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Ausgabe:

1931 Nr. 3

Spalte:

55-56

Autor/Hrsg.:

Menne, Karl

Titel/Untertitel:

August Hermann Niemeyer 1931

Rezensent:

Mulert, Hermann

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55

Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 3.

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Wohnsitz nicht mehr in Hessen. Von gegenwärtigen
Mitgliedern der weiteren Theologischen Fakultät in
Gießen steuerten bei Gustav Krüger (Erinnerungen
an seine Gastvorlesungen in Chicago), Oskar Holtz-
mann „Der Glaube an Jesus", Georg Bertram, der
unter dem Titel „Paulus-Christophorus" ein anthropologisches
Problem des Neuen Testaments behandelt: Paulus
wird dadurch zum Christophorus, daß Christus sich
in allem, was Paulus erlebt und erleidet, vor der Welt
bezeugt; Adolf A11 w o h n und Repetent Heinrich
Falk. Von nicht akademisch-hessischen Theologen lieferten
Beiträge Heinrich Bechtolsheimer (über
Bahrdt), Friedrich Flöring, Heinrich Matth es,
Franz Stumpf und Fritz Herr mann. Endlich
hat auch der dem Verein nahe verbundene E. C.
Moore einen Beitrag geliefert: Die Theologie im
Lichte der Religionswissenschaft. In den Vordergrund
tritt die Praktische Theologie, und hier wieder
der Gottesdienst. Während ich den Sinn der berühmten
viel und fast immer falsch zitierten Äußerung
Schleiermachers aus dem Vorwort zur ersten
Sammlung von Predigten über die Predigt und die Gemeinde
der Gläubigen gegen Mißdeutungen zu sichern
suche, müht sich Allwohn um das von Fezer behandelte
Thema: „Das Wort Gottes und die Predigt". Er nimmt
in bemerkenswerter Weise gegen Fezer Stellung, aber
auch gegen Thurneysens Kritik Fezers in Theol.
Blättern 1926, S. 197 ff. Daß er seinerseits klare Linien
zeigte, kann ich nicht finden. Das Wort Gottes als Ausgangspunkt
der Predigt ist für ihn keine dinghafte
(Fezer) und keine dialektische (Karl Barth, Thurneys-
sen), sondern eine mythische Größe, d. h. ein Geschenk,
das in der Bezeugung gegenwärtig ist. Diese Einführung
des Begriffs Mythos scheint mir nicht glücklich.
Es liegt A. daran, daß die Predigt „auf dem Grunde
der mythisch-kultischen Realität des Zukünftigen" und
Verborgenen steht. Darin ist ein richtiger Kern. Aber
er ist nicht klar herausgearbeitet. Der Aufsatz von H.
Falk behandelt die Durchführung reformatorischer Gedanken
in der Hamburgischen Gottesdienstordnung. Er
bietet mancherlei neue Gesichtspunkte in der Verglei-
chung von Luthers und Bugenhagens Ordnung und
zeigt, daß aus den liturgischen Quellen noch immer
neues Material zu erheben ist. Flöring knüpft an
besondere hessische gottesdienstliche Verhältnisse an; er
betont u. a. auch die Fragen des Kirchengesangs. Interessant
ist, daß er gegen das jetzt weithin übliche Verfahren
Einspruch erhebt, nach dem der Pfarrer die
Bitten des Vaterunsers spricht, während der Beschluß
von der Gemeinde gesungen wird. Er findet dieses Verfahren
geradezu „verletzend". Stumpf bespricht die
liturgische Verwendung des Bibelwortes, kommt aber
auch auf andere Einzelfragen. Er empfiehlt die Wendung
des Liturgen nach dem Altar, die wiederum Flöring
geradezu „töricht" nennt. Auf die übrigen Aufsätze
näher einzugehen, ist nicht wohl möglich. Es wäre für
mehr als einen der hier vereinigten Beiträge schade,
wenn er unbeachtet bliebe. Die Sammlung als Ganzes
ist ein schönes Zeugnis des wissenschaftlichen Interesses
, das sich um den Akademisch-theologischen Verein
in Gießen gruppiert.

Breslau. M. Schi an.

Menne, Karl: August Hermann Niemeyer. Sein Leben u. Wirken.
Zum Gedächtnis d. 100 jähr. Todestages. Halle a. S.: M. Niemeyer 1928.
(XI, 136 S. m. 5 Abb.) 4°. = Beiträge z. Gesch. d. Univ. Halle —
Wittenberg, Veröff. d. Ausschusses z. Pflege d. Univgesch. Halle.

RM 9— ; geb. 11.50.

