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Ausgabe:

1931 Nr. 4

Spalte:

78-79

Autor/Hrsg.:

Enslin, Morton Scott

Titel/Untertitel:

The ethics of Paul 1931

Rezensent:

Mundle, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 4.

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eigene Argumente das Ergebnis der bisherigen Forschung, zugleich ermöglicht
sie an einem interessanten Einzelpunkt ein genaueres Urteil
über das Maß des Eingehens des jüdischen Geschichtsschreibers auf die
geistige Welt der fremden Historiographie, die er für seine Zwecke benutzt
, und der Kritik an ihr. Die charakteristische Halbheit des Josephus
hebt sich von den anderen jüdischen Zeugnissen deutlich ab. — Bedeutsamer
noch als dieser Abschnitt ist der über die Befreiungswunder
. Weinreich selbst hat ihn zum Kernstück seiner Arbeit gemacht
. Neben formal analogen Erscheinungen im Kreise
der Dionysosreligion u. verwandten Bezirken erfahren vor allem
die Befreiungsszenen derApostelgeschichte eine ausführliche
Besprechung. Die Frage, ob hier nachweisbare, gar literarische
Zusammenhänge bestehen, ist nicht erst von Weinreich aufgeworfen worden
. Doch glaubt er sie an einem Punkt zur endgültigen Lösung gebracht
zu haben. Eines seiner Hauptergebnisse nämlich ist, daß die
absichtsvoll variierende u. steigernde Ausgestaltung der in Frage stehenden
Stücke der Acta unter dem unverkennbaren Einfluß der sachlich
verwandten u. nach gleichen Stilgesetzen aufgebauten Szenen der Bak-
chen des Euripides erfolgt sei, eine These, die, mit anderem Material u.
in allgemeinerer Fassung — nämlich für die A. G. als Ganzes — , schon
vor Jahren W. Nestle verfochten hat. Der Eindruck der Weinreichschen
Beweisführung, die, wie der Verf. mitteilt (S. 170), auch G. Kittel überzeugt
hat, beruht auf ihrer Umsicht u. Konzentration. Die Befreiung
bei Nacht, die Rolle der rpukay.EC,, die abfallenden Fesseln, das plötzlich
erstrahlende Licht, das Erbeben der Erde u. des Gefängnisses, die
nach dem Wunder wieder verschlossene Tür, alle diese an den bekannten
Stellen der Acta sich findenden Züge sind nicht nur durch eine große Zahl
antiker Parallelen belegt, wobei Euripides das meiste hergibt, sie erscheinen
vielmehr zu einem charakt. Bild vereinigt, für das die jüdische Überlieferung
(hier ist Billerbeck vor allem zu Rate gezogen) nur geringe Vergleichsmöglichkeiten
bietet, wenn anders die Mosesbiographie Artapans, die hier noch am
ehesten zu nennen wäre, gleichfalls der hellenistischen Anschauungswelt zuzuweisen
ist, woran ja kein Zweifel bestehen kann. Interessant ist nun,
daß d. Verf. in A. G. 12 u. besonders 16 den „paganen" Typus des
Befreiungswunders reiner herausstellen zu können meint als in A. G. 5.
In dieser Differenz glaubt er nämlich einen Hinweis zu besitzen auf den
Grund und die tiefere Bedeutung der behaupteten Verwandtschaft. Die
Bakchen, der Mosesroman Artapans — auch die vita Apollonii des
Philostratus, die im gleichen Zusammenhang erscheint — tragen alle
irgendwie „missionarischen" Kampfcharakter, u. das aretalogische Moment,
