende Schrift nur zu zeigen
versuche, was wahre Religion sei, aber auf den Nachweis
verzichte, daß solche Religion mehr als Selbsttäuschung
sei. Was die Philosophie im günstigsten
Falle als Wahrscheinlichkeit herausstellt, nämlich die
Realität des „übererfahrbaren" Seins, das ist dem Glauben
unmittelbar gewiß: „Die letzte eigentliche Wahrheitsbegründung
fällt der Religion selbst zu." Die Religion
hat demnach die Wahrheitspostulate des allgemeinen
Denkens zwar zu ihrer Voraussetzung und darf
sich zu ihnen niemals in Widerspruch setzen, aber ihre
letzte Wahrheitsgewißheit trägt sie in sich selber.

Man wird dem Verfasser für seine erkenntnistheoretischen
Darlegungen und besonders für die Analyse der
i Struktur des religiösen Bewußtseins Dank wissen, denn
gerade heute sind solche Darlegungen nicht immer beliebt
und angesehen und vielleicht gerade deshalb wertvoll
. Ein Bedenken ist mir allerdings aufgestiegen,
nämlich die Frage, ob der Verfasser die Erörterung der
Wahrheitsfrage wirklich weit genug vorgetrieben hat.
Wenn er wirklich nur gezeigt hat, was wahre Religion
j ist, ohne zu prüfen, ob solche etwa auf Selbsttäuschung
beruht, dann ist er in der Erörterung der Wesensfrage
[ stecken geblieben, zu der auch die Feststellung gehört,
i daß die echte Religion an der Realität ihres Objektes
! lebendigst interessiert ist. Die Wahrheitsfrage drängt
doch noch einen Schritt weiter, nämlich zur Erörterung
des Problems, ob das Wahrheitsinteresse der Religion
I auch vollinhaltlich berechtigt ist. Nun ist das ganz gewiß
zuletzt Sache der praktischen Glaubensüberzeugung.