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Ausgabe:

1931 Nr. 3

Spalte:

62

Titel/Untertitel:

Biblischer Sozialismus, Monatsschrift für sozialistische Schriftforschung; Jhrg. 1 1931

Rezensent:

Wünsch, Georg

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61

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 3.

62

Theologie der Geschichte des Christentums! Aber den
Sprung von der Geschichtsphilosophie zur Theologie
macht er im Unterschied von Spörri nicht, ohne daß er
zuvor ihre Distanz abschätzt und immer wieder auf sie
aufmerksam macht. Man wird dem Buch nur gerecht,
wenn man seine Eigenart würdigt, deren Weise es nicht
ist, alle Gedanken bis auf letzte Begründungen zurückzuführen
und den Problemen bis in ihre feinsten Verzweigungen
nachzugehen. Es wird hier in Holzschnirb-
manier gedacht. Um so wirksamer treten die Grundgedanken
heraus.

S. behandelt zunächst Probleme der Geschichtslogik
. Die Geschichtlichkeit des Daseins ist nicht das
Ergebnis davon, daß ein historisches Apriori ein an
sich formloses Geschehen formt. Die Geschichte gestaltet
sich selbst, indem sich in ihr ein Geschehen mit
einem überindividuellen Sinnzusammenhang verbindet. |
Geschichte ist Geist gewordenes Geschehen (S. 6). Die
so zustandekommende Geschichtlichkeit des Daseins
macht geschichtliches Erkennen erst möglich. Es ist ein
und derselbe Gesamtgeist, dessen Vorhandensein im
Geschehen nicht bloß das Geschehen zur Geschichte
macht, sondern auch die Möglichkeit des Verstehens
überhaupt bewirkt (S. 10). Die historische Auslegung
vollendet sich deshalb erst in einer „pneumatischen", die
jenen bleibenden Sinn zu erfassen bestrebt ist, der über
die Absichten der Denkenden und Handelnden hinausgreift
und in dem sich deswegen die das Geschehen zur
Geschichte gestaltende Sinnhaftigkeit am deutlichsten
verrät.

Der zweite Abschnitt behandelt das Christentum
als die Religion der Geschichte. Seine religionsgeschichtliche
Bedeutung besteht darin, daß es den Mythos
auf die Geschichte bezogen hat. „Er ist gekommen"
darin liegt die Ursache des Sieges des Christentums (S.
22). Das Unendliche ist endlich und leiblich geworden.
Der ewige Gott, der alles ist und nicht da ist, hat in
der Zeit konkrete Gestalt und Wirklichkeit gefunden
(S. 24). Die Inkarnation ist die Grundidee des Christentums
. Daher ist Gott für uns stets im „Anderen" (von
Gott her gesehen das Andere) trotz seiner Offenbarung
verhüllt. Daher ist Geist für die christliche Auffassung
als die Fortsetzung dieser Inkarnation stets konkrete
Wirklichkeit, Geschichte, nicht reine Vernunft.

Das Wesen des Christentums läßt sich daher nicht,
wie im dritten Abschn. gezeigt wird, an sich, sondern
nur in der Realität der einzelnen Konfessionen bestimmen
. In großen Zügen werden die drei Großtypen des
griechischen, des römischen und des protestantischen
Christentums gegeneinander abgegrenzt.

Der letzte Abschn. führt an das Thema heran,
das den drei zuletzt bespr. Schriften gemeinsam ist:
Der Sinn der Geschichte und das Christentum. Wie das
Beispiel des israelitischen Volkes zeigt, ist es der Gedanke
der Offenbarung, der dazu anleitet, die Vergangenheit
als bewegte Entwicklung, als ein sinnhaftes !
Geschehen, das heißt allererst als Geschichte aufzufassen
. Nur dann wenn das Transzendente normgebend
in das Werden eingegriffen hat und dereinst wieder I
eingreifen wird, kann Geschichte im eigentlichen Sinn j
des Wortes gesehen werden (S. 55). Ob man dazu be- !
rechtigt ist, die geschichtliche Entwicklung unter dem
religiösen Gesichtspunkt zu sehen und zu deuten? Da
steht Glaube gegen Glaube (S. 59). Gegenüber dem
positivistischen Glauben an den Beginn des geistigen
Lebens in der Religion und seiner Fortsetzung in das |
Weltliche hinein weist S. darauf hin, daß es das
Wesen der Religion ist, im „Anderen" zu sein,
und daß sie auch in ihrer Fortsetzung in das
Weltliche hinein in ihm „verborgen" weiterwirkt. Eine
Betrachtung über die Bedeutung des Christentums für
die Geschichte, insbesondere auch für ihre Einheit, deren
Zukunft — ein besonders weittragender Gedanke — von
der Arbeit der Mission und ihren Ergebnissen abhängig

ist, soll die Entscheidung für den Glauben an einen
religiösen Sinn der Geschichte stützen und eine Art
Apologetik für den Gedanken einer „Theologie der
Geschichte" des Christentums liefern.

