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Ausgabe:

1931 Nr. 5

Spalte:

100-103

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf von

Titel/Untertitel:

Christus praesens - vicarius Christi 1931

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 5.

100

zeugen, aber sie sind auch wie die Feinarbeiten eines
Meisters, der an kleinem Gegenstand die reife Kraft
noch einmal betätigt, die seine Hauptwerke in Größe
dokumentieren. Es ist ein lebendiges Zeichen dieser
ungeschmälerten Liebe und Kraft, wenn er in dieser
Abhandlung das Problem der Entstehung des Primats
des römischen Bischofs aufgreift, das durch die Untersuchungen
Erich Caspars neu gestellt ist, und es ist ein
ebenso lebendiges Zeugnis für die Arbeitsweise Har-
nacks, wie er dieses Problem aufgreift. Die Abhandlung
spitzt sich auf eine verhältnismäßig kleine
exegetische Frage zu, auf die Frage nach dem Sinn
der tertullianischen Wendung, die ihr den Namen gegeben
hat, untersucht sie in der Fülle ihrer möglichen
Beziehung und Bedeutung, und nachdem der Sinn mit
allen Mitteln gesichert, das Wahrscheinliche von dem
nur Möglichen gesondert ist, hält man wie ein unerwartet
Beschenkter weitreichende Folgerungen in der
Hand, von denen der Untertitel nur weniges andeutet.

Die exegetische Frage richtet sich auf die Polemik
Tertullians gegen des Bischofs Kallist Bußedikt in De
pudic. 2 und 21: Ist in diesen Kapiteln eine schriftliche
Kundgebung Kallist's angegriffen, die jenes Edikt
begründete? Caspar verneint die Frage, Harnack bejaht
sie. Und sodann: Wenn in dieser Polemik das Petruswort
Mt. 16,18 f. begegnet, handelt es sich da um eine
rhetorische Fiktion Tertullians oder hat schon Kallist
sich in seiner Begründung auf das gleiche Wort berufen
? Caspar entscheidet sich für die erste, Harnack
für die zweite Möglichkeit. In ungeschmälerter Frische,
durch keinerlei feste Urteile behindert, wie sie eine so

froße Vertrautheit mit dem Stoff durch Jahrzehnte
indurch leicht zu geben vermag, erwägt Harnack wie
etwas Neues und Unbekanntes das mannigfache Für
und Wider. Er begründet seine Entscheidung, ohne
Rücksicht auf die dunkle Wendung Tertullians, auf die
Caspar sich gründete: ad te, id est ad omnem eccle-
siam Petri propinquam. Erst auf den letzten Seiten,
d. h. auf dem Höhepunkte der Abhandlung wendet
sich Harnack dem Problem dieser Stelle zu, die einzigartig
und undurchsichtig scheint, wie man sie auch
drehe und wende. Da hilft ein glänzender Einfall zum
krönenden Schluß des Ganzen: Nicht „omnem" darf es,
sondern „romanam" muß es heißen; solch ein Verschreiben
ist bei der bekannten Textunsicherheit gerade
dieser tertullianischen Schrift nicht einmal erstaunlich.
Damit rückt ein Gesichtspunkt ins hellere Licht, der die
Vormachtstellung der römischen Gemeinde begründete:
es ist der Besitz des Apostelgrabes, auf den die Worte
Petri und propinquam anspielen. An dieses Grab sind
wie die Wunder so auch die Rechte und Vollmachten
des Apostels geknüpft. Aber Harnack hat auch dem
eigenen Einfall gegenüber die immer notwendige Skepsis
; diese exegetische Frage schließt mit einem Non
liquet. Gewiß aber ist es — und darin findet sich Harnack
am Schlüsse mit seinem Gegner sachlich und
menschlich zusammen —, daß auch Kallist sich nicht
auf Grund von Mt. 16,18f. als Nachfolger Petri
bezeichnet hat, sondern daß auch des römischen Bischofs
besondere Vollmacht durch den besonderen
Schatz des Apostelfürstengrabes vermittelt worden ist.
Der Petrusspruch gibt dieser „mystischen Schätzung"
nachträglich nur die auf die Dauer unentbehrliche
„rechtlich-rationale", begründende Fiktion.

