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Ausgabe:

1931 Nr. 26

Spalte:

617-620

Autor/Hrsg.:

Klages, Ludwig

Titel/Untertitel:

Vom Wesen des Bewußtseins 1931

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 26.

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bildete Vorstellung an der objektiven Wirklichkeit ihren
festen Halt habe" (S. 82).

Der zweite Hauptteil bespricht die spätere Periode
in folgenden Kapiteln: Erkenntnis- und Seinslehre, Logik,
Natunehre, praktische Philosophie, Stellung zur Kunst,
Gedanken von Gott. So hatte er schon im Hauptwerk
den Stoff gegliedert, und noch enger als im ersten Teil
lehnt er sich hier an dieses an, indem er den größten
Teil seiner Ausführungen wörtlich wiederholt. Überall
wird dabei deutlich, wie er sich bemüht durch Umgruppierung
, neue Formulierung, klarere Fassung, Erweiterung
oder Kürzung die Kerngedanken schärfer herauszuarbeiten
. Manches ist auch wirklich umgestaltet. Aber
die Grundhaltung ist nirgends geändert, und klar sind
die Grenzen, die sich der Verf. für die Durcharbeitung
zieht.

Gerade seit der Zeit, wo Ritters Hauptwerk zu erscheinen
begann, hat Plato ungeheuer an Einfluß auf
die Gegenwart gewonnen. Von den verschiedensten Seiten
her versucht man den Zugang zu ihm zu gewinnen.
Leisegang konnte ein besonderes Buch über „die Piatondeutung
der Gegenwart" schreiben. Ritter hat bei seinen
Besprechungen in Bursians Jahresberichten kein Hehl
daraus gemacht, daß er diesen modernen Forschungen
mit größter Skepsis gegenübersteht. Und gewiß ist es
nur zu billigen, wenn er Dilettanten, die Piatos Schaffen
psychoanalytisch aus verdrängten erotischen Komplexen
und einer zweiten Pubertät erklären wollen, ignoriert,
oder Blühers Mißbrauch des Eros mit ein paar Worten
erledigt. Aber daß z. B. die Bücher des George-Kreises,
so anfechtbar sie im einzelnen sind, starke und wertvolle
Anregungen gegeben haben, um Piatos „Gestalt" zu
neuem Leben zu erwecken, sollte auch der Gegner nicht
leugnen. Und Bücher wie die Stenzeis haben doch ganz
neue Wege gewiesen. Wenn Ritter auch diese ablehnte
(Bursians Jahresber. 225, 121 ff.), so ist das psychologisch
zu verstehen; aber man erwartet in dem neuen
Werke wenigstens zu spüren, daß er sich innerlich mit
dieser Platoauffassung auseinandergesetzt hat. Das ist
hier so wenig wie sonst bei der modernen Forschung
der Fall. Daher findet der Leser in diesem Buche gewiß
eine selbständige Gesamtauffassung Piatos, die seinerzeit
in der Geschichte der platonischen Studien einen
ganz erheblichen Fortschritt bedeutet hat; er findet auch
im einzelnen überall eine klare, zuverlässige Darlegung,
die sich auf intime, in einer Lebensarbeit erworbene Vertrautheit
mit Piatos Schriften gründet; aber das empfindet
er mit Bedauern, daß gerade in die Probleme, die in
der Gegenwart die Forschung am lebhaftesten beschäftigen
, Ritters Buch nicht einführt noch einführen will.
Göttingen. Max P o h 1 e n z.

1. Klages, Ludwig - Vom Wesen des Bewußtseins. Aus einer
Iebenswissenschaftl. Vorlesg. 2. Aufl. Leipzig: J. A. Barth 1926.
(VIII, 97 S.) gr. 8°. RM 3-; geb. 4.50.

2. Noltenius, Friedrich: Die Gefühlswerte. Grundriß einer
Psychologie der Tiefe. Leipzig: J. A. Barth 1927. (VII, 352 S.)
gr. 8°. RM 10—; geb. 12—.

1. Der vielgenannte Autor entwickelt hier in überaus
gedrängter und ohne unverhältnismäßige Ausführlichkeit
kaum wiederzugebender Darstellung seine Lebenslehre
im Abriß, wobei namentlich psychologische,
aber auch sprachgeschichtliche und erkenntnistheoretische
oder metaphysische Exkurse zur Verstärkung seiner
Position eingebaut sind. Charakteristisch genug sind
es die Vorsokratiker und die Romantiker, die von ihm
das meiste Lob erhalten; die letzteren wegen ihrer „kosmischen
Aufschlüsse" und ihrer Durchleuchtung der
Seelentiefen; von ihrem christlichen Standpunkt ist dagegen
abzusehn; anstelle dessen erscheint der Naturalismus
der ersten Denker, ausgebildet in der Richtung
Nietzsches, als maßgebende Ebene. Am Kontrast zu Kant
kann der Grundgedanke K.s so erläutert werden: Während
Kant (mit allem Idealismus) von der Erscheinung
zum Noumenon (dem nur zu denkenden) als der eigentlichen
Wirklichkeit fortschreitet, sieht K. in diesem

Prozeß nur eine Entfremdung von der Wirklichkeit;
' als „Wirklichkeit an sich" gilt ihm vielmehr „eine Welt
beseelter Bilder oder erscheinender Seelen". Jede
Seele erscheint notwendig und alles Erscheinende ist
beseelt; doch ist makrokosmisches und mikrokosmisches
Leben unterschieden.