von dem sie durchzogen sind, sichert ihnen zum guten Teil ihre propagandistische
Durchschlagskraft. Eben hier aber tritt nach dem Verf.
die A. G. bewußt auf den Plan. Sie erweist die Überlegenheit der
neuen Religion über die alte, indem sie sie auf ihrem eigensten Feld
überbietet. Erst wo das gesehen ist, gewinnen die bekannten Wortparallelen
, die schon Wetstein beobachtet hat, ihr volles Gewicht, das
gemeinsame Vorkommen des seltenen und doch so bezeichnenden
•8-eopdxoc, in den Bakchen u. in der A. G. u. die noch auffallendere
Verwertung des sprichwörtlichen tcqöc, xevrpa Aay.TitjEiv an entscheidenden
Höhepunkten beider Werke. Allerdings, mit der Bezugnahme
des jüngeren auf das ältere soll nicht zugleich die Übernahme ganzer
Szenen als solche behauptet werden. Der Glaube der Christen, meint
W., schuf sich seine Wunder selbst. Ihre besondere literarische Fassung
erhielten sie in der Welt, in der sie vor allem werbend wirken sollten.
— Man wird sich mit dieser These ernsthaft auseinanderzusetzen haben.
Die formale Einwirkung der Bakchen auf die Acta ist zu hoher Wahrscheinlichkeit
gebracht. Dieser Eindruck bleibt, auch wenn man manchen
der vorgebrachten Argumente gegenüber kritische Bedenken hat. So
scheint es mir fraglich, ob die „Steigerung" der Berichte der Acta wirklich
in dem Maß eine gewollte ist, wie W. es annimmt. Was hier
herausgestellt ist, verträgt durchweg eine sachliche Erklärung. Vielleicht
ist doch auch das Übergewicht des antiken Vergleichsmaterials über das
jüdische überschätzt. Würde nicht schon das Heranziehen des Auferstehungsberichtes
bei Matthäus das Verhältnis verschieben? (Vergl. d.
Lichtgestalt des Engels, den weggewälzten Stein [Grabtür!], das Erdbeben,
die Wirkung auf die Wächter). Immerhin könnte die Herkunft auch
dieses Berichtes fraglich erscheinen. Wichtiger ist mir etwas anderes.
Dem Verfasser sind bei seinem Vergleich über der Entdeckung äußerer
Verwandtschaften innere Unterschiede verhüllt geblieben, die sich doch
auch in der Gestaltung der Erzählung Ausdruck geben. Ich weise nur
auf eins hin: Die Bakchen des Euripides erfahren ihre Befreiung im
Rausch (v. 443 ff.), die Fesselung des Gottes ist nur Schein (v. 616 ff.),
ganz ähnlich zieht Apollonius vor dem besorgten Freund seinen Fuß für
einen Augenblick aus der Fessel zum Beweis für seine Freiheit trotz der
Haft (Philostr. vita Ap. VII, 38); die Apostel leiden wirklich, gerade auch
da, wo sie die göttliche Hilfe erfahren ; es ist bezeichnend, daß die in
Frage stehenden Berichte das ausnahmslos deutlich machen (vergl. A. G.
5,40; 12,2,17; 16,33). Die Darstellung der Apostel in den Acta gehört
sachlich zu dem Jesusbild der Evangelien: auch dort ist die
Inanspruchnahme u. die Erfahrung der Wundermacht Gottes mit der
vollen Bereitschaft zum Leiden geeint. Sehen wir uns nicht, sobald uns
das deutlich ist, zwei ganz verschiedenen Welten gegenüber? Ob nicht
die generelle Verweisung des Wunders in die dichterische Sphäre dem
Verfasser den Blick getrübt hat? „Die Apostel wirken Wunder, weil

