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Ausgabe:

1931 Nr. 6

Spalte:

140-141

Autor/Hrsg.:

Haubfleisch, Marie

Titel/Untertitel:

Wege zur Loesung des Leib-Seelenproblems 1931

Rezensent:

Möldner, Johannes

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139

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 6.

140

sylvanien 1742—1762 verdient nicht nur deshalb Beachtung
, weil sie eine bisher kaum beachtete Form
eines christlichen Kommunismus der Verborgenheit entreißt
, sondern vor allem deshalb, weil Bethlehem das
einzige Beispiel eines Kommunismus auf dem Boden
lutherischer Frömmigkeit ist. Die Bewohner Bethlehems
sind Streiter Jesu Christi, die nicht aus einem
Heiligkeitsideal heraus, sondern aus Dankbarkeit für die
Versöhnung durch Jesu Kreuzestod ihr tägliches und
wirtschaftliches Leben zu einem Gottesdienst und zugleich
zu einem Dienst an den heidnischen Indianern
gestalten. Der Viehhof wird zum „Gnadentempel, da es
priesterlich zugeht", es ist eine Gnade, um des Heilands
willen Holz zu hacken, und ein Kind, das für die Pilger
(Missionare) spinnt oder Wolle pflückt, dient
dem Evangelium. Die kommunistische Wirtschaftsform
wurde gewählt, weil sie nicht nur das Durchkommen
in dem noch unwirtlichen Lande am besten ermöglichte,
sondern weil der Zweck dadurch erreicht wurde, die
Mittel für die Arbeit an den Indianern am leichtesten zu
gewinnen. Darum gilt sie nicht als die einzige dem
Evangelium entsprechende Wirtschaftsform, die jedermann
aufgedrängt werden müsse; sie wird nicht einmal
den Bethlehemern aufgedrängt. Wer will, kann gehen
und seine eigne Wirtschaft anfangen, ohne daß darum
seine Frömmigkeit als minderwertig bezeichnet wird.
Man will sogar in der Nähe für diesen Zweck einen
Brüdergemeinort mit Privatwirtschaft anlegen, aber es
ist zunächst kein Bedürfnis dafür vorhanden. Im Jahre
1753 wird gefragt, ob nicht einige lieber an einem andern
Ort für sich hausen wollten, aber niemand ist
dazu bereit. Erbe liest hier aus den Antworten der Gefragten
auch egoistische Motive heraus; das ist ohne
Frage richtig, wenn es auch ein berechtigter Egoismus
sein mag. Doch spielt hier noch etwas anderes hinein.
Wenn es den Leuten bei dem Gedanken, von Bethlehem
weg in die Privatwirtschaft zu ziehen, bange wurde, so
hängt das mit der Weltangst des Pietismus zusammen.
In Bethlehem konnten sie arbeiten, ohne sich in Händel
der Nahrung zu verflechten und in das weltliche Erwerben
und Sorgen hineinzukommen. Das erklärt auch
die Begeisterung, mit der man arbeitete — man hat in
Bethlehem wohl 16 Stunden des Tags gearbeitet, ohne
einen Vorteil für sich selbst zu haben. Die Gründung
des Lebens auf die lutherische Versöhnung statt auf ein
pietistisches Heiligungsideal und die Organisation der
Arbeit als Gottesdienst hatte den gewesenen Pietisten,
nun Herrnhutem eine freie und positive Stellung zur irdischen
Arbeit gegeben, die gewaltige Kräfte entband.
Die Arbeit ist überhaupt ein Fest: unter Trompetenschall
ziehen die Schnitter zur Ernte, mit Musik rückt man auf
den Bauplatz, alle wichtigen Arbeiten in den mannigfachen
Gewerben werden mit Liebesmahlsfeiern eingeleitet
. Kommunisten könnten hier ihr Ideal erreicht
sehen, wenn man nicht die Frage stellen müßte, ob der
Bethlehemer Kommunismus wirklich echter Kommunismus
gewesen sei. Es fehlt vor allem das kommunistische
Ideal: die Wirtschaftsform Bethlehems lebt von
einem fremden Ideal, dem religiösen, und ist ein Zufallskommunismus
, der, wenn es aus irgend welchen Gründen
ratsam erscheint, einer andern Wirtschaftsform Platz
macht. Und in der Tat ist im Jahre 1762, ohne daß ein
wirtschaftliches Versagen zu bemerken gewesen wäre,
der Kommunismus aufgehoben worden, und zwar ohne
wesentliche Reibungen. Es ist auch bemerkenswert,
daß bei diesem Kommunismus die Ehe hochgehalten
wurde und daß Privatvermögen wohl zur Zeit praktisch
unwirksam, aber doch nicht aufgehoben war. Wer etwa
eine Erbschaft machte, tat sie in die allgemeine Kasse,
dort wurde sie zu seinen Gunsten gebucht und stand
jederzeit zur Auszahlung bereit. Bethlehem ist eigentlich
eine große Familie, eine Anstalt zu bestimmtem Zweck
mit einer gemeinsamen Haushaltung, ein protestantisches
Kloster ohne Askese und Verdienstlichkeit. Reichtümer
hat Bethlehem trotz großer wirtschaftlicher Erfolge
nicht gesammelt, denn ein großer Teil der Bewohner