Von dieser in steter Wandlung begriffenen seelischen
Welt der schaubaren Bilder als der eigentlichen
Wirklichkeit ist die vom Denken in Geistiges und Körperliches
zerspaltene Welt als bloße parasitäre Ableitung
, Zerstückelung und Vergegenständlichung zu unterscheiden
. Das „einzig mögliche Noumenon, das zugleich
auch Phänomenon" ist und somit beiden Welten angehört
, ist das Ich als „lebengefesselter Geist", sofern es
als Geist „Einerlichkeit" zeigt und doch auf individuelle
Lebensartung (Seele) zurückweist. Wie sich aus dem
Icherhaltungsbedürfnis der Dingbegriff und Ursach- oder
Kraftbegiiff herleitet, wird im Anschluß an Nietzsches
Andeutungen entwickelt; der Vergegenständlichungspro-
zeß wird an die mit der Voraussetzung der Berührungsempfindung
gegebene Körperlichkeit gebunden.

Im Ganzen dieser Untersuchung sind Äußerungen
über Sittlichkeit und Religion sporadisch und gleichsam
zufällig eingefügt. Aber für die Gesamtanschauung K.s
sind sie doch zu wichtig, um hier übergangen zu werden.
Den weit überschätzten „großen Tätern der Menschheit,
welche angeblich die Weltgeschichte machten", werden
als gleichwertig zur Seite gestellt „die schöpferischen
Oberpriester, die Erfinder trügerischer Werte: die Kon-
futse, Manu, Moses, Buddha, Sokrates, Christus, Paulus,
Muhamed", „nichts als Vollstrecker des Schicksals. Sie
glauben zu treiben und sie werden getrieben, und was
sie bewußt erstreben, ist jedesmal unermeßlich verschieden
von dem, was sie tatsächlich erwirken". Besonders
entrüstet sich K. über den „ganz irrig herausgelesenen
Schuldsühncgedanken" und den „lebenkasteienden Sün-
digkeitswahnwitz" der Christenheit (S. 51 f.). Aber auch
die Idee der Willensfreiheit und der Tat bekämpft er.
Wer den „Irrsinn des Tatenden" erfaßt hat, wird zum
„tatvermeidenden Betrachter des Lebens. Wollen müssen
ist das Merkmal der Blindheit, nicht mehr wollen können
das Merkmal der Entblindung" (S. 82), so lauten die
Worte einer Weisheit, die sich allerdings an diesem
Punkte zu Nietzsche in schärfsten Gegensatz gestellt hat.

So reizvoll K.s Gedankengänge vielfach sind, so
eigenmächtig sind sie zugleich und der Leser bedarf
ständiger Bereitschaft zur Kritik, um sich der übergroßen
Selbstsicherheit, in der sie vorgetragen werden, zu erwehren
. Hier kann nur der große Gegensatz von
„Geist" und „Seele" ins Auge gefaßt und beleuchtet
werden. Wenn Geist, Abstraktion, Mechanisierung zusammengefaßt
und als Stadien der Entfremdung von der
erlebten seelischen Wirklichkeit aufgefaßt werden, so
liegt darin ohne Zweifel viel Wahrheit. Nicht nur die
Gefühlstheorie (deren Überbetonung K. mit Recht entgegentritt
), auch die Gestalttheorie vertreten die gleiche
Einsicht. Aber es ist doch nur eine halbe Wahrheit,
und im Grunde bereits eine veraltete Position, wenn K.
Wissenschaft, als Produkt des Geistes, mit Mechanistik
gleichsetzt. Atomphysik — und nicht nur sie — erkennt
ursprüngliche Gestaltung, also eigene Struktur, Bild-
haftigkeit des Stoffes an, stellt sich also zu dem „Seelischen
" K.s keineswegs in Gegensatz. Auch der Romantik
wäre die Auffassung des kosmischen Lebens in
seinen großen Zügen nicht möglich gewesen, wenn nicht
die Wissenschaft mit ihrer sorgfältigen Erfassung der
einzelnen Zusammenhänge am Leitfaden der Kausalität
vorgearbeitet hätte. Mag die heutige Wissenschaft ihre
Beziehung zur technischen Beherrschung der Dinge auf
Kosten der Naturphilosophie d. i. der Einsicht in die
Weltstruktur noch allzu sehr betonen, so kann doch der
Natur der Sache nach diese ihre philosophische Relation
nie völlig ausgeschaltet werden. Nur die Intellektualisie-
rung, aber nie der Intellekt darf als Gegner wahrhaften
Lebens aus der Tiefe heraus betrachtet werden. Noch