Diese Schrift sollte schon 1914 gedruckt werden;
ihr Erscheinen ist durch den Krieg aufgehalten worden
und sie mußte jetzt verkürzt werden. Niemeyer hat zu
den einflußreichsten Vertretern einer gemäßigten Aufklärung
gehört. Seine weitreichende Wirksamkeit beruhte
zum guten Teil auf der seltenen Verbindung von
Gelehrsamkeit und Organisationstalent. Um Stadt und
Universität Halle und um die Frankeschen Stiftungen

hat er große Verdienste. M. schreibt mit Sympathie
für seinen Helden, konnte handschriftliches Material
benutzen (aus dem Besitz des Verlegers, der ein Urenkel
N.'s ist) und hat besonders, was in früheren
Werken weniger geschehen ist, N. als (vaterländischen
und religiösen, namentlich auch Oratorien-) Dichter gewürdigt
, nicht ohne Kritik, wie denn tatsächlich N.'s
Leistungen auf diesem Gebiet uns heute ungleich we-
I niger wert scheinen als die pädagogischen. Aber N.'s
I Gemütswärme und seine persönlichen Beziehungen zu
Klopstock und Goethe gehören durchaus zu seinem
Bilde. Daß M. gelegentlich schon die Aufklärungstheologen
des 18. Jahrh.s Rationalisten nennt, entspricht
dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr. Und in welchem
Verhältnis N. zu den Forschern stand, die Dilthey
I in seiner Biographie Schleiermachers als Vertreter eines
| überaus wirksamen neuen Geistes in Halle, wie es vor
I 1806 war, gezeichnet hat, Steffens, Reil, Schleiermacher,
wird bei M. nicht deutlich; nur über N.'s Beziehungen
zu F. A. Wolf sagt er etwas. So würde man auch über
j die Bedeutung von N.'s vielgefeierter Frau gern mehr
| lesen. Verdienstlich bleibt M.'s Arbeit trotzdem.

Kiel. H. Mulert.

Borries, Priv.-Doz. Kurt: Grenzen und Aufgaben der Geschichte
als Wissenschaft. Tübingen : J. C. B. Mohr 1930. (40 S.)
gr. 8°. = Philosophie u. Geschichte. Eine Sammig. v. Vortr. u. Schriften
a. d. Gebiet d. Philos. u. Gesch. 29. RM 1.80; in Subskr. 1.50.

Spörri, Gottlob: Das Incoordinable. Die Bedeutung J.-J. Gourds
für Geschichtsphilosophie und Theologie. München: Chr. Kaiser 1929.
(VIII, 172 S.) gr. 8°. = Forschgn. z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus
hrsg. v. P. Althaus, K. Barth u. K. Heim: 2. Reihe, Bd. IV.

RM 5.50; in Subskr. 3.80.

Köhler, Prof. D. Dr. Walther: Historie und Metahistorie in der
Kirchengeschichte. Tübingen: J. C. B. Mohr 1930. (35 S.) gr. 8°.
= Philosophie u. Gesch. Eine Sammig. v. Vortr. u. Schriften a. d. Geb.
d. Philos. u. Gesch. 28. RM 1.80; in Subskr. 1.50.

j Seeberg, Erich: Ideen zur Theologie der Geschichte des
Christentums. Leipzig: Quelle u. Meyer 1929. (VII, 74 S.) gr. 8°.

RM 3.60.

So verschieden der geistige Standort der vier Verf.
auch ist und soweit sie auch in ihren wissenschaftlichen
Ergebnissen auseinandergehen, berechtigt doch eine
ihnen gemeinsame Tendenz ihre Zusammenstellung. Die
vier Schriften sind ein Symptom dafür, wie die moderne
geistesgeschichtliche Betrachtungsart mit ihrem Drängen
! auf eine Verbindung von historischem und systemati,-
j schem Denken einen neuen Typus der Geschichtsschreibung
zu schaffen am Werke ist. Die neue Betrachtungsart
versucht sich zunächst ihrer selbst sicher zu werden
durch eine erneute Besinnung auf die Eigenart des geschichtlichen
Erkennens. Probleme der Geschichtslogik
oder, wie man früher sagte, der Historik stehen im Vordergrunde
. Vor allem beunruhigt die Frage nach dem
Verhältnis von Geschichtstatsache und Geschichtsdeutung
und drängt zu geschichtsphilosophischer Vertiefung
der Geschichtswissenschaft. Auch die Theologie nimmt,
wie die drei letzten Schriften zeigen, an dieser allgemein
-historischen Bewegung teil, soweit ihre wissenschaftlichen
Bemühungen mit der Geschichtswissenschaft
parallel gehen, also vor allem auf dem Gebiet
der Kirchengeschichte. Mehr noch, die Theologie bereichert
diese Bewegung durch Impulse, die ihrer Sonderart
entstammen, wovon insbesondere Spörri und E.
Seeberg ein eindrückliches Zeugnis ablegen.

Borries sieht in seiner Tübinger Habilitationsantrittsvorlesung
im Schicksal die eigentliche historische
Kategorie. Die Schicksalhaftigkeit des Geschehens .
ist es, die eine historische Erkenntnis der Wirklichkeit
erst ermöglicht. Und Schicksalhaftigkeit bedeutet dasselbe
wie Sinnhaftigkeit (S. 17). Wie aber bringen wir
sie uns zu Bewußtsein? Man könnte zunächst meinen,
daß nur der Zeitgenosse, der selber von ihrem Leben
getragen ist, die historische Wirklichkeit treu auffassen
und wiedergeben kann. Aber das Schicksalhafte der
historischen Ereignisse schwingt sich in ihren Folgen
aus (S. 19). So kann auch der nachgeborene Historiker,