war immer unterwegs zu den Heiden, zu den Indianern
im Land, zu den Negern auf St. Thomas und zu den
Indianern in Suriname, und alle Kosten dieser Missionen
I trug der Bethlehemer Haushalt. Hier liegt ja der ei-
j gentliche Zweck Bethlehems, es ist eine große Missions-
j anstalt. Der Missionstheoretiker sieht hier ein Beispiel
j davon, wie die Frage des Unterhalts einer Mission —
j ohne Sammlungen — auf eine eigenartige Weise gelöst
ist und, was noch wichtiger ist, wie eine ganze Gemeinde
an der Missionsaufgabe beteiligt wird. Zinzendorfs
Streiter- und Missionsideal findet hier seine klassische
Ausprägung. So sehr der Geist Zinzendorfs in der
| ganzen Sache lebte, er selber hätte die Aufgabe, die et
I Bethlehem gestellt hatte, nicht durchführen können,
j dazu fehlte ihm die Stetigkeit. Der Organisator Beth-
| lehems war August Gottlieb Spangenberg, der nach
Zinzendorfs Tode der geistige Leiter der Brüdergemeine
gewesen ist und als solcher in der Geschichte bekannter
geworden ist als durch sein „Meisterstück", die Organisierung
der Bethlehemer Gemeine. Er war auch der
einzige Mann, der der Aufgabe gewachsen war: als er
einmal abberufen wurde, versagte die neue Leitung vollständig
, und der „amerikanische Originalmann" mußte
die Leitung wieder übernehmen. In den Biographen
Spangenbergs von Risler (Barby 1794) und Reichel
(Tübingen 1906) sowie in der History of Bethlehem
von Levering (Bethlehem 1903) ist die Organisation
I Bethlehems ausführlich geschildert worden, ihrer grund-
| sätzlichen Bedeutung nach aber hat sie erst Erbe behandelt
. Die Arbeit beruht auf einer gründlichen Durcharbeitung
der archivalischen Quellen und zeichnet sich
| durch eine anschauliche Darstellungsweise aus, Hinweisungen
auf andre kommunistische Unternehmungen
stellen die Eigenart Bethlehems gut heraus. — Der
Titel des Buches leidet unter der Abkürzung: Pa. Es
ist nicht anzunehmen, daß ein deutscher Leser sofort
weiß, daß damit Pennsylvanien gemeint ist, man könnte
sogar auf Palästina raten.

Herrnhut. W. Rettermann.

Haubfleisch, Dr. Marie: Leib und Seele. Ihr Unterschied u.
ihre wechselseitigen Beziehungen. Berlin: Reuther & Reichard 1930.
(V, 63 S.) 8°. RM 3-.

Drei Vorträge als Einführung in das Werk Robert
j Reiningers: Das psycho-physische Problem. Eine erkenntnistheoretische
Untersuchung zur Unterscheidung
I des Physischen und des Psychischen überhaupt. —
(Wien und Leipzig 1916, 19302). Läge dieses außerordentlich
klare und reichhaltige Buch selbst zur Besprechung
vor, so lohnte es sich nicht, auf das obige
Büchlein einzugehen, denn es ist der teilweise umständliche
Versuch einer begeisterten Schülerin, die
! Grundgedanken ihres Lehrers auf eigene Weise darzu-
! bieten. Aber sie treten viel weniger klar und plastisch
I heraus als bei R. selbst, sodaß es auf jeden Fall besser
ist, sogleich zu ihm zu greifen.

Da aber R.s Werk wenig bekannt zu sein scheint
und dem behandelten wichtigen Problem in sehr eigenartiger
Weise zu Leibe geht, besonders aber auch, weil
es zum hermeneutischen Problem, das ja jeden Theologen
nahe berührt, — es kleidet es zum Schlüsse in
Schillers Worte: „Spricht die Seele, so spricht, ach!
I schon die Seele nicht mehr" — recht Fesselndes von
i seinem Standpunkt aus beibringt, so sei das vorliegende
Büchlein benützt, einen Einblick in es zu geben.

In der Überzeugung, daß nur R. „die Lösung des
I Problems gebracht habe und sie einzig bringen konnte"
(18f.), führt die Verf. aus: Die bisherigen Theorien
der Wechselwirkung, des Parallelismus und Occasio-
j nalismus befriedigen nicht, weil sie nicht auf den Grund
des Problems gelangen. Erst R. ist durch sein Ausgehen
j vom „wahrhaft Seelischen" auf den Grund gedrungen.

Dieses ist das „Ureriebnis der eigenen Wirklichkeit",
I wie es uns im Daseinsgefühl als „etwas ganz Unan-
I schauliches, Unaussprechliches" gegeben ist. Sagt man,
solches unanschauliches Erleken gehe im „Erlebnis-Ich"