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Ausgabe:

1931 Nr. 26

Spalte:

614-616

Autor/Hrsg.:

Wagner, Albert Malte

Titel/Untertitel:

Lessing 1931

Rezensent:

Hoffmann, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1931 Nr. 26.

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umfassenden Werke da und dort ein Versehen zu suchen
oder anzumerken und beschränke mich auf einige grundsätzliche
Bemerkungen. Den Kernpunkt und Ausgang
der mittelalterlichen Kirchengeschichte bildet die eigenartige
Verbindung von Staat und Kirche, die Verkirch-
lichung des Staates und die Verstaatlichung der Kirche,
die beide ihren inneren Aufbau noch nicht vollendet
hatten, deren Streben aber darauf abzielt, sich selbst
auszubauen, abzuschließen und unabhängig zu machen,
die Menschen für sich in Beschlag zu nehmen, womöglich
die andere Institution sich unterzuordnen. Eine
Auseinandersetzung, ein Kampf zwischen den beiden
war daher unvermeidlich. Nur von dieser grundlegenden
Voraussetzung aus sind die Einzelvorgänge verständlich,
sie stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen sich die
historischen Vorgänge abspielen, die Quelle, aus der die
Einzelhandlungen Sinn und Bedeutung schöpfen. Selbstverständlich
waren die Träger dieser geschichtlichen
Entwicklungstendenzen und dieser Kämpfe Menschen,
die dem Verlauf jeweils die persönliche Note gaben, die
dadurch für uns historische Persönlichkeiten geworden
sind, die im übrigen, in ihrer persönlichen Haltung mehr
oder weniger vollkommen und sittlich waren. Diese
Eigenart der mittelalterlichen Verhältnisse war niemals
unbekannt, aber erst seitdem in der mittelalterlichen Geschichte
die Verfassungsgeschichte als Mittelpunkt richtig
erkannt und demgemäß behandelt wird, ist sie auch
voll gewürdigt worden. Die ersten Auflagen der Kirchengeschichte
Funks fallen weit vor diese Zeit, infolgedessen
entsprach die Gesamtlage des Werkes dieser
Forderung nicht. Bihlmeyer hat aber als konservativer
Bearbeiter die alte Stoffanordnung nicht gründlich geändert
, sondern die einzelnen Abschnitte für sich neu bearbeitet
. Es werden also wohl die verfassungsrechtlichen
Fragen behandelt, aber nicht mit der geschichtlichen
Entwicklung in entsprechende Verbindung gebracht, sondern
diese wird nach der alten Weise mit Berichtigung
allfälliger Fehler im Einzelnen erzählt, wobei sittliche
Maßstäbe angelegt werden, die geschichtlich unerheblich
oder wenigstens nebensächlich sind. Das Papsttum hat
auch mit Friedrich Barbarossa Kämpfe geführt, dessen
sittlicher Lebenswandel einwandfrei war, und ob Heinrich
IV. und Friedrich IL ein sittlich lockeres Leben
führten, hat mit dem Kampf zwischen Papsttum und
Kaisertum nur insofern zu tun, als dadurch dem Papsttum
Kampfmittel in die Hand gegeben wurden, die unmittelbar
gegen den Kaiser gerichtet waren und gegen
das Reich und seine staatlichen und verfassungsmäßigen
Grundlagen gebraucht wurden. Daß Heinrich IV.
„schlechterzogen und sittlich ungebunden" war (S. 104),
wobei die kritische Forschung doch mancherlei Einschränkungen
erheben muß, wäre in diesem Zusammen- |
hang besser nicht gesagt worden. S. 105 heißt es von
der Absetzung Gregors VII. durch Heinrich IV.: „Der
Schritt des deutschen Königs, eine ,Tat unverantwortlichen
Leichtsinns' (Schmeidler) hatte zur Folge, daß nun
an Stelle der Verhandlungen der unerbittliche Kampf
trat." B. hätte diese höchst unglückliche Wendung
Schmeidlers nicht übernehmen dürfen, denn mit solchen
Sätzen kann man der Tragik der Persönlichkeit Heinrichs
IV. und mit ihm des Reiches überhaupt nicht gerecht
werden. Es ist nicht entscheidend, ob dieser
Schritt Heinrichs IV. taktisch richtig war oder nicht, der
„unerbittliche Kampf" war durch das im dictatus papae
niedergelegte Programm des Papstes und durch die
Politik der deutschen Fürsten gegeben, wenn der König
nicht gegenüber allem, was die Kirche und die Fürsten
in den Jahren seiner Jugend zu Ungunsten der alten
Reichsrechte erstrebt und erreicht hatten, bedingungslos
kapitulieren wollte. Papst und Fürsten waren im Angriff
, der König in der Verteidigung und Gregor VII. i
war nicht der Mann der halben Ziele und Mittel. Das i
tritt bei B. nicht voll in Erscheinung, die Ausführungen j
über den Kampf Gregors VII. und Heinrichs IV. können j
nicht befriedigen, sie sind zu sehr auf die Darstellung j

