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Ausgabe:

1931 Nr. 26

Spalte:

620-623

Autor/Hrsg.:

Künkel, Fritz

Titel/Untertitel:

Vitale Dialektik 1931

Rezensent:

Delekat, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 26.

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viel schlimmer aber ist es, wenn K. den „Geist" mit
dem bloßen Intellekt, mit einem formalen Logizismus
identifiziert. Das liegt eben daran, daß er für die eigentlichen
Inhalte des Geisteslebens, für Sittlichkeit und Religion
, nicht das genügende Sensorium hat. Auch der
Religion ist Freiheit nicht das Letzte, sie sieht, um mit
Schleiermacher zu reden, den Menschen jenseits seiner
Freiheit, wo er sein muß, was er ist. Aber das schließt
doch keineswegs aus, daß für den tätigen Menschen —
und er soll tätig sein — Autonomie des Handelns
höchste Leitidee ist und bleiben muß. Wo man nun
Wissenschaft, sittliche Tat und religiöse Betrachtung ablehnt
, da bleibt für das sog. seelische Erleben nur noch
ein ärmlicher Inhalt. Ob auch nur ästhetische Inhalte
ohne „Geist" erlebbar sind, wird man mindestens als
sehr zweifelhaft betrachten müssen. Bestreitet man es
und für die menschliche Sphäre wird man es zu bestreiten
haben, so bleibt überhaupt nur ein unbewußtes
Seelenleben voller Bildhaftigkeit und Rhythmus als Rest
übrig; dies Seelische mag dann auch mit dem Leiblichen
(worauf K. mit Recht Wert legt) in einem Wesenszusammenhang
stehen, aber es bleibt zu wenig, um ein
Dasein auf die Höhe der Menschlichkeit zu erheben.
Das geht nur auf dem Wege des Geistes und darum ist
K.s eigenmächtige Trennung beider undurchführbar. Die
richtige Zielsetzung kann nur dahin gehen, das Geistige
der Sphäre des unmittelbaren seelischen Erlebens einzuordnen
und dies mit der gesamten Fülle der durch den
Geist vermittelten Schau des Universums zu erfüllen
und so aus der Enge seiner eignen Sphäre herauszuheben
.

2. Das Buch von Noltenius zeigt ebenfalls den
Einfluß der Neuromantik und sieht das Gesetz der
Kulturentwicklung in einer Erstarkung des Verstandes
und gleichzeitigen Verarmung des Gefühls, die notwendig
zum Untergange führt; so wird seine psychologische
Analyse der Gefühlswerte zu einer Gesamtschau, einer
letzten übergreifenden Synthese oder doch wenigstens
einem Durchblick durch das Gesamtgefüge der Wirklichkeit
, zumal des menschlichen Daseins. Aber das
Hauptstück der Leistung bleibt doch die psychologische
Analyse des Gefühls, deren Ergebnisse durch Psychologie
des Primitiven, des Kindes, des Traumes, der
kranken Psyche unter- und ausgebaut werden und auf
Kunst, Ethik, Logik, Religion Anwendung finden. Gegenüber
Mach's Versuch, die gesamte Wirklichkeit allein
auf Empfindung zurückzuführen, will N. das Gefühl
als das psychische Element erweisen, aus dem die mannigfachen
psychischen Erscheinungen sich ergeben. Nicht
nur geht es in alle psychischen Gebilde ein und ist
mindestens keimhaft darin nachzuweisen; es gibt ihnen
auch ihre Einheit und Ganzheit; schließlich verbindet
es alle Stadien der Psychogenese von der Pflanze bis
zum Menschen hin, indem es ihnen allen zu Grunde
liegt. Während z. B. das gegliederte optische Bild nur
im Lichte des Bewußtseins erfaßt werden kann, ist
schon mit dem Sinneseindruck ein gewisser, ungreifbarer
aber doch völlig eindeutiger Gefühlswert verbunden
, auf dem auch das Wiedererkennen und die Erinnerung
beruhen; mögen Umriß und Beleuchtung sich
verändern, der an der Ganzheit des Vorgangs haftende
Gefühlswert bleibt und vermittelt die Identifizierung; er
haftet am Ganzen, liegt einfach und ungehindert über
der Mannigfaltigkeit. Dagegen vermögen alle Bündel-
und Mosaiktheorien dies Gefühl der Einheit weder zu
erklären noch aufzuheben. Besonders aufschlußreich erweist
sich die psychologische Analyse der Träume: „Aus
der dumpfen, indifferenzierten Gefühlslage des Tiefschlafes
wachsen bei mählich sich erhellendem Bewußtsein
mannigfache Gestaltungen hervor. Solange der j
Traum in tieferen Sphären verharrt, ist die Gefühls-
schwebung so wenig gestaltet, so dunkel und verfließend,
daß sie auf zwei verschiedene Menschen paßt, sie beide |
umgreift" (Zerspaltung des Ich in 2 gleichzeitig vorhan- I
dene Gestalten!). Auch die Sinnessphären sind noch i