Es ist hier nicht mehr der Ort, die Ergebnisse
dieser Abhandlung im Einzelnen nachzuprüfen; was
sie jetzt vermittelt, den Abglanz Harnackschen Denkens
und Forschens, ist wichtiger. Auch auf dem streng umgrenzten
Felde dieses kleinen Problems erscheinen die
beiden Kräfte, die Harnacks ganzes Werk durchziehen:
Eine „Andacht zum Kleinsten", die mit methodischer
Sicherheit jeden Splitter der Überlieferung und jede
Möglichkeit der Deutung prüft, und eine nie gehemmte,
aber methodisch bestimmte Anschauungs- und Einfallsfülle
, die auch das Kleinste als Baustein zum Großen

I zu nutzen weiß. Es sind die beiden sich gegenseitig
kritisch fördernden Grundzüge, die das Bild der historischen
Forschung im 19. Jahrhundert bestimmen und
sich hier in dem persönlichen Reichtum Harnackschen
I Geistes ausprägen, — einem Reichtum, dem aus der
j unbedingten Hingabe an die Sache auch die feinste
I menschliche Wärme und Geistigkeit zuströmt. Davon
| legt auch diese kleine Abhandlung, die zunächst nichts
I anderes zu sein scheint als eine Polemik gegen die
! Untersuchungen eines Kollegen, das gewinnendste und
I in sachlichem wie in menschlichem Sinne verbindlichste
j Zeugnis ab. So wird diese Arbeit ein letzter Beweis
jenes wissenschaftlichen Grundsatzes, dem Harnack in
I Leben und Arbeit wie kaum ein anderer nachging und
den er gern in Goethes Worten wiederfand:
Willst du ins Unendliche schreiten,
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.

Willst du dich am Ganzen erquicken,
So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.
Breslau. Ernst Lohmeyer.

3.

In seinen so weit gespannten und doch auch das
Kleine und Unscheinbare beachtenden kirchen- und dog-

{ mengeschichtlichen Forschungen hat der heimgegangene
A. v. Harnack auch die kirchliche Verfassungsgeschichte
und die in ihr zum Ausdruck gekommenen und Form

j gewordenen Gedanken nicht vernachlässigt. So befaßt
sich auch eine seiner letzten Akademieabhandlungen

I mit einer solchen Frage, indem sie in einer aus einer

| „erweiterten Vorlesung" erwachsenen „kirchengeschichtlichen
Skizze" den Inhalt, die Entfaltung und Auswirkung
des Gedankens von einem Christus praesens —
Vicarius Christi zeichnet. Dies geschieht unter folgenden
Gesichtspunkten: 1. Die Gegenwart Christi als

I eine geistige (Geist Christi, Heiliger Geist, Geist Gottes
, Wort Gottes, Kirche). 2. Der Christus der Ver-

I gangenheit als gegenwärtiger; das Zeichen des Kreuzes
. 3. Die sakramentale Gegenwart Christi. 4. Die
Gegenwart Christi als eine übersinnlich oder sinnlich

I wahrnehmbare; die Gegenwart in Stigmen und Reliquien.
5. Die Gegenwart Christi als Re-Inkarnation; die Inkarnation
im Bilde. 6. Ersatz der Gegenwart Christi
durch einen Fortsetzer (Nachfolger), der sein Wirken
ergänzt bzw. noch Größeres bringt; das „Ewige Evangelium
" 7. Ersatz (Vertretung) der Gegenwart Christi
durch Vikare (durch den apostolischen Episkopat). S.Ersatz
(Vertretung) der Gegenwart Christi durch einen

i Vikar (durch den Kaiser oder den Papst).

Diese Einteilung ist insofern nicht ganz glücklich,

i als die Teilpunkte einander nicht ausschließen, da die
Gegenwart Christi auch in 2—6 eine „geistige" ist
(Nr. 3 nicht ausgenommen, weil auch die „sakramentale
" Gegenwart ursprünglich nicht, jedenfalls nicht
allgemein grob stofflich gefaßt wurde). Aber sie gibt
immerhin den Rahmen ab, der alle in Betracht kommenden
Gedanken aufnehmen kann. Ihre Entfaltung und
Auswirkung wird jeweils bis in die Gegenwart herein
verfolgt und an bezeichnenden Äußerungen veranschaulicht
. Dabei drängen sich lehrreiche Beobachtungen
und Durchblicke. So wird S. 417 A. 3 mit Recht bemerkt
, daß im sog. apostolischen Glaubensbekenntnisse
das sanctam ecclesiam neben spiritum sanctum satzbau-
mäßig genau so aufzufassen ist, wie patrem omnipotentem
neben deum, und dominum notrum neben Christum
Jesum, d. h. als „identische Apposition" (A. 2
wäre für die Schöpfung Adams und Evas als Bild des
Verhältnisses Christi zur Kirche neben II Clem. 14 auf
die ältere Stelle Eph. 5, 32 zu verweisen). In A. 5 folgt
ein Hinweis darauf, welche verhängnisvollen Folgen die
Aufnahme der Kirche in die theologischen Haupt-

| gleichungen („Christus = Gott = Heiliger Geist = Kirche
") haben mußte, sobald man die Kirche nicht mehr
wesentlich als geistige Größe faßte. S. 418 f. scheint
aber v. H. anzunehmen, daß es schon seit dem 2. Jahr-

I hundert Kreuzesbilder gegeben habe. Daß davon keine