der äußeren Ereignisse eingestellt. An anderer Stelle
heißt es (S. 187): „Uneingedenk der von jenem Papst
(Innozenz III.) empfangenen Wohltaten faßte dieser
hochbegabte und vielseitig gebildete, aber religiös indifferente
und sittlich lockere Fürst (Friedrich II.) die
Aufgabe seiner Regierung nicht in dem echt christlichen
und mittelalterlichen Sinne der Harmonie der beiden
höchsten Gewalten, sondern des aufgeklärten Despotismus
und Cäsaropapismus und beschwor dadurch unabsehbare
Konflikte mit dem Papsttum herauf. Entgegen
den lebenswichtigen Interessen der Kurie behielt er
neben der deutschen Kaiserkrone die Herrschaft über
Unteritalien und Sizilien bei . . ." Daß Friedrich II.
„religiös indifferent und sittlich locker" war, hat seine
Politik nicht bestimmt und mit dem sachlichen Problem
kaum etwas zu tun. Der Hinweis auf die Dankespflicht
ist ebenso unangebracht, wie wenn man nach der Dankespflicht
des Papsttums gegenüber dem Kaisertum
(Otto L, Heinrich III.) das Vorgehen etwa Gregors VII.
beurteilen wollte. Was soll man sich unter der „Harmonie
der beiden höchsten Gewalten" vorstellen? Innozenz
III. und IV. sahen sie in der Herrschaft der
Päpste über das Kaisertum. „Aufgeklärter Despotismus
und Cäsaropapismus" sind Kategorien, die für Friedrich
II. nicht recht passen und nicht in der Art wie hier
der „echt christlichen Harmonie" gegenübergestellt werden
dürfen. Lebenswichtige Interessen der Kurie oder
gar der Kirche und der christlichen Religion standen
bei der Verbindung von Sizilien mit Deutschland an
und für sich nicht auf dem Spiele, sondern diese wurde
im Sinne der damaligen kirchlichen Staatspolitik von
der Kurie verdammt. Man könnte aber anderseits ebenso
die Verbindung Siziliens mit Deutschland als „lebenswichtiges
Interesse" im Sinne der staufischen Weltpolitik
bezeichnen. Man sieht, daß B.s Darstellung des
weltgeschichtlichen Kampfes zwischen Kaiser und Papst
Maßstäbe über politische Ziele, die ebenso gut umgekehrt
werden können, und Werturteile über Personen
bringt, als ob ein ewiges Recht auf der einen und das
Unrecht auf der anderen Seite gestanden sei. Die Weltgeschichte
ist fast immer vom Sieger geschrieben worden
, aber das kann kein wissenschaftlicher Maßstab sein.
So sehr die „Freiheit der Kirche" eine für diese heilsame
Errungenschaft war, die. Weltherrschaft des Papsttums
war das weder für die Kirche noch für das Christentum.

Trotz dieser Einwendungen möchte ich aber betonen
, daß B.s Buch durchaus nicht einseitig eingestellt
ist, die Mängel sind nur die Folge einer veralteten, auf
das Personengeschichtliche gerichteten Darstellung und
des Fehlens der durchlaufenden, organischen Verbindung
von Verfassungs-, politischer und Kirchengeschichte, die
i B. aus der alten Darstellung Funks übernommen hat.
Daraus ergibt sich aber die Frage, ob es möglich ist,
ein Handbuch, ohne vollständige Umarbeitung, nur mit
Verbesserungen und Nachträgen im Einzelnen 44 Jahre
nach dem ersten Erscheinen neu aufzulegen und doch
ein modernes Werk herzustellen. Wir konnten dagegen
gewisse Zweifel nicht unterdrücken. Die Gesamtauffassung
und -fragestellung hat sich in den l'/2 Menschenaltern
so stark geändert, daß eine vollständige Umarbeitung
und Neuordnung des Stoffes erforderlich gewesen
wäre. Das dürften unsere beispielsweise herausgegriffenen
Einwendungen gezeigt haben. Abgesehen
davon aber wollen wir gerne die Vorzüge des Werkes,
seine Verläßlichkeit, die Fülle des gebotenen Stoffes, die'
leichtverständliche Darstellung in jeder Hinsicht voll
anerkennen. Die achte Auflage des Werkes wird sich
ebensoviele Freunde erwerben wie die früheren.
Gießen. Theodor Mayer.

Wagner, Albert Malte: Lessing. Das Erwachen des deutschen Geistes.
Leipzig: Horen-Verlag 1931. (277 S.) gr. 8°. Lw. 9—.

Wagner schreibt mit warmer Liebe zu Lessing,
will Lessings Weltanschauung aus seiner ganzen Existenz
heraus erfassen und ist vor allem für den Überzeit-