nicht scharf getrennt; der gleiche Gefühlswert kann (wie
bei den Synästhesien) in zwei Sinnessphären ausstrahlen;
kurz, wir kommen, als auf das Letzte, auf eine dumpfe,
gleichmäßige schwebende oder sachte sich wandelnde
Gefühlsspannung (198). In dem Lichte dieser Auffassung
wird auch der psychische Ablauf in seinen wichtigsten
Zügen gedeutet sowie das Verhältnis des Gefühls
zum Charakter besprochen. Von besonderem Interesse
ist die Feststellung, daß gerade die erhabensten Gefühle
und Triebe innerlich zwiespältig (ambioalent) zu sein
pflegen, weil sie erst im Kampf gegen die Tiefe zu
voller Ausbildung gelangen.

Daß bei einem Buche, das so viele Probleme anrührt
, nicht alles gleich durchgearbeitet ist, braucht kaum
gesagt zu werden; leider gilt das auch von den uns am
meisten interessierenden Punkten. Ohne Frage ist es
schief, Moral und Sitte nur in Gegensatz zur „Ethik"
zu stellen, vielmehr ist auch die höchste Sittlichkeit aus
dem Mutterboden der Sitte herausgewachsen. Auch läßt
sich die Religion nicht ausreichend erfassen, wenn man
im Wesentlichen nur Buber's „ekstatische Konfessionen"
zugrunde legt. Es geht auch nicht an, „die ekstatische
Verzückung" als „Quellborn aller Religiosität" zu bezeichnen
(241); von einer solchen Voraussetzung aus
vermag man allerdings die Gewissensreligion des alten
Protestantismus, die alles Andere eher war, als ein Erzeugnis
des Verstandes, nicht richtig aufzufassen. Die
Gefühlsseite der Religion hat allerdings N. richtig gewürdigt
, aber, wie eben an dem bezeichneten Punkte
deutlich wird, reicht das zu ihrem richtigen Verständnis
nicht aus; es kommt auch auf die Sonderart der religiösen
Gefühle und auf ihren Wesenszusammenhang mit
ästhetischen, logischen und ethischen Werten an. An
diesem Punkte macht sich eine Lücke in N.s Gefühlstheorie
entscheidend geltend; sie liegt in seiner Isolierung
des Gefühls. Es ist z. B. nicht richtig, anzunehmen
, daß im Regelfall ein ungestaltetes Gefühl das Primäre
, alle Bestimmtheit des Eindrucks aber nur etwas
Sekundäres sei; wenn das sogar für die Primitiven behauptet
wird, so entscheiden dagegen schon die Höhlenzeichnungen
des Eiszeitalters mit ihrer wundervoll getreuen
Wiedergabe des Tierkörpers. Erst recht ist es
falsch, auf höherer Stufe Bewußtseinsphänomene und
Gefühl nur als Gegensätze aufzufassen statt ihre Ineins-
biidung zu fordern. Es ist ja richtig, daß Verstand und
Gefühl oft gegen einander stehen, wie sie auch psychisch
Antagonisten sind. Aber wie der Organismus sowohl
der hemmenden als der auslösenden Funktion bedarf,
so kann auch das Gesamtleben ohne die bezeichneten
Gegensätze sich in seinem Reichtum und in Gesundheit
nicht erhalten. Wir wollen doch wohl alle nicht ernstlich
die Entfaltung der Verstandesfunktionen hemmen,
sondern nur einer einseitigen Geistesrichtung gegenüber
dafür eintreten, daß die Unmittelbarkeit des Lebens und
seiner inneren Werte durch die Verstandeskultur nicht zersetzt
werde, sondern vielmehr in ihr die Mittel zu ihrer
vollen Entfaltung finde. Es darf darauf hingewiesen
werden, daß auch bei N. sich Ansätze zu dieser Auffassung
finden, die nur der konsequenten Erfassung und
Entfaltung bedürfen.
Berlin. A. Titi us.

Künkel, Fritz: Vitale Dialektik. Theoretische Grundlagen der
individualpsychologischen Charakterkunde. Mit 5 Figuren. Leipzig:
S. Hirzel 1929. (VIII, 134 S.) gr. 8°. RM 6 - ; geb. 8—.

Die Individualpsychologie hat bisher die große
Fülle ihrer Erkenntnisse über den menschlichen Charakter
und seine Verhaltungsweisen rein auf dem Wege
der Praxis gefunden. Es macht sich nunmehr aber das
Bedürfnis geltend, diese Erkenntnisse theoretisch zu verarbeiten
. Das Ziel geht auf eine wissenschaftliche Lehre
vom Charakter. Dabei ist es unvermeidlich, daß die
individualpsychologische Charakterkunde mit den anderen
Methoden der Charakterologie in Berührung kommt.
Es zeigt sich nun, daß es nicht möglich ist, die früheren