Der Verf. deutet S. 27 selbst an, daß in seinen
Ideen zur Theologie der Geschichte des Christentums
der Luthersche Gedanke vom verborgenen Gott ge-
schichtstheologisch fruchtbar gemacht wird. Die jenseitige
Wirklichkeit Gottes ist in dem Diesseits unserer
uns sinnenhaft gegebenen Wirklichkeit „verborgen".
Weil Gott zufolge des christlichen Gedankens von der
Inkarnation in dieser Zeitlichkeit wirkt, verhüllt er sich
gerade in seinem Offenbarwerden. Bezieht man diese
Gedanken auf die Geschichte, so heißt das: Es gibt nicht
eine Geschehensreihe, in der sich das Geschehen als
Profangeschehen nach nur ihm eigenen Impulsen abwickelt
und abseits von ihm oder über ihm eine zweite
Geschehensreihe unmittelbar unter göttlicher Direktive.
Die Theologisierung der Geschichte, wie sie S. im Auge
hat, will mit Hilfe des Gedankens von dem verborgenen
Gott, die Anschauung überwinden, die das Wirken
des Zeitlichen und Ewigen in zwei übereinanderliegende
Geschehensreihen auseinanderreißt. Sofern auch Köhler
mit seiner Säkularisierung der Kirchengeschichte gegen
den Gedanken eines heiligen Geschehens über dem Profangeschehen
angeht, decken sich bei aller sonstigen
Verschiedenheit die zunächst scheinbar entgegengesetzten
Tendenzen der K.schen Säkularisierung und
der S.sehen Theologisierung. Der scheinbar radikale
Gegensatz der Anschauungen reduziert sich auf
ein verschiedenes Pathos, mit dem die Tatsache der
Verborgenheit Gottes in der Geschichte für deren Auffassung
fruchtbar gemacht wird. Köhler betont: Die
Verborgenheit Gottes und sagt deshalb Säkularisierung
. Seeberg betont: Die Verborgenheit
Gottes, und schreibt deshalb Ideen zur Theologie
der Geschichte des Christentums.
Heidelberg. Robert Win kl er.

Biblischer Sozialismus. Monatsschrift f. sozialistische Schriftforschung
. Jhrg. 1, 1929 H. 1-12 (je 24 S.). Jhrg. 2, 1930
H. 1-3 (je 24 S.) H 4/5, 6/7, 8/9 (je 32 S.) Wien 12 [Herther-
gasse 37): Georg Stehl 1929/30. gr. 8". Jährl. RM 6 —.

„Biblisches Christentum ist sozialistische Ethik"
(1. Jahrg. H. 1 S. 3). Auf diesem Grundsatz baut sich
die Zeitschrift auf. Viel praktische Bibelexegese, inhaltlich
auf Tat, Gericht und Radikalität gerichtet. Nur mit
Eigennutz vermischte Bibelauslegung kann den Kapitalismus
für tragbar halten; die echte Auslegung fordert den
proletarischen Sozialismus. Zwischen echter Jesuslehre
und offiziellem Christentum wird scharf unterschieden.
Zu konfessionellen und dogmatischen Lehren wird keine
Stellung genommen: das sozialistische Christentum ist
überkonfessionell und undogmatisch. Es ist kennzeichnend
, daß Balthasar Hubmaier ein längerer Aufsatz
gewidmet ist. Die Zeitschrift wird getragen von
einer „Vereinigung für biblischen Sozialismus", deren
Satzungen sich Jahrg. 1929 H. 3 finden. Sie „bezweckt
die Zusammenfassung aller jener Sozialisten,
welche in der Bibel die Grundsätze des Sozialismus
ausgesprochen finden und diese ihre Anschauung ohne
jede Bindung an Dogmen aussprechen und verbreiten
wollen". Ordentliche Mitglieder können nur organisierte
Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs
werden, außerordentliche auch Andere. — Die
Bibel strömt ihre Wärme über die Artikel aus; aber sie
bleiben gänzlich im Religiös-Moralischen stecken und
wirken infolgedessen, weil sie wenig konkrete Stellung
nehmen, sehr allgemein. Offenbar aber gibt es Kreise,
für die eine solche Zeitschrift ihre Aufgabe hat und auf
die sie wirkt.

Marburg. Georg Wünsch.