das der Glaube verlangt, und Dionysos und die Backhai wirken Wunder,
weil das der Glaube genau so verlangt hat" (S. 167, vergl. noch S. 90).
Haben wir hier noch Beobachtung der Texte vor uns? Ist der Glaube
der ersten Christen, auch ihr Wunderglaube, wirklich nichts anderes als
der der rel. Umwelt? Ich konnte nur andeuten, wo ich die Unterschiede
zu sehen meine. Die Möglichkeit des Eindringens außerchristlicher le-
) gendärer Stoffe in den biblischen Bereich soll keineswegs geleugnet
werden. Aber gerade wenn sie erwogen wird — und Weinreichs Untersuchung
bietet uns i. d. Tat erneuten Anlaß dazu — muß die n. t.
Wissenschaft darauf achten, daß die Eigenart ihres Gegenstandes nach
seinem ganzen Umfang zur Geltung kommt.

Bonn. H. Sch 1 ingensiepen.

Enslin, Prof. Morton Scott: The Ethics of Paul. New York:
Harper & Brother 1930. (XXI, 335 S.) 8°. $4.

Der amerikanische Gelehrte legt: uns hier ein Werk
über die paulinische Ethik vor, das uns zu großem Dank
verpflichtet. Es legt Zeugnis davon ab, daß sich auch
die amerikanische Theologie an der Erforschung des
Urchristentums rege beteiligt und moderner wissenschaftlicher
Methoden bedient. Die vorliegende Untersuchung
hat darin ihr besonderes Verdienst, daß

j sie die paulinische Ethik auf dem Hintergrund der
zeitgenössischen jüdischen und heidnischen Ethik zu
zeichnen versucht; insbesondere ist die stoische Ethik,

| die der Verfasser gründlich kennt, ausgiebig herangezogen
. Dabei verliert E. doch nicht das Augenmaß für

I das Eigenartig Paulinische, sondern läßt es — gerade

j durch die Kontrastwirkung — deutlich heraustreten.
Im ersten Teil behandelt der Verfasser das Erbe, das
Paulus von dem Judentum, der Stoa, den orientalischen
Mysterienreligionen übernommen hat; hier wird der
jüdische Einfluß sehr hoch eingeschätzt, während bei
der Stoa und den Mysterienreligionen sich der Verfasser
große Zurückhaltung auferlegt — das dürfte auch, soweit
es sich um die ethischen Anschauungen handelt
richtig sein (die Möglichkeit mandäiseher Beein-

j flussung zieht er nicht in Frage, woraus ich ihm
aber keinen Vorwurf machen würde). Beachtenswert
scheint mir besonders die Schilderung des Judentums im

j Eingangskapitel, die kurz, aber sachlich zutreffend' ist;

I der Verfasser sucht es mit Recht nicht aus den Voraussetzungen
christlicher Polemik, sondern aus seinen eigenen
zu verstehen. Der zweite Teil behandelt die Ethik
des Paulus selbst; er vergleicht die ethischen Normen
(Standards) von Judentum, Stoa und dem Apostel (bei
den Mysterienreligionen hatte Kap. 1 ihre wesentliche
ethische Indifferenz festgestellt) und arbeitet den Unterschied
der ethischen Grundhaltung heraus: Ist dem
Juden das Gesetz die letzte Norm, der Stoa „die Na-

j tur" (natürlich in dem Sinn, den die stoische Philosophie
diesem Begriffe gab!), so ist es für den Apostel
das Leben in der „Christusgemeinschaft". So richtig das
ist, so wäre doch die Frage zu prüfen, welche Rolle dem
Glauben als Akt des Gehorsams hier zukommt —

! Paulus redet nicht umsonst von der ircaxnr, rctoreiog -

I und wie sich der Glaube als ethische Grundnorm zu dem
ethischen Grundprinzip der Christusgemeinschaft ver-

j hält. Der Verfasser geht auf diese Frage nicht weiter
ein, wie er überhaupt die Bedeutung des Glaubens für
die ethischen Anschauungen des Apostels zu gering

[ einschätzt; sein abschließendes Urteil über den paulini-
schen Glauben: faith was not a creed it was a life (S.
309) ist zwar in seiner Bejahung, aber nicht in seiner

! Verneinung richtig (Rm. 10,9; I. Kor. 15,1 ff.). Auch der

j verschiedentlich ausgesprochene Satz (Vgl. p. 66. 126 f.

I 298), daß die Tatsächlichkeit der Christusgemeinschaft

i durch das ethische Verhalten des Menschen erst offenbar
wird (S. 298: The fact of being in Christ was alone
revealed by the reality of the new life) erinnert zwar
an den Syllogismus practicus calvinischer Dogmatik,

I kann aber doch nur mit großem Vorbehalt als paulinisch
angesprochen werden; zunächst ist es dem Apostel
nicht zweifelhaft, daß der Christ, der getauft ist und

i Glied der Gemeinde geworden ist, sich in Christus befindet
, Christus angezogen hat (Gal. 3, 26 f.); nur da